14 Das Loch

UNTER DEM COLON-RÜCKEN

»4. August«, notierte Ali. »Camp 39, 5012 Faden, 26 Grad Celsius. Erreichten heute das erste Proviantlager.« Sie sah auf, um sich die Szenerie einzuprägen. Wie ließ sich so etwas in Worte fassen?

Mozart flutete aus HiFi-Lautsprechern durch das riesige Gewölbe. Überall strahlten aus Kabeln gespeiste Lampen. Auf dem Boden lagen Weinflaschen und Hühnerknochen herum. Ein Haufen dreckiger, vom langen Marschieren abgehärteter Wissenschaftler schlängelte sich in einer Polonaise über den schräg abfallenden Boden. Zum Klang der Zauberflöte.

»Ausgelassenheit!«, trug sie säuberlich in ihr Heft ein.

Bis zu jenem Nachmittag hatte der unausgesprochene Zweifel über ihnen geschwebt, ob sie das Proviantlager überhaupt an der verabredeten Stelle finden würden. Aber genau wie von Shoat versprochen, hatten die Kapseln auf sie gewartet. Die Mannschaften an der Oberfläche hatten ein Loch durch den Meeresboden gebohrt und die Fracht am Zielort abgeladen, genau an der richtigen Stelle des Tunnel system s. Ein paar Meter weiter rechts oder links, höher oder tiefer, schon hätte alles unerreichbar in solidem Felsgestein festgesteckt. Damit wäre ihre Rückkehr in die Zivilisation, vorsichtig ausgedrückt, fraglich geworden, denn inzwischen gingen ihnen allmählich die Nahrungsmittel aus. Jetzt jedoch waren sie für die nächsten acht Wochen mit ausreichend Proviant, Ausrüstung und Kleidung versorgt, dazu der Wem und die Lautsprecher für die Opernmusik, und nicht zuletzt eine holografische Rede von C. C. Cooper selbst. »Sie sind der Beginn einer neuen Geschichtsschreibung!«, hatte ihnen sein kleiner Lasergeist zugeprostet.

Zum ersten Mal seit sieben Wochen konnte Ali auf ihrer Tageskarte exakte Koordinaten verzeichnen: »107 Grad 20 Minuten West, 3 Grad 50 Minuten Nord.« Auf einer herkömmlichen Landkarte befanden sie sich irgendwo südlich von Mexiko in blauem, insellosem Wasser. Eine Karte des Meeresbodens lokalisierte ihren Standort unter einem Gebilde namens Colon-Bergrücken unweit des westlichen Randes der Nazca-Platte.

Ali nahm ein Schlückchen von dem Chardonnay, den Helios ihnen herabgeschickt hatte. Als die Königin der Nacht ihre herzzerreißende Arie sang, schloss sie die Augen. Irgendjemand dort oben hatte einen gewissen Sinn für Humor. Mozarts magische Unterwelt? Zumindest hatten sie ihnen nicht Fausts Verdammnis geschickt.

Die drei Zwölf-Meter-Zylinder lagen wie umgekippte Raketen im Bohrschutt. Aus ihren aufgerissenen Luken quoll Kabelsalat heraus. Aus dem Meer anderthalb Kilometer über ihnen tropfte Salzwasser herab. Mehrere Kabelstränge hingen aus dem gut einen Meter breiten Loch in der Decke, einer zur Kommunikation, zwei, um sie mit Strom von der Oberfläche zu versorgen, ein anderer, um komprimierte Video-Mail von zu Hause herunterzuladen. Einer der Träger saß neben dem zweiten Elektrokabel, wo er einen kleinen Berg Batterien für ihre Stirn- und Taschenlampen, für die Laborausrüstung und die Laptops auflud. Walkers Quartiermeister und mehrere Helfer machten Überstunden, sortierten die neue Ware, stapelten Kisten und riefen einander Nummern zu. Helios hatte ihnen außerdem Post zugestellt, 650 Gramm pro Person.

Als wäre es ein Teil ihres Armutsgelübdes, hatte sich Ali daran gewöhnt, nur wenig Neuigkeiten von zu Hause zu erhalten. Trotzdem war sie enttäuscht über den kurzen Brief, den January ihr geschickt hatte, wie immer handschriftlich auf Papier mit Senatsbriefkopf. Er war vor zwei Wochen datiert, anscheinend hatte sich zudem jemand am Umschlag zu schaffen gemacht. January hatte von ihrem geheimen Aufbruch von Esperanza gehört und machte sich die größten Sorgen darüber, dass Ali sich entschlossen hatte, tiefer hinunterzusteigen: »Bitte, komm wieder zurück. Wenn andere umkehren, schließ dich ihnen an.«

Was den Fortschritt der Beowulf-Leute anging, gab es nur eine versteckte Erwähnung. »Das verdammte Projekt geht langsam voran.« Das war ihr Code, um Satan zu benennen. »Bislang jedoch keine Lokalisierung, keine Einzelheiten, vielleicht ein neues Terrain.« Aus welchem Grund auch immer hatte January einige Aufnahmen vom Turiner Grabtuch beigefügt, dazu ein paar dreidimensionale Computerbilder des Kopfes. Ali wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

Sie sah sich im Lager um. Die meisten hatten ihre Pakete schon aufgerissen und zeigten jetzt Fotos von ihren Familien herum. Es schien, als habe jeder etwas bekommen, sogar die Träger und die Soldaten. Nur Ike nicht. Er beschäftigte sich mit einer neuen, rotweiß wie eine Zuckerstange gestreiften Rolle Kletterseil, maß die Schlingen ab und schmolz die abgeschnittenen Enden zusammen.

Es gab nicht nur gute Nachrichten. Am anderen Ende versuchte ein Mann Shoat dazu zu überreden, ihn durch das Bohrloch zu evakuieren. Ali hörte seine Stimme durch die Musik: »Aber meine Frau«, sagte er immer wieder. »Brustkrebs!«

Shoat ging nicht darauf ein. »Dann hätten Sie nicht mitkommen dürfen«, sagte er. »Wir bringen nur bei Lebensgefahr jemanden nach oben.«

»Es geht hier um Leben und Tod!«

»Nicht um Ihr Leben«, konterte Shoat und begab sich wieder zur Verbindung mit der Oberfläche, wo er seine Berichte durchgab, Anweisungen erhielt und die gesammelten Daten der Expedition in ein Übertragungskabel speiste. Man hatte ihnen bei jedem Proviantlager Video- und Telefonverbindung versprochen, um nach Hause telefonieren zu können, aber bis jetzt war sie Shoat und Walker vorbehalten geblieben. Shoat erfuhr, dass an der Oberfläche ein Orkan wütete und die Bohrinsel in Gefahr sei.

»Wenn die Zeit reicht, kommen Sie alle noch dran«, sagte er.

Und wenn nicht, ist das heute Abend den meisten egal, dachte Ali. Die Wissenschaftler waren mittlerweile in Hochstimmung: Sie tanzten, fielen einander in die Arme, betranken sich mit kalifornischem Wein und heulten einen unsichtbaren Mond an. Sie sahen auch anders aus. Verdreckt. Zottelig. Ali hatte sie noch nie so gesehen. Ihr wurde klar, dass sie sich seit Esperanza nur noch in einem Bruchteil der gewohnten Helligkeit aufgehalten hatten. Heute Abend jedoch sah sie ihre Weggefährten im hellen Licht der Scheinwerfer, sah sie mit all ihren Flecken und Warzen. Sie waren wundersam mit Haaren und Bärten zugewachsen, mit Dreck und Öl beschmiert und bleich wie Maden. In den Bärten der Männer klebte altes Essen, die Haare der Frauen waren verfilzt.

Ausgerechnet in diesem Moment meuchelte jemand die Zauberflöte und schob eine Countrymusik-CD rein. Das Tempo verlangsamte sich. Liebespaare erhoben sich, legten die Arme umeinander und schaukelten auf dem Steinboden dahin.

Alis aufmerksamer Blick blieb an der gegenüberliegenden Seite der Höhle auf Ike haften. Mit seiner abgesägten Schrotflinte erinnerte er Ali an einen Bauernjungen auf der Kaninchenjagd. Nur die Gletscherbrille wollte nicht so recht ins Bild passen. Manchmal glaubte sie, diese dunklen Gläser schützten einfach nur seine Gedanken, einen letzten Rest Privatsphäre. Mit einem Mal war sie unerklärlicherweise sehr froh, dass er da war.

In dem Augenblick, in dem ihr Blick ihn berührte, schwenkte Ikes Kopf in die andere Richtung, und erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie beobachtet hatte. Molly und einige von Alis anderen Freundinnen hatten sie schon damit aufgezogen, dass er ein Auge auf sie geworfen habe, was sie jedoch als geschmacklose Unterstellung abgetan hatte. Das jedoch war ein erster Beweis dafür. Entweder trug der Wein dazu bei, oder die Tiefe hatte ihr ein wenig von ihrer Zurückhaltung genommen. Jedenfalls erhob sie sich und nahm sich die Freiheit heraus, direkt auf ihn zuzugehen und ihn zu fragen:

»Möchten Sie tanzen?«

Er tat so, als bemerkte er sie erst jetzt. »Das ist wahrscheinlich keine so gute Idee«, sagte er. »Ich bin ziemlich aus der Übung.«

Bin ich vielleicht in Übung? fragte sie sich, sagte aber nur:

»Kommen Sie schon.«

Er versuchte es auf andere Art. »Sie verstehen mich nicht«, sagte er. »Aber da singt Margo Timmins.«

»Na und?«

»Margo Timmins«, wiederholte er. »Ihre Stimme ... Ich weiß auch nicht, wie sie das macht. Sie schafft es, dass man alles um sich herum vergisst.«

Ali entspannte sich. Er wies sie nicht zurück. Er flirtete mit ihr.

»Tatsächlich«, sagte sie und blieb direkt vor ihm stehen. Im schummrigen Licht der Tunnel verschmolzen Ikes Narben und Tätowierungen beinahe mit dem Gestein. Hier, bei voller Beleuchtung, sahen sie so grässlich aus wie immer.

»Vielleicht verstehen Sie es doch«, sagte er nachdenklich. Ike stand auf und nahm sein Gewehr. Der Gurt bestand aus rosafarbenem Kletterseil. Er hängte es sich mit der Mündung nach unten über die Schulter und nahm ihre Hand. Er hatte eine große Hand.

Sie gingen zu der provisorischen Tanzfläche. Ali spürte, dass ihnen viele Augen folgten. Molly und einige der anderen Frauen grinsten wie Blödsinnige zu ihr herüber. Merkwürdigerweise war Ike immer ein fester Bestandteil der Top-Ten-Männer gewesen. Er hatte eine gewisse Aura, die sogar durch seine geschundene Oberfläche drang. Die Leute machten sich Gedanken über ihn. Und jetzt kam Ali daher und schnappte ihn sich einfach.

Ike gab sich eher nüchtern, aber als er sie ansah und die Arme öffnete, spürte sie ein kurzes Zaudern, wie bei einem jungen Mann. Er war sich der Nähe ihrer Körper ebenso bewusst wie sie. Sein Lächeln verflog zwar nicht, doch sie hörte, wie er sich räusperte, als sie sich berührten.

»Ich wollte schon lange mit Ihnen reden«, sagte sie. »Sie schulden mir noch eine Erklärung.«

»Das Tier«, nickte er. Seine Enttäuschung war nicht zu überhören. Er hörte auf zu tanzen.

»Nein«, sagte sie und setzte ihn wieder in Bewegung. »Sie haben mir einmal eine Orange geschenkt. Erinnern Sie sich noch daran? Damals, auf dem Weg nach unten, von Galäpagos aus.«

Er wich einen Schritt zurück und musterte sie nachdenklich.

»Das waren Sie?«

Das gefiel ihr. »Wussten Sie das nicht?«

»Nein. Aber Sie sahen aus wie jemand, der dringend gerettet werden muss.« Er lächelte verschmitzt.

»Wenn Sie es so ausdrücken möchten.«

»Ich bin früher mal geklettert«, sagte er. »Der schlimmste Albtraum war immer der, gerettet werden zu müssen. Man tut sein Bestes, um die Kontrolle zu behalten. Aber manchmal gleiten einem die Dinge aus der Hand. Dann fällt man.«

»Mir ging es damals wirklich ziemlich mies.«

»Ach was.« Jetzt spielte er das Ganze wieder herunter.

»Wieso denn eine Orange?«

Auf diese Frage wollte sie keine bestimmte Antwort haben. Trotzdem musste der Kreis geschlossen werden. Etwas an dieser Orange verlangte nach einer Erklärung, die der Handlung innewohnende Poesie, seine Intuition, dass sie genau in diesem Augenblick eine solche Ablenkung gebraucht hatte. Das Geschenk war ein Rätsel geworden. Wieso eine Orange? Vielleicht hatte er in seinem früheren Leben Flaubert gelesen. Oder Durrell. Oder Anaïs Nin. Wunschdenken. Sie reimte sich etwas über ihn zusammen.

»Sie war einfach da«, sagte er, und sie hatte den Eindruck, als fände er Vergnügen an ihrer Verwirrung. »Ihr Name stand groß und breit darauf.« Er betrachtete ihren lang gestreckten Körper. Es war ein flüchtiger Blick. Sie bemerkte ihn trotzdem und erinnerte sich daran, wie er ihr Sommerkleid betrachtet hatte. Dann sagte er:

»Sie leben gefährlich.«

»Sie nicht?«

»Mit einem Unterschied. Ich bin keine geweihte . Sie wissen schon ... keine professionelle ...« Er verstummte.

»Jungfrau?«, beendete sie seinen Satz unerschrocken. Seine Rückenmuskeln zogen sich unter ihren Fingern zusammen.

»Ich wollte eigentlich >Einsiedlerin< sagen.«

Ali wurde sich ihres Irrtums bewusst und errötete. Ike zog sie näher an sich, bis ihre Körper aneinanderstießen. Es war ein wohliger Zusammenprall, der sich in ihren Brüsten fortpflanzte und ihr einen kleinen Seufzer entlockte. Sie tanzten eine Zeit lang ohne ein weiteres Wort. Ali versuchte, sich einfach von der Musik mitreißen zu lassen. Doch irgendwann würden die Lieder aufhören, und dann würde die Sicherheit des hell erleuchteten Tanzparketts verschwinden.

»Jetzt müssen Sie mir etwas erklären«, sagte Ike. »Was hat Sie hierher verschlagen?«

Da sie nicht wusste, wie viel er wirklich wissen wollte, hielt sie ihre Antwort in Grenzen. Doch er fragte immer genauer nach, und schon bald war sie dabei, über Ursprache und Muttersprache zu dozieren. »Wasser«, sagte sie, »heißt im Altgermanischen wassar, im Lateinischen aqua. Taucht man tiefer in die Tochtersprache ein, werden allmählich die Wurzeln sichtbar. Im Indogermanischen und in der Sprache der Indianer und Eskimo heißt Wasser hakw, im Ur-Kaukasischen kwa. Der älteste Ausdruck ist haku, ein vom Computer simuliertes Protowort. Natürlich verwendet es heute niemand mehr. Es ist ein vergrabenes Wort, eine Wurzel.«

»Haku«, sagte Ike, wenn auch ein wenig anders, als sie es ausgesprochen hatte, mit eher glottaler Betonung auf der ersten Silbe.

»Ich kenne das Wort.«

Ali blickte ihn an.

»Von ihnen?«, fragte sie. Von seinen hadalischen Sklavenmeistern. Genau wie sie es sich erhofft hatte, konnte er mit einem Glossar aufwarten.

Er zuckte wie unter einem Phantomschmerz zusammen, und sie hielt den Atem an. Die Erinnerung, wenn es denn eine solche war, verflog wieder. Sie beschloss, nicht weiter daran zu rühren und kehrte zu ihrer eigenen Geschichte zurück, erklärte ihm, wie sie dazu gekommen war, Glyphen und Textreste der Hadal zu sammeln und zu entziffern. »Alles, was uns fehlt, ist ein Übersetzer, der ihre Schrift lesen kann«, sagte sie. »Das wäre möglicherweise der Schlüssel zu ihrer gesamten Zivilisation.«

Ikes Miene hatte sich verdüstert. »Bitten Sie mich darum, Sie zu unterrichten?«

Sie versuchte nicht allzu aufgeregt zu klingen: »Könnten Sie das denn, Ike?«

Er schnalzte verneinend mit der Zunge. Ali erkannte das Geräusch sofort aus ihrer Zeit bei den Buschleuten in Südafrika wieder. Die Klick-Sprache? Sie wurde immer erregter.

»Nicht einmal die Hadal können Hadal lesen«, sagte er.

»Dann haben Sie nur noch keinen Hadal lesen sehen«, korrigierte sie ihn. »Sie haben nur Analphabeten kennen gelernt.«

»Sie können die Hadal-Schrift nicht lesen«, wiederholte Ike. »Sie haben es verlernt. Ich habe nur einen getroffen, der Englisch und Japanisch lesen konnte. Aber die alte Hadal-Schrift war ihm fremd. Was ihn sehr traurig machte.«

»Warten Sie«, unterbrach ihn Ali verblüfft. Bislang hatte noch niemand so etwas in Erwägung gezogen. »Wollen Sie damit sagen, dass die Hadal moderne Sprachen lesen können? Sprechen sie unsere Sprachen auch?«

»Dieser eine konnte es«, sagte Ike. »Er war ein Genie. Die anderen sind ... viel weniger als er.«

»Dann kannten Sie Ihn also? Den Ersten unter ihnen?« Ihr Puls raste. Von wem konnte er sonst reden, wenn nicht vom historischen Satan?

Ike hielt inne. Er sah sie mit dieser undurchdringlichen Gletscherbrille an oder durch sie hindurch. Sie konnte keinen einzigen seiner Gedanken lesen. »Ike?«

»Was wollen Sie?«, fragte er.

Sie wollte ihm vertrauen. Sie berührten sich noch immer, was kein schlechter Anfang zu sein schien. »Meine Aufgabe besteht darin, eine positive Identifikation dieses Mannes zu liefern - wer auch immer er sein mag. Mehr Informationen zu sammeln. Hinweise auf sein Verhalten.

Ihm vielleicht sogar persönlich zu begegnen.«

»Das ist unmöglich.« Ikes Stimme hörte sich wie tot an. »Sobald Sie ihm so nahe kommen, sind Sie nicht mehr Sie selbst.«

Sie überlegte. Er wusste etwas, wollte aber nicht damit herausrücken.

»Sie haben ihn nur erfunden«, behauptete sie. Es war kindisch, ihr letzter Versuch.

Die Tänzer drehten sich rings um sie und Ike.

Ike streckte einen Arm aus. Drehte ihn im Licht gerade so weit, dass Ali erkannte, dass die in die Haut geritzten, erhobenen Narben eigentlich Glyphen waren. Dem bloßen Auge erschienen die Narben unter anderen auf der Hautoberfläche angebrachten Markierungen verborgen. Sie berührte sie mit den Fingerspitzen, so wie es ein Hadal in völliger Dunkelheit tun würde.

»Was bedeutet das?«, fragte sie.

»Das ist ein Besitzzeichen«, sagte er. »Der Name, den sie mir gaben. Abgesehen davon weiß ich nichts darüber. Sie imitieren einfach die Zeichnungen, die ihnen ihre Vorfahren vor langer Zeit hinterließen.«

Alis Finger tasteten über die vernarbten Stellen. »Was soll das sein, ein Besitzzeichen?«

Er zuckte die Achseln und betrachtete den Arm, als gehörte er jemand anderem. »Wahrscheinlich gibt es eine bessere Bezeichnung dafür, aber ich nenne sie so. Jeder Clan hatte seine eigenen, auch jedes einzelne Mitglied.« Er blickte sie an.

»Ich kann Ihnen noch andere zeigen«, sagte er.

Ali versuchte ganz ruhig zu bleiben. Innerlich war sie kurz davor, laut loszuschreien. Die ganze Zeit über hatte sie Ike schon als Schlüssel zu ihrer Aufgabe angesehen.

Warum hatte dem Mann sonst niemand diese Fragen gestellt? Vielleicht hatte es ja jemand getan, nur war Ike damals noch nicht so weit gewesen, sie zu beantworten.

»Warten Sie«, sagte sie und zog ihn an den Rand der Tanzfläche.

»Ich hole Papier.« Sie konnte sich kaum zurückhalten. Es war der Anfang ihres Glossars. Wenn sie den Code der Hadal knackte, öffnete sie dem menschlichen Verstand eine völlig neue Sprache.

»Papier?«, fragte er.

»Um die Zeichen abzumalen.«

»Aber ich habe sie doch bei mir.«

»Sie haben was?«

Er fing an, seine Tasche aufzuknöpfen, hielt dann jedoch inne.

»Sind Sie sicher?«

Sie starrte ungeduldig auf die Tasche, die ihr nicht schnell genug aufklappte. »Ja.«

Er zog ein kleines Päckchen Lederflicken heraus und reichte es ihr. Jeder Einzelne war zu einem sauberen Rechteck geschnitten und gegerbt worden, damit er weich blieb. Zuerst hielt Ali die Lederstückchen für eine Art Notizbuch, auf das Ike seine Zeichen abgeschrieben hatte. Tatsächlich waren auf einer Seite verblasste Farbspuren zu sehen. Dann erst sah sie, das die Farben von einer Tätowierung stammten, dass die striemenartigen Wülste Narbengewebe waren, und sie sah auch einige kleine, farblose Haare. Das war tatsächlich Haut. Menschenhaut. Hadalhaut. Was auch immer.

Ike bekam nichts von ihren Bedenken mit, so sehr war er damit beschäftigt, die Streifen auf ihren ruhigen, leicht hohlen Handflächen zusammenzustellen. Dabei gab er ununterbrochen einen Kommentar zu den einzelnen Streifen ab, konzentriert, beinahe dozierend. »Zwei Wochen alt«, sagte er bei einem. »Beachten Sie die verschlungenen Schlangen. Dieses Motiv ist mir noch nirgendwo begegnet. Man spürt förmlich, wie sie sich umeinanderwinden, sehr gekonnt gemacht, wer auch immer sie gestochen hat.«

Er legte zwei Stücke nebeneinander. »Diese beiden habe ich von einer sehr frischen Beute. An den miteinander verbundenen Kreisen kann man ablesen, dass diese Reisenden von weit her gekommen sind, aus der gleichen Region. Ich habe dieses Muster schon bei Afghanen und Pakistanis gesehen. Bei Gefangenen, damals.«

Ali starrte ihn ebenso entgeistert an wie die Hautstücke. Sie war noch nie besonders zimperlich gewesen, doch seine Sammlung verschlug ihr die Sprache.

»Hier haben wir eine Käferform, erkennen Sie’s? Sehen Sie, wie sich die Flügel gerade öffnen? Das ist wieder ein anderer Clan. Ich kenne solche mit geschlossenen und weit ausgebreiteten Flügeln. Bei dem hier bin ich ratlos, das sind alles nur Punkte. Vielleicht Fußspuren? Ein Zeitmaß? Jahreszeiten? Keine Ahnung. Das hier ist eindeutig ein Höhlenfischmuster. Sehen Sie die Laternenstiele vor seinem Maul baumeln? Solche Fische habe ich schon gesehen. Man kann sie in flachen Tümpeln ganz leicht mit der Hand fangen. Man wartet, bis das Licht aufblinkt, dann packt man sie bei den Augenstielen. Als zöge man Karotten oder Zwiebeln aus dem Boden.«

Er legte seinen letzten Hautflecken hin. »Hier kann man ein wenig von den geometrischen Mustern erkennen, die sie an den Rand ihrer Mandatas malen. Sie sind hier unten sehr verbreitet, eine Methode, um den äußeren Kreis rituell miteinzubeziehen und die Information des Mandala zusammenzuhalten. Sie haben das bestimmt schon an den Felsen gesehen. Ich hoffe, dass sich jemand in unserer Truppe einen Reim darauf machen kann. Schließlich haben wir hier jede Menge Gelehrter auf einem Haufen.«

»Ike«, unterbrach ihn Ali. »Was meinen Sie mit frischer Beute?«

Ike hob die beiden Stücke, auf die er sich bezogen hatte, vom Boden auf. »Einen Tag alt, höchstens zwei.«

»Ich meine: Was wurde getötet? Ein Hadal?«

»Einer der Träger. Seinen Namen kenne ich nicht.«

»Uns fehlt ein Träger?«

»Eher zehn oder zwölf«, erwiderte Ike. »Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Immer zwei oder drei auf einmal, alle in der vergangenen Woche. Sie haben die Nase voll von Walkers Herumkommandiererei.«

»Weiß das jemand?« Bisher hatte ihr diesbezüglich niemand etwas erzählt. Die Neuigkeit eröffnete eine völlig andere Ebene der Expedition, eine, die dunkler und gewalttätiger war, als sie - und mit ihr die anderen Wissenschaftler - je vermutet hätten.

»Klar, damit gehen uns ganz schön viele Kräfte verloren.« Es hörte sich an, als redete Ike von Tieren in einer Maultierkarawane.

»Walker lässt inzwischen mehr Soldaten am hinteren Ende patrouillieren als vorne. Außerdem schickt er sie immer wieder zurück, um einen der Ausreißer zu fangen und ein Exempel zu statuieren.«

»Um sie zu bestrafen? Weil sie ihre Arbeit aufkündigen?«

Ike sah sie verwundert an. »Wenn man eine Menschenkarawane zu beaufsichtigen hat«, sagte er, »genügt ein Quertreiber, um alles über den Haufen zu schmeißen. Die ganze Gruppe kann einem auseinander brechen. Walker weiß das. Was er jedoch nicht in seinen Schädel hineinkriegt, ist die Erkenntnis, dass man sie, wenn sie weglaufen, nicht mehr zurückhalten kann. Wären es meine Leute«, setzte er offen hinzu, »würde es anders laufen.«

Also entsprachen die Geschichten über seine Sklaventreiberei der Wahrheit. Sie hätte gerne mehr gehört, hielt sich jedoch zurück. Seine dunklen Seiten konnte sie auch später noch erforschen.

»Also haben sie einen der Ausreißer geschnappt«, vermutete Ali.

»Walkers Jungs?« Ike hielt inne. »Das sind Söldner, die gehorchen der Herdenmentalität. Sie teilen sich nicht auf, suchen auch nicht lange. Sie haben Angst. Sie lassen sich eine Stunde zurückfallen, bleiben immer hübsch beisammen und schließen dann wieder auf.«

Was, so weit Ali es beurteilen konnte, nur noch eine andere Möglichkeit offen ließ. Der Gedanke machte sie traurig.

»Dann haben Sie es also getan«, sagte sie leise.

Er zog verständnislos die Stirn kraus.

»Die Träger getötet«, sagte sie.

»Warum hätte ich das tun sollen?«

»Um ein Exempel zu statuieren. Für Colonel Walker.«

»Walker!«, schnaubte Ike verächtlich. »Der soll selbst auf die Jagd gehen!«

Sie war erleichtert. »Aber was ist dann passiert?«

Ein Mord war geschehen. Kein Unfall. Ike hatte es »Beute« genannt. Also musste eine Untersuchung durchgeführt werden, dachte Ali. Sie waren nicht hier herabgestiegen, um ihre menschlichen Grundsätze preiszugeben.

»Dieser arme Bursche ist nicht weit gekommen«, sagte Ike. »Die anderen wahrscheinlich auch nicht. Als ich ihn fand, war er schon fast völlig ausgeweidet.«

Ausgeweidet? Machte man das nicht mit Schlachttieren? Wieder war Ike ganz sachlich.

»Wer würde so etwas tun?«, fragte sie. Vielleicht war einer der geflohenen Träger durchgedreht.

»Zweifellos waren es diese beiden«, sagte Ike. Er hielt die passenden Lederflicken mit den verbundenen Narbenkreisen in die Höhe. »Ich habe sie verfolgt, während sie ihn verfolgten. Sie schnappten ihn sich gemeinsam, einer von vorne, einer von oben.«

»Und dann kamen Sie dazu?«

»Richtig.«

»Und Sie konnten sie nicht zu uns zurückbringen?«

Die Absurdität des Gedankens schockierte Ike. »Hadal?«, sagte er.

Jetzt fing sie an zu verstehen. Es handelte sich nicht um Mord. Er hatte es ihr ja gleich gesagt. Frische Beute. Es fiel Ali wie Schuppen von den Augen. »Hadal?«, sagte sie. »Das waren Hadal? Hier?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Versuchen Sie nicht, mich zu beschwichtigen. Ich will es wissen.«

»Wir befinden uns hier in ihrem Haus. Was erwarten Sie denn?«

»Aber Shoat sagte doch, dieser ganze Tunnel sei unbewohnt.«

»Ich habe mich um das Problem gekümmert. Jetzt sind wir wieder sicher.«

Ein Teil von ihr war beruhigt, ein anderer in heller Aufregung. Lebende Hadal! Aber jetzt tote.

»Was haben Sie getan?«, fragte sie, unsicher, ob sie wirklich Einzelheiten wissen wollte.

Er zog es vor, sie zu verschonen. »Ich habe sie so zurückgelassen, dass sie anderen Herumtreibern als Warnung dienen. Wir haben bestimmt keine Probleme mehr.«

»Und woher stammen diese anderen?« Sie zeigte auf seine Ledersammlung.

»Von anderen Orten. Aus anderen Zeiten.«

Sie war erschüttert. »Tragen Sie die Dinger ständig mit sich herum?«

»Stellen Sie es sich so vor, als hätte ich ihnen den Führerschein oder die Hundemarke abgenommen. Mir hilft es, Zusammenhänge zu erkennen. Bewegungen, Wanderungen. Ich lerne viel davon, fast so, als redeten sie mit mir.« Er hob einen Flicken an die Nase und roch daran. Dann leckte er darüber. »Dieser hier kommt aus sehr großer Tiefe. Man erkennt es an der Sauberkeit.«

»Wovon reden Sie da?«

Er streckte ihr den Fetzen hin, und sie drehte den Kopf weg.

»Haben Sie schon jemals Fleisch von frei laufenden Rindern gegessen? Es schmeckt anders als das von mit Getreide und Hormonen gemästeten Kühen. Hier unten gilt das Gleiche. Dieser Bursche hat in seinem ganzen Leben kein Sonnenlicht genossen. Er ist nie an der Oberfläche gewesen. Hat nie ein Tier gegessen, das oben war. Wahrscheinlich hat er sich zum ersten Mal von seinem Stamm entfernt.«

»Und Sie haben ihn getötet.«

Er blickte sie an.

»Großer Gott! Was haben die Hadal Ihnen denn getan?«

Er zuckte die Achseln. Mit nur einem Herzschlag hatte er sich tausend Meilen von ihr entfernt.

»Ich werde ihn finden«, sagte er.

»Wen?«

Er zeigte auf die wulstigen Narben auf seinem Arm.

»Ihn«, sagte er tonlos.

»Haben Sie nicht gesagt, das sei Ihr eigener Name?«

»Stimmt. Sein Name war mein Name. Ich hatte keinen anderen Namen, nur seinen.«

»Wessen?«

»Desjenigen, dem ich gehörte.«

Vier Tage später fanden sie Shoats Fluss.

Ike war vorausgeschickt worden. Er erwartete die Expedition in einem großen, von tosendem Donner erfüllten Gewölbe. In der Mitte des Bodens gähnte ein großer vertikaler Schacht, der an seinem oberen Ende wie ein Vulkanschlot geformt war. Die Öffnung hatte den Durchmesser eines Häuserblocks, und aus diesem Loch brüllte es zu ihnen herauf.

Die Wände schwitzten. Rinnsale sprudelten in den klaffenden Rachen. Die Reisenden versuchten, bis zum Boden hinunterzusehen. Ihre Lichtstrahlen beleuchteten einen tiefen pulsierenden Schlund. Ike ließ eine Stirnlampe an einem Seil hinab. Zweihundert Meter tiefer schaukelte und hüpfte das winzige Licht auf einem unsichtbaren Strom.

»Verdammt noch mal«, sagte Shoat. »Der Fluss!«

»Haben Sie ihn denn nicht erwartet?«, fragte jemand.

Shoat grinste. »Niemand wusste es mit letzter Gewissheit. Unsere kartografische Abteilung sprach von einer Chance eins zu drei. Andererseits war es die einzige logische Erklärung für ihre Daten.«

»Wir sind die ganze Zeit auf eine bloße Vermutung zumarschiert?«

Shoat zuckte unbekümmert mit der Schulter. »Ziehen Sie die Schuhe aus«, sagte er, »keine Rucksäcke mehr. Wir sind genug gelaufen. Ab hier wird geschippert.«

»Ich finde, wir sollten zuerst die Lage peilen«, sagte ein Hydrologe. »Wir haben keine Ahnung, was uns dort unten erwartet. Wie sieht das Flussbett aus? Wie schnell fließt das Gewässer? Wohin führt es?«

»Das alles können Sie bestens von den Booten aus untersuchen«, meinte Shoat.

Die Träger kamen erst drei Stunden später an. Nach dem Abmarsch vom ersten Proviantlager waren sie doppelt so schwer beladen - für doppelten Lohn. Sie setzten ihre Lasten an einer trockenen Stelle ab und verschwanden in einer angrenzenden Höhle, wo Walker eine warme Mahlzeit für sie hatte zubereiten lassen.

Ali ging zu Ike hinüber, der am Schacht saß und Seile hinunterließ. Als sie sich nach dem Tanz getrennt hatten, war sie betrunken gewesen, übersättigt von Neugier und letztendlich Abscheu. Jetzt war sie nüchtern wie ein Kieselstein. Die Abscheu hatte sich verflüchtigt.

»Was wird jetzt aus denen?«, fragte sie in Richtung der Träger.

»Endstation«, antwortete er. »Shoat braucht sie nicht mehr.«

»Er schickt sie nach Hause? Erst lässt der Colonel die Ausreißer jagen, und jetzt lässt man sie einfach gehen?«

»Shoat hat hier das Sagen.«

»Schaffen sie es denn allein zurück?«

Es war nicht gerade der richtige Ort, jemanden zu entlassen - zwei Monate von jeder Zivilisation entfernt. Aber Ike sah keinen Sinn darin, ihre Entrüstung schon wieder anzustacheln. »Klar doch«, sagte er. »Warum nicht?«

»Ich dachte, man hätte ihnen Arbeit für ein ganzes Jahr garantiert.« Ali ließ nicht locker.

Er vertäute mit einer Hand eine Seilrolle und machte sich an den Knoten zu schaffen. »Wir haben selbst mehr als genug Probleme«, beschied er sie. »Probleme, die langsam zu einem Pulverfass werden. Sobald sie begreifen, dass wir sie einfach stehen lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie auf uns losgehen.«

»Auf uns?«, stieß sie erschrocken aus. »Aus Rache?«

»Es ist grundlegender als das«, meinte Ike. »Sie werden unsere Waffen haben wollen, unsere Lebensmittel, alles. Vom militärischen Gesichtspunkt aus, also aus Walkers Perspektive, wäre es am besten, sie kaltzumachen und damit Schluss.«

»Das würde er niemals wagen«, sagte Ali. »Er ist nicht gerade das, was ich mir unter einem Christen vorstelle, aber er ist immerhin bibelfest.«

»Haben Sie es nicht mitbekommen?«, fragte Ike. »Man hat die Träger von uns getrennt. Diese Nebenhöhle ist ein Käfig ohne Tür. Von dort können sie nur einzeln herauskommen, was sie zu einem leichten Ziel macht, falls sie es satt sind, zusammengepfercht dort drin hocken zu bleiben.«

Ali wollte diese andere, grausame Ebene der Expedition nicht wahrhaben. »Er wird sie doch nicht erschießen, oder?«

»Nicht nötig. Wenn die Träger sich dazu entschließen, den Kopf aus der Höhle zu strecken, sind wir wahrscheinlich schon längst auf dem Fluss unterwegs.«

Wieder ließ der Quartiermeister die Gepäckstücke öffnen und den Nachschub aus dem Proviantlager ausbreiten. Er verteilte speziell angefertigte Rettungsanzüge an die Soldaten und die Forscher. Sie bestanden aus reißfestem Stoff, der sowohl wasserdicht als auch atmungsaktiv war. Ein drahtiger Söldner erklärte ihnen, worauf es ankam. »In diesen Dingern können Sie laufen, klettern und schlafen. Falls Sie über Bord fallen, ziehen Sie an diesem Notring, dann bläst sich der Anzug von selbst auf. Er bewahrt Ihre Körperwärme und hält Sie trocken.«

Die Anzüge bestanden aus gummiartigen Shorts, einer ärmellosen Weste und einem hautengen Überzug. Das Gewebe war der Dunkelheit entsprechend aschgrau, mit kobaltblauen Streifen. Als die Wissenschaftler ihre neuen elastischen Kleider anprobierten, wirkten sie plötzlich auf beunruhigende Weise wie zweibeinige Tiger. Hier und da ertönten anerkennende Pfiffe, von Männern wie von Frauen.

Sie versuchten, eine Videokamera hinabzulassen, um die unteren Bereiche des Schachtes zu untersuchen. Als das nicht funktionierte, schickte Walker seinen Stuntman los: Ike.

Vor nicht allzu langer Zeit musste ein Pfad aus der Höhle zum Fluss hinuntergeführt haben. Ike hatte bereits einige Stunden damit verbracht, nach ihm Ausschau zu halten. Doch der Tunnel, der dafür am ehesten in Frage kam, war anscheinend von einem Beben mit schweren Felsbrocken blockiert worden. Hinweise auf die Anwesenheit von Hadal gab es überall - aus Stein gemeißelte Säulen, verwaschene Wandmalereien, Steindämme, um Rinnsale umzuleiten - aber keinerlei Anzeichen dafür, dass das Loch jemals als direkter Zugang zum Fluss benutzt worden war.

Ike ließ sich in den steinernen Schlund hinab, die Füße gegen den geäderten Stein gestemmt. Am Ende des ersten Seils, einhundert Meter tief, schaute er durch das rieselnde Wasser nach oben. Sie beobachteten ihn, warteten ab.

Der Schacht weitete sich zu einem großen Hohlraum. Ohne jede Vorwarnung tappten Ikes Füße plötzlich in finsterer Leere. Er hielt an und schaukelte in einer riesigen, stillen Kugel aus Nacht.

Dann richtete er den Lichtstrahl schräg nach unten und fand den Fluss ungefähr zwanzig Meter tiefer. Ike war in ein lang gezogenes, natürliches Kuppeldach hinabgestiegen. Eigenartigerweise hörte das donnernde Geräusch in dem Moment auf, in dem er den Schacht hinter sich ließ. Hier unten war es praktisch still. Er hörte, wie das Wasser unter ihm dahinglitt, sonst nichts.

Ohne das herabhängende Seil wäre das Einstiegsloch wahrscheinlich zwischen all den anderen unregelmäßigen Steingebilden rings um ihn verschwunden. Wände und Decke waren mit erstarrtem Magma überzogen. Er ließ sich weiter hinab und arretierte das Seil erst in Reichweite des Wassers. Es rann weich wie schwarze Seide unter ihm dahin. Versuchsweise streckte Ike die Finger hinein. Nichts schnellte heraus, um ihn zu beißen. Die Strömung war stark und gleichmäßig. Das Wasser fühlte sich kühl und schwer an. Es roch nach nichts. Falls es ursprünglich aus dem Pazifik stammte, dann war es jetzt jedenfalls kein Salzwasser mehr. Auf der langen Reise ins Erdinnere war das Salz herausgefiltert worden. Es schmeckte herrlich.

»Sieht alles sehr gut aus«, funkte Ike nach oben.

Immer mehr Leute ließen sich wie Spinnen an Seidenfäden herab. Einigen musste man erst gut zureden. Zivilisten, dachte Ike.

Die Boote vom Stapel zu lassen, war eine nicht ganz einfache Angelegenheit. Sie seilten die Flöße mit bereits aufgeblasenen Schwimmern, eingesetztem Boden und Sitzen ab. Ihr erster Versuch wurde vom Fluss weggerissen. Zum Glück saß noch niemand drin. Auf Ikes Anweisung hin wurde das nächste Floß nur bis kurz über das Wasser abgeseilt, während sich ein Team von Bootsführern gleichzeitig an fünf anderen Seilen herabließ. Wie sie so in der Luft hingen, sahen sie aus wie Marionetten. Dann wurde bis drei gezählt, und die Mannschaft pendelte sich genau in dem Augenblick in das Floß, als dieses das Wasser berührte. Zwei Männer ließen ihre Seile nicht rechtzeitig los und schaukelten dann über dem Fluss hin und her, während das Floß davonschoss. Die anderen griffen sich die Paddel und fingen sofort an, mit aller Kraft auf eine riesige, glatt geschliffene Rampe nicht weit flussabwärts zuzuhalten.

Die Operation ließ sich etwas besser an, nachdem ein kleiner Motor herabgelassen und an einem der Katamaranflöße befestigt worden war. Das motorisierte Boot versetzte sie in die Lage, auf dem Fluss zu kreisen und Passagiere sowie Ausrüstungssäcke einzusammeln, die an einem Dutzend verschiedener Stellen hingen. Einige der Wissenschaftler erwiesen sich als recht kompetent im Umgang mit Seilen und Booten. Mehrere von Walkers martialischen Haudegen sahen ziemlich seekrank aus. Ike gefiel das. Das glich die Mannschaften ein wenig aus.

Es dauerte insgesamt fünf Stunden, bis sie ihre tonnenschwere Ausrüstung durch den Schacht auf die Boote geladen hatten. Die kleine Flotte trieb ein Stück flussabwärts, zu der steinernen Rampe. Dort schlugen sie das Nachtlager auf. Abgesehen von dem einen Floß hatte die Expedition keine Verluste zu beklagen. Ringsum herrschte Zufriedenheit über die reibungslose Zusammenarbeit. Die Jules Verne Society hatte damit ihre Feuertaufe bestanden und sah erhobenen Hauptes dem entgegen, was ihnen die Hölle jetzt noch zu bieten hatte.

Ali träumte in dieser Nacht von den Trägern. Sie sah ihre Gesichter langsam in der Dunkelheit verblassen.



Schickt die Besten aus,

die ihr erzieht -

bannt eure Söhne ins Exil,

den Bedürfnissen eurer

Gefangenen zu dienen.


RUDYARD KIPLING,

Die Bürde des Weißen Mannes

Загрузка...