24 Tabula Rasa

NEW YORK CITY

Bis auf das blaue Flackern des Fernsehschirms war es dunkel in der Hotelsuite. Es war ein Rätsel: Fernseher an, Lautstärke ausgestellt, und das alles im Zimmer eines Blinden. Früher einmal hätte sich de l’Orme einen solchen Widerspruch selber arrangiert, um seine Besucher zu verunsichern. Doch heute Abend hatte er keine Besucher. Das Zimmermädchen hatte vergessen, ihre Seifenopern auszuschalten.

De l’Orme blätterte in seinem Meister Eckhart. Der Mystiker aus dem 13. Jahrhundert hatte so merkwürdige Dinge in so schlichten Worten gepredigt. Wahrhaft mutig, inmitten der finsteren Zeiten des tiefsten Mittelalters.

Gott wartet schon auf uns. Seine Liebe ist wie die Angel des Fischers. Der Fischer kann den Fisch nicht erhalten, wenn der sich nicht an der Angel fängt. Wenn er nach der Angel schnappt, dann ist der Fischer seiner sicher. Wohin sich der Fisch dann wendet, hin oder her, der Fischer hat ihn doch. So spreche ich auch von der Liebe. Wer an dieser Angel haftet, der ist so gefangen, dass der Fuß und die Hand, der Mund, die Augen, das Herz und alles was am Menschen ist, Gott zu Eigen sein muss. Und je mehr gefangen, desto mehr befreit.

Kein Wunder, dass der große Theologe von der Inquisition verurteilt und exkommuniziert worden war. Gott als Dominatrix! Noch verwirrender die Vorstellung des von Gott befreiten Menschen. Des von Gott befreiten Gottes. Und was dann? So weit war er gekommen, als das Telefon klingelte.

»Kennen Sie meine Stimme?«, fragte der Mann am anderen Ende.

»Bud Parsifal?«, sagte de l’Orme.

»Volltreffer.« Der Astronaut hörte sich schwerfällig an. Betrunken. »Hören Sie mal: Ist Santos bei Ihnen?«

»Nein.«

»Wo ist er dann?«, wollte Parsifal wissen. »Oder wissen Sie das nicht?«

»In Korea«, erwiderte de l’Orme, wusste wirklich nicht genau, in welchem der beiden Koreas. »Dort ist noch eine Gruppe Hadal aufgetaucht. Er studiert einige der Kunstgegenstände, die sie mitgebracht haben.«

»Korea. Hat er Ihnen das gesagt?«

»Ich habe ihn dorthin geschickt, Bud.«

»Woher wissen Sie denn, dass er auch tatsächlich dort ist, wo Sie ihn hingeschickt haben?«, fragte Parsifal.

De l’Orme nahm die Brille ab. Er rieb sich die Augen und öffnete sie. Sie waren weiß, ohne Netzhaut und ohne Pupille. Der Widerschein des Feuerwerks überzog sein Gesicht mit bunten Streifen. Er wartete.

»Ich habe schon versucht, die anderen anzurufen«, sagte Parsifal. »Die ganze Nacht über. Nichts.«

»Es ist Silvester«, sagte de l’Orme. »Wahrscheinlich feiern sie bei ihren Familien.«

»Also hat es Ihnen niemand gesagt.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Sieht so aus. Worum es sich auch handeln mag.«

»Lesen Sie keine Zeitung? Hören Sie keine Nachrichten?«

»Ich habe mir ein wenig Einsamkeit verordnet. Aber bitte, klären Sie mich auf.«

Buds Stimme klang schleppend. »Wir sind in großer Gefahr. Sie sollten nicht einmal ans Telefon gehen.«

Er redete ziemlich verworren weiter. Vor zwei Wochen war im Landkartenraum des Metropolitan Museum ein großer Brand ausgebrochen. Davor war in einer alten Felsenbibliothek in Yungang in China eine Bombe hochgegangen. Innerhalb des letzten Monats waren Archive und archäologische Ausgrabungsstätten in zehn oder noch mehr Ländern verwüstet oder völlig zerstört worden.

»Das vom Met habe ich natürlich mitgekriegt. Aber die anderen Geschichten ... Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen?«

»Jemand versucht, unsere Informationen auszulöschen. Sieht aus, als ob jemand reinen Tisch macht und alle Spuren vernichtet.«

»Welche Spuren? Wozu soll es denn gut sein, Museen abzufackeln und Bibliotheken in die Luft zu jagen?«

»Er macht den Laden dicht.«

»Er? Von wem reden Sie überhaupt? Ich verstehe gar nichts.«

Parsifal berichtete von mehreren anderen Begebenheiten, darunter auch einem Brand in der Bibliothek von Cambridge, in der die uralten Genizah-Fragmente aus Kairo aufbewahrt wurden.

»Zerstört«, sagte er. »Bis auf die Grundmauern abgebrannt. Ausgelöscht. In Fetzen gesprengt.«

»Das sind alles Orte, die wir im Lauf des vergangenen Jahres aufgesucht haben.«

»Jemand ist schon seit geraumer Zeit dabei, unsere Quellen zu vernichten«, sagte Parsifal. »Bis vor kurzem handelte es sich lediglich um kleinere Bereinigungen: hier ein verändertes Manuskript, dort ein verschwundenes Fotonegativ. Inzwischen geht die Vernichtung umfassender und spektakulärer vor sich. Als versuchte jemand, reinen Tisch zu machen, bevor er aus der Stadt verschwindet.«

»Das sind doch Zufälle«, meinte de l’Orme. »Bücherverbrenner. Anti-Intellektuelle. Heutzutage gibt es eben zu viele Verrückte.«

»Das ist kein Zufall! Er hat uns benutzt. Wie Bluthunde hat er uns auf seine eigene Fährte gehetzt. Und jetzt geht er den ganzen Weg zurück.«

»Er?«

»Er löscht sein eigenes Bild aus.«

»Dann vernichtet er sich selbst.« Doch noch während er die Worte aussprach, spürte de l’Orme, dass ferne Alarmsirenen in seinem Kopf klingelten.

»Er vernichtet unsere Erinnerung«, sagte Parsifal. »Wir sind das letzte Zeugnis. Nach uns heißt es wieder Tabula rasa.«

De l’Orme versuchte, die Informationen auf die Reihe zu kriegen. »Sie wollen also damit sagen, dass wir den Feind auf seine eigene Spur geführt haben. Dass es eine gezielt durchgeführte Aktion gewesen sei. Dass Satan einer von uns ist. Dass er - oder sie? - inzwischen alle unsere Beweise vernichtet. Ich frage noch einmal: weshalb? Was gewinnt er dadurch, dass er sämtliche bisherigen Bilder von sich vernichtet? Wenn Ihre Theorie einer durch Wiedergeburt fortgesetzten Reihe von Hadal-Königen der Wahrheit entspricht, wird er beim nächsten Mal ohnehin mit einem unbekannten Gesicht auftauchen.«

»Aber mit den immer gleichen unterbewussten Verhaltensmustern«, erwiderte Parsifal. »Erinnern Sie sich? Wir haben darüber geredet. Man kann nicht grundsätzlich gegen den eigenen Charakter angehen. Er ist wie ein Fingerabdruck. Er kann versuchen, sein Benehmen zu ändern, doch die Beweise aus fünftausend Jahren menschlicher Kultur haben ihn identifizierbar gemacht. Wenn nicht für uns, dann doch der nächsten BeowulfGruppe oder der übernächsten. Gibt es jedoch keine Beweismittel mehr, kann er auch nicht mehr aufgespürt werden. Er wird zu einem Unsichtbaren. Wer oder was zum Teufel er auch immer sein mag.«

»Lassen Sie ihn toben«, sagte de l’Orme und meinte dabei Parsifals Zorn ebenso wie das hadalische Objekt ihrer Treibjagd.

»Wenn er sein Zerstörungswerk beendet hat, kennen wir ihn noch besser als er sich selbst kennt. Wir sind dicht dran.«

Er lauschte Parsifals schwerem Atem am anderen Ende der Leitung und hörte, wie Wind gegen eine Telefonzelle peitschte. De l’Orme stellte sich eine gottverlassene Tankstelle irgendwo an einer Autobahn vor.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte er.

»Auf wessen Seite stehen Sie? Deswegen habe ich eigentlich angerufen. Auf wessen Seite stehen Sie?«

»Auf wessen Seite ich stehe?«

»Genau darum geht’s doch bei dieser ganzen Sache, oder nicht?«

Parsifals Stimme verlor sich. Wind brüllte fauchend auf. Parsifal hörte sich an wie ein Mensch, der sowohl seinen Verstand als auch seinen Körper an den Sturm verliert.

»Ihre Frau fragt sich doch bestimmt schon, wo Sie sich herumtreiben. Gehen Sie nach Hause.«

»Damit sie endet wie Mustafah? Wir haben uns getrennt. Sie wird mich nie wieder sehen.«

»Was ist mit Mustafah?«

»Man hat ihn letzten Freitag in Istanbul gefunden. Das, was von ihm übrig geblieben ist, trieb in der Zisterne der Basilika von Yerebatan Sarayi. Wir sind Teil des Beweismaterials, begreifen Sie das nicht?«

Mit konzentrierter Präzision legte de l’Orme seine Brille auf den Tisch. Ihm war schwindlig. Er wollte Parsifal dazu bringen, seine grausame Nachricht zu widerrufen.

»Es gibt nur einen, der dafür verantwortlich sein kann«, sagte Parsifal. »Sie wissen es ebenso gut wie ich.«

Ein paar Sekunden herrschte Stille. Keiner der Männer sagte etwas. Aus dem Telefonhörer drangen die wütenden Böen des Schneesturms.

Dann ergriff Parsifal wieder das Wort: »Ich weiß, wie nah Sie beide sich standen.«

»Ja«, sagte de l’Orme.

Es war die schlimmste Täuschung, die er sich vorstellen konnte. Er hatte sie von Anfang an nur benutzt. Sie waren für ihn nicht mehr als Lasttiere gewesen, die man zu Tode reiten konnte.

»Sie müssen weg von ihm«, sagte Parsifal.

Doch de l’Ormes Gedanken drehten sich jetzt nur um den Verräter. Er versuchte, sich die abertausend Täuschungen vorzustellen, mit denen er sie hinters Licht geführt hatte - mit der Unverfrorenheit eines Königs!

Beinahe bewundernd flüsterte er seinen Namen.

»Lauter«, sagte Parsifal. »Ich kann Sie bei dem Wind kaum verstehen!«

»Thomas«, sagte de l’Orme noch einmal. Was für ein grandioser Mut! Welch skrupellose Hinterlist! Aber hinter was war er her gewesen? Wer war er in Wirklichkeit? Und weshalb hatte er eine derartige Treibjagd auf sich selbst inszeniert?

»Dann haben Sie also davon gehört«, rief Parsifal. Der Schneesturm wurde schlimmer.

»Ist er gefunden worden?«

»Ja.«

De l’Orme war verdutzt. »Aber ... das heißt doch, dass wir gewonnen haben.«

»Sind Sie jetzt total verrückt geworden?«, rief Parsifal. »Thomas ist tot!«

De l’Orme versuchte, die Worte zu verdauen, aber jetzt begriff er überhaupt nichts mehr. »Tot?«

»Ja«, schrie der Astronaut. »Endlich haben Sie verstanden! Erst Mustafah. Jetzt Thomas. Satan hat sie getötet!«

De l’Orme runzelte die Stirn. »Sie sagten doch, sie hätten ihn gefunden. Satan.«

»Nein! Thomas!«, korrigierte Parsifal. »Sie haben Thomas gefunden. Heute Nachmittag. Er ist von einem der Felsen des Berges Sinai gestürzt - oder heruntergestoßen worden. Satan hat es getan. Er bringt uns alle um, einen nach dem anderen.«

Jetzt endlich verstand de l’Orme, was Parsifal ihm da erzählte. Nicht Thomas war der große Betrüger. Es war jemand, der ihm noch näher stand.

»Sind Sie noch dran?«, brüllte Parsifal.

De l’Orme räusperte sich. »Was ist mit Thomas’ Leiche geschehen?«

»Das, was die Wüstenmönche sonst auch mit ihren Toten tun. Sie wollen ihn so rasch wie möglich unter die Erde bringen. Er wird am Mittwoch begraben, bei ihnen im Kloster.« Er machte eine kleine Pause und sagte dann: »Sie wollen doch nicht etwa hin, oder?«

So viel zu planen. Eigentlich so wenig. De l’Orme wusste genau, was als Nächstes zu tun war.

»Es ist Ihr Leben«, sagte Parsifal. De l’Orme legte den Hörer auf.

SAVANNAH, GEORGIA

Sie erwachte aus alten Träumen. Das Zimmer war von Mondlicht durchflutet. Die Leinenvorhänge bewegten sich im Luftzug. Grillen zirpten auf dem Rasen vor der Veranda. Das Fenster war offen.

»Vera«, sagte ein Mann aus einer dunklen Ecke.

Sie zuckte zusammen, und die Brille fiel ihr aus den Fingern. Ein Einbrecher, dachte sie. Aber ein Einbrecher, der ihren Namen kannte? Wer mochte ihn wohl auf so traurige Weise aussprechen?

»Wer ist da?«, fragte sie unsicher.

»Ich habe dir beim Schlafen zugesehen«, sagte er. »In diesem Licht sehe ich ein kleines Mädchen, das von seinem Vater sehr geliebt wurde.«

Er würde sie umbringen. Vera hörte die Entschlossenheit hinter seinen zärtlichen Worten.

Eine Gestalt erhob sich im Mondschatten. Von seinem Gewicht befreit, knackte und knisterte das Geflecht des Korbstuhls, und der Mann kam auf sie zu.

»Wer sind Sie?«, fragte sie noch einmal.

»Hat dich Parsifal nicht angerufen?«

»Doch.«

»Hat er es dir nicht gesagt?«

»Was denn?«

»Wer ich bin.«

Ein frostiger Schauer senkte sich auf sie. Parsifal hatte sie tatsächlich angerufen, doch sie hatte seine Litanei rasch abgewürgt. Der Himmel stürzt herab, mehr hatte sie seinem betrunkenen Nonsens nicht entnehmen können. Sie hatte einfach aufgelegt. Er hatte mehrere Male zurückgerufen, hatte vehement auf sie eingeredet und sich dabei wie ein Weltuntergangsprophet angehört. Ich bleibe, wo ich bin, hatte sie ihm gesagt.

Also hatte er doch Recht gehabt.

Ihr Rollstuhl stand direkt neben dem Nachttisch. Sie versuchte nicht, ihrem Besucher seine mörderischen Gedanken auszureden. Sie wollte auch seinen Sadismus nicht auf die Probe stellen. Vielleicht würde er rasch und geschäftsmäßig vorgehen. Also würde sie letztendlich doch im Bett sterben, schoss es ihr durch den Kopf.

»Hat er dir Lieder vorgesungen?«, fragte der Mann.

Vera versuchte, ihren Mut und ihre Gedanken zu sortieren. Ihr Herz raste. Sie wollte ruhig sein.

»Parsifal?«

»Nein. Ich meine deinen Vater.«

Seine Frage irritierte sie. »Lieder?«

»Vor dem Einschlafen.«

Es war eine Einladung. Sie nahm sie an. Vera schloss die Augen und erinnerte sich. Sie versuchte, die Grillen zu ignorieren, ihr dröhnendes Herz zu übertönen und in die Vergangenheit hinabzusteigen, die sie schon immer verloren geglaubt hatte. Aber dort war er, ja, es war Abend, und er sang ihr etwas vor. Sie legte den Kopf ins Kissen. Seine Worte bildeten eine Decke, und seine Stimme versprach Schutz. Papa, dachte sie.

Die Dielen knarrten. Ohne dieses Geräusch wäre Vera bei ihrem Lied geblieben, doch das knarrende Holz holte sie wieder in ihr Schlafzimmer zurück. Sie stieg aus der Tiefe ihres Herzens wieder hinauf, zurück ins Land der Grillen und des Mondlichts.

Sie öffnete die Augen, und da stand er und streckte die Hände nach ihr aus wie ein Geliebter. Dann tauchte sein Gesicht in den Lichtschein, und sie sagte: »Du?«

IM KATHARINENKLOSTER JABAL MUSA, BERG SINAI

De l’Orme stellte die Becher ab und legte den Brotlaib an seinen Platz. Der Abt hatte ihm eine Meditationszelle überlassen, eine von der Sorte, wie sie seit Tausenden von Jahren von den Menschen benutzt wurden, die hierher kamen und spirituelle Weisheit suchten.

Santos würde entzückt sein. Er liebte Einfachheit und Beschränkung. Der Weinkrug war aus Lehm. Die Bretter der Tischplatte waren vor mindestens fünf Jahrhunderten gezimmert und zusammengenagelt worden. Kein Vorhang vor dem Fenster. Nicht einmal eine Scheibe. Nur Staub und Insekten leisteten einem beim Beten Gesellschaft.

De l’Orme atmete in der Abendluft tief durch, sog den Weihrauchduft wie Sauerstoff ein. Sogar jetzt, im Winter, konnte er einen nicht weit entfernten Mandelbaum riechen.

Die Abendandacht begann. Im Hof stand ein Käfig mit einem Wellensittich, und sein Gesang passte wie die Noten eines kleinen Engels zum Kyrie der Mönche. In solchen Momenten verlangte es de l’Orme, wieder die Kutte zu nehmen oder zumindest sein Leben als Einsiedler in einer Zelle zu fristen. Aber dafür war es zu spät.

Santos kam in einem Jeep und scheuchte damit eine Herde Ziegen auf, wie man am Glockengebimmel und Hufgetrappel hören konnte. De l’Orme lauschte. Santos war allein.

Es dauerte nicht lange, bis er den Kopf in de l’Ormes Kammer streckte.

»Hier steckst du«, sagte er.

»Komm rein«, begrüßte ihn de l’Orme. »Ich wusste nicht, ob du es bis zum Einbruch der Nacht schaffst.«

»Hier bin ich«, sagte Santos. »Und du hast mit dem Abendessen gewartet. Ich habe nichts mitgebracht.«

»Setz dich, du musst müde sein.«

»Es war eine lange Reise«, gab Santos zu. »Ist Thomas schon beerdigt worden?«

»Heute. Auf dem Friedhof.«

»Ich habe ihn nie besonders gemocht. Aber du hast ihn geliebt. Geht es dir gut?«

»Das Leben geht weiter«, antwortete de l’Orme. Er erhob sich und umarmte Santos. Der Geruch des jungen Mannes tat ihm gut. Es schien, als habe Santos die Sonne in seinen Poren eingefangen.

»Er hat ein erfülltes Leben gelebt«, drückte Santos sein Mitgefühl aus.

»Wer weiß, was er noch alles entdeckt hätte?«, sagte de l’Orme.

Er klopfte auf den breiten Rücken und löste sich aus der Umarmung. Dann setzte er sich vorsichtig auf den dreibeinigen Hocker. Santos zog sich den Stuhl heran, den de l’Orme für ihn auf die andere Seite des Tisches gestellt hatte.

»Und jetzt? Was fangen wir jetzt an?«

»Zuerst essen wir«, sagte de l’Orme. »Über die Zukunft lässt sich besser bei einer guten Mahlzeit reden.«

»Oliven. Ziegenkäse. Eine Orange. Brot. Ein Krug Wem«, sagte Santos. »Alles Zutaten für das letzte Abendmahl.«

»Wenn du dich über Jesus lustig machen willst, ist das deine Sache. Aber mach dich nicht über das Essen lustig«, meinte de l’Orme. »Du musst nichts essen, wenn du keinen Hunger hast.«

»War nur ein kleiner Scherz. Ich bin halb verhungert.«

»Dann schenke den Wein ein.«

»Ich frage mich, was Thomas hierher geführt hat«, sagte Santos nach den ersten Schlucken. »Sagtest du nicht, er habe die Suche abgebrochen?«

»Ich glaube, dass ihn Satan hierher lockte«, antwortete de l’Orme.

»Was? Wie denn?«

»Vielleicht mit seiner Anwesenheit. Oder durch eine Nachricht. Ich weiß es nicht.«

»Dann hat Satan jedenfalls eine theatralische Ader«, bemerkte Santos zwischen zwei Bissen. »Ausgerechnet der Berg Gottes.«

Die Mönche in der Kirche strengten sich sehr an. Ihr tiefer Gesang ließ den Stein vibrieren. Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Herr, erbarme dich.

»Weinst du um Thomas?«, fragte Santos plötzlich.

De l’Orme machte keine Anstalten, die Tränen abzuwischen, die ihm über die Wangen rollten. »Nein«, sagte er. »Ich weine um dich.«

»Um mich? Weshalb denn das? Ich bin doch hier, bei dir.«

»Richtig.«

Santos senkte die Stimme. »Bist du nicht glücklich mit mir?«

»Das ist nicht der Grund.«

»Was dann? Sag’s mir.«

»Du stirbst«, sagte de l’Orme.

»Da irrst du dich«, lachte Santos erleichtert. »Mir geht es hervorragend.«

»Nein«, erwiderte de l’Orme. »Ich habe deinen Wein vergiftet.«

»Was für ein makabrer Scherz.«

»Es ist kein Scherz.«

In diesem Augenblick schlug Santos seine Hände vor den Bauch. Er richtete sich auf, und der Hocker fiel krachend auf die Steinfliesen.

»Was hast du getan?«, keuchte er.

Es war nicht besonders dramatisch. Er fiel nicht um, sondern kniete sich auf den Boden und legte sich hin. »Ist das wahr?«, fragte er.

»Ja«, nickte de l’Orme. »Schon seit Borobudur hatte ich dich in Verdacht. Du hast die Reliefs ausgelöscht.«

»Nein.« Der Protest war kaum mehr als ein Hauch.

»Nein? Wer denn sonst? Ich? Thomas? Sonst war niemand dort. Außer dir.«

Santos stöhnte auf. De l’Orme stellte sich vor, wie sein geliebtes weißes Hemd ganz schmutzig wurde.

»Du bist es, der es darauf angelegt hat, das Bild, das sich die Menschen von ihm gemacht haben, zu demontieren«, fuhr er fort.

Von unten drang ein heiseres Krächzen herauf.

»Ich kann mir nicht erklären, wie du es geschafft hast, mich vor so langer Zeit auszuwählen«, sagte de l’Orme. »Ich weiß nur, dass ich dein Schlüssel zu Thomas gewesen bin. Ich habe dich zu ihm geführt.«

Santos sammelte seine Kraft für einen letzten Atemzug. »... ganz falsch«, flüsterte er.

»Wie lautet dein Name?«, fragte de l’Orme.

Aber es war zu spät.

Eigentlich hatte er die ganze Nacht Totenwache halten wollen. Als es zu kalt wurde, hüllte er sich in eine Decke und legte sich neben den Leichnam auf den Boden. Am Morgen würde er den Mönchen seine Mordtat erklären. Was danach geschah, war ihm gleichgültig. Und so schlief er ein, Schulter an Schulter mit seinem Opfer.

Der Schnitt quer über seinen Unterleib weckte ihn.

Der Schmerz war so plötzlich und so extrem, dass ihm sofort klar wurde, dass es nur ein Albtraum sein konnte, also kein Grund zur Panik. Dann spürte er, wie das Tier in seinen Brustkorb eindrang, und er begriff, dass es kein Tier, sondern eine Hand war. Mit chirurgischem Geschick wanderte sie nach oben. Sein Kopf bog sich zurück, sein Körper konnte nicht zurückweichen und sich gegen diesen grausigen Übergriff wehren.

»Santos!«, keuchte er.

»Nein. Nicht er«, murmelte eine Stimme, die er kannte.

De 1’Ormes Augen starrten in die Nacht.

So machten sie es in der Mongolei. Der Nomade öffnet den Bauch des Schafes mit einem raschen Schnitt, schiebt die Hand hinein und arbeitet sich durch die glitschigen Organe bis zum pochenden Herzen vor. Wenn man es richtig anstellt, ist es ein fast schmerzloser Tod. Allerdings musste es eine kräftige Hand sein, die das Organ zum Stillstand quetschte. Diese Hand war kräftig.

De l’Orme kämpfte nicht dagegen an. Auch das war ein Vorteil dieser Methode. Wenn die Hand erst einmal drin war, gab es nichts mehr zu kämpfen. Der Körper arbeitete bereitwillig mit. Kein Instinkt konnte einen Menschen auf solch einen Augenblick vorbereiten. Zu fühlen, wie sich fremde Finger um das eigene Herz schließen ... Sein Schlächter hielt den Kelch des Lebens in der Hand.

Er ließ den Kopf nach links rollen, und da lag Santos neben ihm, kalt wie Wachs. Sein Entsetzen war komplett. Er hatte sich versündigt. Jahr um Jahr hatte er die Güte des jungen Mannes empfangen, hatte sie auf die Probe gestellt und nie so recht daran geglaubt, dass sie echt sein könne. Und er hatte sich getäuscht.

De l’Orme stemmte sich ein wenig hoch, und der Arm schob sich weiter in ihn. Wie eine Puppe streckte er sich der Hand in seinem Brustkorb entgegen. Sanft legte er die eigenen Hände über sein Herz. Sein wehrloses Herz. Herr, erbarme dich.

Die Faust schloss sich.

In seinem letzten Augenblick kam ein Lied zu ihm. Es drang in sein Ohr, eigentlich unmöglich, aber so wunderschön. Die reine Stimme eines noch kindlichen Mönches? Das Radio eines Touristen, ein Stück aus einer Oper. Er erkannte, dass es der Wellensittich im Hof sein musste. Er stellte sich vor, wie der Mond über den Bergen aufging. Natürlich wachten die Tiere dabei auf. Natürlich brachten sie diesem herrlichen Schein ihr Morgenlied dar. Nicht einmal in seiner Phantasie hatte de l’Orme ein solches Licht gekannt.

Durch die Wunde eintreten. Durch die Venen zurückweichen.

Seine Aufgabe war erledigt. Wie jeder wahrhaft Suchende hatte er am Ende sich selbst gefunden. Jetzt brauchte ihn sein Volk, das sich voller Verzweiflung versammelte. Es war seine Bestimmung, seine Leute in ein neues Land zu führen, denn er war ihr Erlöser.

Er eilte hinab. Weg von ihrem Himmel, der wie ein umgestülptes Meer war, weg von ihren Sternen und Planeten, die einem die Seele durchbohrten, weg von ihren insektenhaften Städten, ihren Schwindel erregenden Ebenen und Bergen. Weg von den Milliarden, die sich die Welt nach ihrem eigenen Abbild geschaffen hatten. Ihre Handschrift hätte ein Instrument der Schönheit sein können, doch sie war ein Werkzeug des Todes.

Die Erde schloss sich über ihm. Mit jeder Windung, jeder Abzweigung blieb sie weiter hinter ihm zurück. Lange verschüttete Sinne erwachten zum Leben.

Einsamkeit! Stille! Die Dunkelheit war das Licht. Er konnte die Gelenke und das Herzblut des Planeten hören. Die Bewegung der Steine. Hier war die Zeit wie Wasser. Die unscheinbarsten Geschöpfe waren seine Väter und Mütter. Die Fossilien waren seine Kinder. Er streifte mit seinen Handflächen die Tunnelwände, krallte sich stolpernd in das Fleisch Gottes. In diesen herrlichen Stein. Diese Festung ihres Daseins.

Der Geruch des Gesteins führte ihn immer tiefer hinab. Er vergaß den Namen des Indischen Ozeans, als er unter ihm entlangeilte. Er spürte, wie Gold weich und schlangenhaft aus den Wänden rann, doch er erkannte es nicht mehr als Gold. Die Zeit verging, doch er hörte auf, sie zu zählen. Tage? Wochen? Er verlor seine Erinnerung ebenso rasch, wie er sie gewann.

Er sah sich selbst in einem Stück schwarzen Obsidian und wusste nicht, dass er es war. Sein Abbild hob sich als dunkle Silhouette inmitten der Schwärze ab. Er trat näher und legte die Hände auf das vulkanische Glas, starrte in sein sich spiegelndes Gesicht. Etwas um die Augen wirkte vertraut.

Er eilte weiter, müde, aber doch erfrischt. Die Tiefe gab seiner Kraft neue Nahrung. Hin und wieder brachten ihm Tiere ihr Fleisch zum Geschenk dar. Er fand Hinweise auf seine Flüchtlinge, und lange vor ihnen, auf hadalische Nomaden und fromme Pilger. Ihre an den Wänden hinterlassenen Markierungen erfüllten ihn mit Kummer über die verlorene Herrlichkeit seines Reiches.

Sein Volk war in Ungnade gefallen, jäh und steil und schon so lange, dass es sich kaum mehr seines Abstiegs bewusst war. Sogar jetzt noch, sogar in seiner Nichtigkeit und seinem Elend, wurde es im Namen Gottes verfolgt, und das durfte nicht sein. Denn sie waren Gottes Kinder und hatten lange genug in der Wildnis gelebt, um sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Sie hatten für ihren Stolz oder ihre Unabhängigkeit oder womit auch immer sie die Ordnung der Natur beleidigt haben mochten, genug gebüßt, und jetzt, nach einem Exil von unzähligen Jahren, waren sie ihrer Unschuld zurückgegeben worden.

Es war falsch, dass Gott sie immer weiter bestrafte, bis zur Ausrottung jagen ließ. Aber Gott ließ niemals Gnade walten. Die Hoffnung, Gott würde sie von seinem Zorn erlösen und wieder in seine Liebe aufnehmen, war von jeher vergeblich gewesen. Nein, die Erlösung musste von anderer Seite kommen.



Die Toten haben keine Rechte.

THOMAS JEFFERSON

am Ende seines Lebens


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