20 Tote Seelen

SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN

Der Hadal schob sich mit dem Kopf zuerst aus einem der vielen Höhlenausgänge. Vor Hunger wie benommen, kämpfte er gegen einen Schwächeanfall an. Raureif verkrustete die kreisrunden Öffnungen der Zementröhren. Der Nebel war kalt. Aus den übereinander geschichteten Röhren konnte er die Kranken und Sterbenden hören. Die Krankheit war so tödlich wie eine Pestepidemie oder ein vergifteter Fluss.

Aus seinen Augen rann Eiter. Diese Luft. Dieses schreckliche Licht. Wie ein Leprakranker zog er sich Stofffetzen über den Kopf. In den zerschlissenen Umhang gekauert, fühlte er sich besser. So konnte er auch besser sehen. Sein Stamm brauchte ihn. Alle anderen erwachsenen Männer waren tot. Jetzt hing alles von ihm ab. Waffen. Nahrung. Wasser. Ihre Suche nach dem Messias würde warten müssen.

Selbst wenn er die Kraft zur Flucht gehabt hätte, hätte er es nicht einmal versucht, nicht solange hier noch Kinder und Frauen am Leben waren. Sie würden zusammen überleben, oder zusammen sterben. So war es nun einmal. Es hing von ihm ab. Mit erst achtzehn Jahren war er jetzt ihr Ältester.

Wer war noch übrig? Von seinen eigenen Frauen atmete nur noch eine, dazu drei seiner Kinder. Das Bild seines neu geborenen Sohnes stieg vor ihm auf - kalt wie ein Kieselstein. Die Körper seiner Leute lagen dort, wo sie taumelnd zu Boden gegangen waren. Ihr langsames Ende war merkwürdig mitanzusehen. Es musste an dieser dünnen, erstickenden Luft liegen. Oder an dem säureartigen Licht. Er hatte in seinem Leben schon viele Leichen gesehen, aber noch keine, die sich so rasch zersetzt hatten. Schon nach einem einzigen Tag hier oben war das Fleisch ungenießbar geworden.

Alle paar Schritte stützte er die Hände auf die Knie, um zu verschnaufen. Er war ein Krieger und ein Jäger. Der Boden war flach wie ein Teich. Trotzdem konnte er sich kaum auf den Beinen halten! Was war das nur für ein schrecklicher Ort?

Er erreichte eine geisterhafte weiße Linie und hob seinen Lumpenumhang ein wenig an, um in den Nebel zu blinzeln. Die Linie war zu gerade, um ein Wildwechsel zu sein. Der Gedanke, er habe womöglich einen Pfad entdeckt, weckte seine Lebensgeister. Vielleicht führte er zu einer Wasserstelle.

Er folgte der Linie und musste immer wieder kurze Erholungspausen einlegen. Er wagte nicht sich hinzusetzen. Wenn er sich erst setzte, würde er sich auch hinlegen, wenn er sich hinlegte, würde er einschlafen, und war er erst einmal eingeschlafen, würde er nie wieder aufwachen.

Die Linie stieß an ihrem Ende auf eine zweite Linie, die sich links und rechts im Nebel verlor. Er wählte den linken, den heiligen Weg. Er musste doch irgendwohin führen. Er traf auf noch mehr Linien. Er bog wieder und wieder ab, manchmal nach rechts, manchmal nach links, obwohl er damit gegen den heiligen Weg verstieß. Bei jeder Abzweigung pisste er seine Duftmarke auf den Boden. Trotzdem hatte er sich schon bald verlaufen. Wie war das möglich? Ein Labyrinth ohne Wände? Er haderte mit sich. Wäre er nur, wie man es ihm beigebracht hatte, bei jeder Kreuzung nach links gegangen, wäre er unvermeidlich wieder am Ursprungsort herausgekommen. Zumindest wäre es möglich gewesen, seinen Weg zurückzuverfolgen. Jetzt hatte er sich völlig verlaufen.

In der Hoffnung, trotz allem seinen Duft in der bizarren Vegetation wiederzufinden, schleppte er sich weiter. Sein Kopf hämmerte. Übelkeit überkam ihn. Er versuchte, den Frost von den stachligen Pflanzen zu lecken, doch der Geschmack von Salzen und Stickstoff war mächtiger als sein Durst. Der Boden vibrierte pausenlos vor Erschütterungen. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um sich auf sein Tun zu konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen und abschweifende Gedanken zu verbannen. Doch die leuchtende weiße Linie wiederholte sich so unbarmherzig, dass seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Deshalb übersah er die zerbrochene Flasche und bemerkte sie erst, als sie sich bereits halb durch seinen nackten Fuß gebohrt hatte. Er verschluckte den Aufschrei, bevor er seiner Kehle entweichen konnte. Sie hatten ihn gut ausgebildet. Schmerz war entweder ein Freund oder ein Feind, je nachdem, wie gut man ihn unter Kontrolle hatte.

Glas! Er hatte um eine Waffe gebetet, und hier lag sie. Er hielt die glatte Flasche in Händen und untersuchte sie. Das Glas war von minderwertiger Güte, nicht für den Krieg, sondern zu Handelszwecken hergestellt. Es verfügte nicht über die Schärfe des schwarzen Obsidians, der zu rasiermesserscharfen Scherben splitterte, auch nicht über die Haltbarkeit des von hadalischen Handwerkern geschaffenen Glases. Aber es würde ausreichen.

Der junge Hadal warf seinen zerlumpten Kopfputz nach hinten, bereit, sich dem Licht zu stellen. Er musste irgendwie zu seinem Stamm zurück, solange noch Zeit war. Wenn seine anderen Sinne von der Verwesung, den Erschütterungen und den Stimmen dieses Ortes irritiert waren, so musste er sich eben zum Sehen zwingen.

Etwas geschah, etwas Bedeutendes. Indem er die Lumpen, die seinen missgestalteten Kopf bedeckt hatten, abschüttelte, schien er diesen Nebel vertrieben zu haben. Er löste sich auf wie eine Illusion, und plötzlich sah alles ganz anders aus. Auf der 50-Yard-Linie des Candlestick Park Stadion stehend, fand sich der Hadal auf dem Grund eines tiefen Kelches wieder, über den sich ein ganzes Universum an Sternen spannte.

Der Anblick war grauenhaft, selbst für einen so mutigen Krieger. Himmel! Sterne! Der legendäre Mond!

Er wirbelte mehrere Male zuckend im Kreis herum. Dort, nicht weit entfernt, waren seine Höhlen, und darin seine Leute. Weiter drüben lagen die Skelette seiner Verwandten. Er machte sich auf den Weg, quer über den Platz, verletzt, humpelnd, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Die Unermesslichkeit um ihn herum beraubte ihn jeglicher Vorstellungskraft, es kam ihm vor, als müsse er jeden Moment in diese riesenhafte Schale stürzen, die sich drohend über ihn stülpte.

Es wurde noch schlimmer. Weit über seinem Kopf sah er sich selbst schweben. Er war riesengroß. Er hob die rechte Hand, um das kolossale Bild zu verjagen, und das Bild hob ebenfalls die rechte Hand, um ihn zu vertreiben. Zu Tode erschrocken, heulte er laut auf. Auch das Bild heulte.

Ein Schwindelgefühl ließ ihn zu Boden stürzen. Er krümmte und wand sich auf dem getrimmten Gras wie ein mit Salz bestreuter Blutegel.

»Heiliger Strohsack«, sagte General Sandwell und wandte sich von der Stadionleinwand ab. »Jetzt stirbt der auch noch. Am Ende stehen wir ganz ohne Männchen da.«

Es war drei Uhr morgens, und es roch intensiv nach Meer, sogar hier drinnen. Das Heulen des Wesens dort draußen, von teuren Stereolautsprechern wiedergegeben, hing noch immer im Raum.

Thomas, January und Foley, der Industrielle, beobachteten die bizarre Szene unter ihnen durch Nachtsichtgläser. Wie sie so vor der breiten Spiegelglasscheibe einer Loge am oberen Rand des Candlestick Park Stadion standen, sahen sie aus wie drei Kapitäne auf der Brücke eines Ozeandampfers. Tief unter ihnen stolperte die arme Kreatur immer noch in der Mitte der Arena herum. De l’Orme saß artig neben Veras Rollstuhl und schnappte so viel wie möglich von ihrer Unterhaltung auf.

Während der vergangenen zehn Minuten hatten sie das Infrarotbild des Hadal verfolgt, der sich im kalten Nebel an den Spielfeldmarkierungen entlanggeschlichen hatte. Hatte er sich, mal nach links und mal nach rechts, von der Geometrie leiten lassen, war er einem primitiven Instinkt gefolgt oder einfach verrückt geworden? Plötzlich hatte sich der Nebel gelichtet - und dann das! Sein Verhalten ergab auf dem Live-Videoschirm vergrößert ebenso wenig Sinn wie in der winzigkleinen Realität dort unten auf dem Rasen.

»Ist das ihr normales Verhalten?«, fragte January den General.

»Nein. Er ist mutig. Der Rest bleibt immer in der Nähe der Abflussrohre. Dieser Bursche hat die Grenzen ausgedehnt. Bis zur 50-Yard-Linie.«

»Ich habe noch nie einen lebenden Hadal gesehen.«

»Dann schauen Sie genau hin. Sobald ihn die Sonne erwischt, ist er erledigt.« Der General trug heute gebügelte Cordhosen und ein blau gemustertes Flanellhemd. Die Rolex war aus Platin. Der Ruhestand bekam ihm gut, insbesondere, weil er bei Helios sehr weich gelandet war.

»Und Sie sagen, sie hätten sich Ihnen ergeben?«

»Ich habe so etwas auch noch nicht erlebt. Wir hatten eine Patrouille unten, sechshundert Meter unterhalb der Sandia-Berge. So hoch kommt eigentlich nichts mehr herauf. Plötzlich taucht dieser Trupp auf, wie aus dem Nichts. Ein paar Hundert von denen.«

»Sie sagten, hier seien nur ein paar Dutzend.«

»Korrekt. Wie ich bereits sagte, haben wir so eine Massenkapitulation noch nie zuvor erlebt. Unsere Soldaten haben schnell reagiert.«

»Vielleicht eher überreagiert?«, fragte Vera.

Der General grinste sie sardonisch an. »Als sie hier oben ankamen, waren es noch zweiundfünfzig. Bei der letzten Zählung gestern waren es noch neunundzwanzig. Inzwischen sind es wahrscheinlich noch weniger.«

»Sechshundert Meter?«, fragte January. »Das ist so gut wie an der Oberfläche. Handelte es sich vielleicht um eine Invasionseinheit?«

»Keinesfalls. Eher um einen Herdenzug. Die meisten von ihnen sind Weibchen und Jungtiere.«

»Aber was wollen sie bloß hier oben?«

»Keine Ahnung. Wir können uns nicht mit ihnen verständigen.

Der Patrouillenführer sagte jedoch, die Gruppe sei eindeutig in Richtung Erdoberfläche unterwegs gewesen. Sie waren kaum bewaffnet. Es sah fast danach aus, als suchten sie etwas. Oder jemanden.«

Die Beowulf-Gelehrten verstummten. Ihre Augen reichten die Frage von einem zum anderen weiter. War dieser Hadal, der dort unten über das mit Raureif überzogene Gras des Stadions kroch, auf einer ähnlichen Mission wie sie selbst? Wollte er Satan finden? Hatte dieser verlorene Stamm seinen entschwundenen Anführer gesucht? Und zwar auf der Erde?

Sie hatten in der vergangenen Woche über diese Möglichkeit diskutiert. Gault und Mustafah hatten die Theorie aufgestellt, dass seine satanische Majestät womöglich ein Wanderer zwischen den Welten sei, der gelegentlich Ausflüge an die Oberfläche unternehme und die menschliche Entwicklung schon seit Ewigkeiten verfolge. Abbilder - meist in Stein gehauen - sowie die mündliche Überlieferung von Völkern auf der ganzen Welt zeichnen ein erstaunlich einheitliches Bild seiner Person. Er tauchte aus dem Nichts auf und verschwand ebenso plötzlich wieder. Er war ein Meister der Verkleidung und der Täuschung.

Gault und Mustafah hatten die Theorie bei einem gemeinsamen Aufenthalt in Ägypten zusammengebastelt. Seither hatten sie eine diskrete Telefonkampagne durchgeführt, mittels derer sie ihre Kollegen davon überzeugen wollten, dass der wahre Satan wahrscheinlich nicht in einem dunklen Loch tief im Inneren des Subplaneten lauernd aufzufinden, sondern eher davon auszugehen sei, dass er sich inmitten seiner Feinde aufhielt und sie aus nächster Nähe studierte. Sie waren der Ansicht, der historische Satan verbringe die Hälfte seiner Zeit drunten bei den Hadal, die andere Hälfte bei den Menschen. Wenn er sich so oft bei den Menschen aufhielt, war es wahrscheinlich, dass er ihnen stark ähnelte. Wenn Satan wirklich unter den Menschen weilte, welche Verkleidung würde er wohl wählen? Bettler, Dieb oder Despot? Gelehrter, Soldat oder Börsenmakler?

Thomas verwarf diese Theorie. Wir müssen mehr über diese Gestalt in Erfahrung bringen, hatte er gesagt. Wir müssen seine Wünsche und seine Bedürfnisse kennen, seine Schwächen und seine Stärken, müssen wissen, welchen Mustern er unbewusst folgt, welche Wege er aller Wahrscheinlichkeit einschlagen wird. Sonst würden sie niemals einen Vorteil über ihn erringen. Und dabei hatten sie es belassen und die Gruppe hatte sich in alle Winde verstreut.

Foley blickte von Thomas zu de l’Orme. Das gnomenhafte Gesicht war wie eine Chiffre. De l’Orme hatte dieses Treffen mit Helios erzwungen und jedes erreichbare Mitglied von Beowulf mitgezerrt. Er hatte ihnen versprochen, dass die Vorgänge im Stadion das Resultat ihrer Arbeit beeinflussen würden, jedoch nicht verraten, in welcher Hinsicht.

Von all dem hatte Sandwell keinen Schimmer. Vor ihm sprachen sie kein einziges Wort über Beowulf. Sie waren immer noch dabei herauszufinden, wie viel Schaden der General seit seinem Wechsel zu Helios vor fünf Monaten angerichtet hatte.

Die verglaste Loge diente Sandwell zurzeit als Büro. Das Stadion wurde völlig umgebaut. Helios errichtete hier eine Biotech-Forschungsstation, die darauf angelegt war, nach ihrer Fertigstellung fünfhundert SLF - Subterrane Lebensformen - gleichzeitig zu beherbergen.

Unten auf dem Feld hatte sich der Hadal wieder in Bewegung gesetzt und kroch jetzt auf die übereinander gestapelten Röhren zu, die seinen Artgenossen vorübergehend als Unterkunft dienten. Es würde wohl noch ungefähr ein Jahr dauern, bis der Umbau des Stadions abgeschlossen war.

»Lebendige Hadal sind so selten wie Marsmenschen«, erläuterte der General. »Sie intakt an die Oberfläche zu schaffen, bevor ihre Magenbakterien gerinnen oder ihr Lungengewebe zusammenfällt oder was sonst noch alles passieren kann, ist schwerer, als Haare auf einem Stein sprießen zu lassen.«

»Ich sehe nirgendwo Wasser. Auch keine Nahrung. Wovon sollen sie denn leben?«

»Das wissen wir nicht. Genau darin besteht ja das Problem. Wir haben ihnen eine Zinkwanne mit frischem Wasser hingestellt, aber sie haben sie nicht angerührt. Sehen Sie dort drüben das Klohäuschen für die Arbeiter? Gleich am ersten Tag haben es ein paar Hadal aufgebrochen und das Abwasser mitsamt den Chemikalien getrunken. Es dauerte Stunden, bis sie endlich zu zucken und zu schreien aufhörten.«

»Das heißt ... sie sind gestorben?«

»Entweder sie passen sich an oder sie sterben«, sagte der General. »Man nennt das Reifungsprozess.«

»Und diese Leichen drüben an der Seitenlinie?«

»Die Überreste eines Fluchtversuchs.«

Aus der Höhe konnten die Besucher sehen, dass die unteren Tribünen mit Soldaten besetzt und mit auf das Feld gerichteten Maschinengewehren bestückt waren.

Der Hadal kroch auf die Pyramide aus Abflussrohren zu. Er musste sich seinen Weg durch Skelette und halb verweste Kadaver bahnen.

»Warum lassen Sie die sterblichen Überreste einfach so herumliegen?«, fragte Thomas. »Meiner Meinung nach dürfte das eher ein Herd für Krankheiten sein.«

»Möchten Sie sie etwa beerdigen, Pater? Das hier ist kein Friedhof.«

Vera wandte sich ihm zu. Sandwells Wortwahl bewies eindeutig, dass er mittlerweile zur anderen Seite übergewechselt war. Er gehörte jetzt zu Helios. »Es ist auch kein Zoo, General. Warum bringen Sie sie hierher, wenn Sie ihnen doch nur dabei zusehen, wie sie sterben?«

»Wie ich bereits sagte: Alles nur für die Forschung und Entwicklung. Wir wollen endlich herausfinden, wie sie funktionieren.«

»Und welche Rolle spielen Sie dabei?«, fragte ihn Thomas. »Warum sind Sie hier? Bei Helios?«

Der General warf den Kopf nach hinten.

»Einsatzkonfiguration«, knurrte er.

»Aha«, sagte January, als hätte er ihr etwas Entscheidendes mitgeteilt.

»Ja, ich habe der Armee den Rücken gekehrt. Aber ich stehe immer noch an vorderster Front«, sagte Sandwell. »Ich stemme mich dem Feind immer noch entgegen. Nur dass ich es jetzt mit richtiger Unterstützung tun kann.«

»Sie meinen Geld«, konterte January. »Die Schatzkammer von Helios.«

»Womit, spielt keine Rolle. Hauptsache, wir halten Haddie auf. Nach all den Jahren, in denen mich Globalisten und lauwarme Pazifisten herumkommandiert haben, habe ich es jetzt endlich wieder mit echten Patrioten zu tun.«

»Das ist dummes Geschwätz, General«, erwiderte January. »Sie sind ein kleiner Angestellter, der Helios bei der Inbesitznahme des Subplaneten Hilfe leistet.«

Sandwell wurde rot. »Diese verdammten Gerüchte über eine neue Nation unter dem Pazifik! Das sind doch nur Sensationsmeldungen aus der Regenbogenpresse!«

»Als Thomas das zum ersten Mal erwähnte, dachte ich auch, er sei paranoid«, konterte January. »Ich dachte, niemand, der noch einigermaßen bei Trost ist, kommt auf die Idee, die Landkarte zu zerreißen, die Fetzen wieder neu zusammenzukleben und das Ganze ein Land zu nennen. Aber genau das geschieht, General, und Sie tragen Ihren Teil dazu bei.«

»Aber Ihre Landkarte bleibt doch noch völlig intakt«, sagte eine neue Stimme. Alle drehten sich um. Auf der Türschwelle stand C. C. Cooper. »Wir haben sie lediglich ein wenig angehoben und die blanke Tischplatte sichtbar gemacht. Wir haben dort neue Grenzen gezogen, wo es zuvor weder Land noch Grenzen gab. Sie können nach wie vor Ihren Geschäften nachgehen, als sei nichts geschehen. Und wir den unseren. Wir steigen einfach nur aus Ihrem Karussell aus, das ist alles.«

Cooper trat ein, gefolgt von seinem Sohn. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war erschreckend, allerdings hatte der Sohn die Nackenmuskeln eines Quarterbacks. Mit den beiden Coopers trat eine große attraktive Frau Ende vierzig mit kurz geschnittenem pechschwarzem Haar ein.

»Eva Shoat«, stellte sie Cooper den Anwesenden vor. »Meine Frau. Und das ist mein Sohn, Hamilton Cooper.« Im Unterschied zu Montgomery Shoat, dachte Vera. Dem Stiefsohn.

Cooper gesellte sich zu Sandwell und den BeowulfGelehrten. Er erkundigte sich nicht nach ihren Namen. Er entschuldigte sich nicht für sein Zuspätkommen.

»Ihr gerade entstehendes Land tanzt aus der Reihe«, sagte Foley.

»Keine Nation stellt sich außerhalb der internationalen Ordnung.«

»Dann denken Sie einmal an die Ordnung, die ich durch meine Inbesitznahme der Unterwelt garantiere«, antwortete Cooper liebenswürdig. »Dieser Abgrund unter unseren Füßen wird nie mehr von unbekannten Schrecken heimgesucht werden. Er wird nie wieder von diesen Kreaturen beherrscht sein.« Er zeigte auf den Videoschirm des Stadions. Der Hadal schlürfte sein eigenes Erbrochenes vom Spielfeld auf. Eva Shoat zitterte angeekelt.

»Sobald unsere koloniale Strategie einsetzt, brauchen wir uns nicht mehr vor irgendwelchen Ungeheuern zu fürchten. Kein Aberglaube mehr. Keine nächtlichen Heimsuchungen und Ängste. Für unsere Kinder und Kindeskinder wird die Unterwelt nichts anderes als eine große Immobilie sein. Sie werden Ferienreisen zu den Naturwundern unter unseren Füßen buchen. Ihnen werden sämtliche bislang ungenutzten Quellen des gesamten Planeten zur Verfügung stehen. Ihnen wird die Freiheit vergönnt sein, an einem Utopia zu arbeiten.«

»Das ist nicht der Abgrund, den die Menschen fürchten«, protestierte Vera. »Es ist der Abgrund hier drin.« Sie legte die Hand auf die Rippen über ihrem Herzen.

»Abgrund ist Abgrund«, sagte Cooper. »Bringt man Licht in den einen, wird auch der andere hell. Sie werden sehen, dass wir alle wesentlich besser damit fahren.«

»Propaganda!« Vera drehte angewidert den Kopf zur Seite.

»Ihre Expedition«, mischte sich jetzt Thomas ein. Er war ziemlich geladen. »Wo ist sie hin?«

»Ich fürchte, ich habe keine besonders guten Nachrichten«, antwortete Cooper. »Wir haben den Kontakt zur Expedition verloren. Sie können sich unsere Sorge bestimmt vorstellen. Ham, hast du unsere Karte dabei?«

Coopers Sohn klappte seine Aktentasche auf und zog eine zusammengefaltete Karte des Meeresbodens hervor. Sie war zerknittert und mit einem Dutzend unterschiedlicher Kugelschreiber und Buntstifte beschriftet. Cooper fuhr mit den Fingern über Längen- und Breitengrade. »Ihre letzte bekannte Position war südsüdwestlich von Tarawa, der Hauptinsel der Gilben Islands. Natürlich ändert sie sich ständig. Hin und wieder fangen wir Nachrichten aus dem Grundgestein auf.«

»Sie hören immer noch Nachrichten von ihnen?«, fragte January.

»Im Prinzip ja. Allerdings sind die Berichte seit drei Wochen nicht mehr als Fetzen älterer Berichte. Die Übertragung wird von den Gesteinsschichten gestört. Bei uns kommen nur noch Echos an. Elektromagnetische Rätsel. Daraus können wir nur ungefähr bestimmen, wo sie sich vor Wochen aufgehalten haben. Wo sie heute sind, kann niemand mit Gewissheit sagen.«

»Mehr wissen Sie nicht?«, fragte January.

»Wir werden sie finden«, meldete sich Eva Shoat plötzlich zu Wort. Sie war wütend.

Cooper warf ihr einen strengen Blick zu.

»Sie müssen krank vor Sorge sein«, sagte Vera mitfühlend. »Ist Montgomery Ihr einziges Kind?« »Ja«, antwortete Eva und schaute dann zum Sohn ihres Mannes.

»Ich meine, nein. Ich mache mir Sorgen. Ich würde mir auch Sorgen machen, wenn Hamilton da unten wäre. Ich hätte Monty niemals erlauben dürfen mitzugehen.«

»Er hat sich selbst dafür entschieden«, bemerkte Cooper streng.

»Aber nur, weil er verzweifelt war«, konterte Eva. »Wie hätte er sich sonst in dieser Familie behaupten können?«

Vera sah, wie Thomas ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln dankte. Sie hatte ihre Sache gut gemacht und die Coopers zum Reden gebracht.

»Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass er ein Teil davon ist, Eva. Du hast keine Vorstellung davon, wie wichtig sein Beitrag einmal für uns sein wird.«

»Mein Sohn muss also sein Leben aufs Spiel setzen, um dir wichtig zu sein?«

Cooper winkte ab. Sie führten diese Auseinandersetzung offensichtlich nicht zum ersten Mal.

»Worum handelt es sich hier eigentlich genau, Mr. Cooper?«, fragte Foley.

»Das sagte ich Ihnen doch bereits«, schaltete sich Sandwell wieder ein. »Eine Forschungseinrichtung.«

»Wofür genau brauchen Sie lebende Hadal? Welche Art von Forschung betreiben Sie?«, erkundigte sich Vera.

Cooper presste mit ernster Miene die Handflächen fest aufeinander. »Wir fangen endlich damit an, Langzeituntersuchungen und daraus resultierende Daten über die Kolonisierung zu sammeln«, sagte er. »Die erste Gruppe, die in nennenswerter Anzahl hinunterstieg, waren die Soldaten. Sechs Jahre später waren sie die Ersten, bei denen sich schwere Nebenwirkungen bemerkbar machten.«

»Die Knochenauswüchse und der graue Star?«, fragte Vera. »Das ist doch schon bekannt. Diese Veränderungen verschwinden mit der Zeit wieder.«

»Das hier ist anders. In den vergangenen vier bis zehn Monaten haben wir den Ausbruch bisher unbekannter Symptome beobachtet. Vergrößerte Herzen, Höhenödeme, skelettale Dysplasie, akute Leukämie, Sterilität, Hautkrebs. Was uns am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass wir diese Symptome auch bei den Neugeborenen der Unterweltsveteranen feststellen. Fünf Jahre lang hatten wir nur normale Geburten. Und auf einmal zeigen ihre Kinder morbide Defekte. Mutationen.«

»Warum habe ich davon noch nichts gehört?«, fragte January misstrauisch.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem Helios fieberhaft an einem Heilmittel arbeitet. Sobald etwas davon an die Öffentlichkeit dringt, wird kein Mensch mehr im Subplaneten bleiben wollen. Stellen Sie sich doch einmal die Folgen vor! Nach so vielen Anstrengungen und Investitionen würden wir den Subplaneten eventuell doch noch verlieren. Darauf legt Helios absolut keinen Wert.«

»Was geht denn da unten vor sich?«

»Der Subplanet verändert uns.« Cooper wies mit einer Geste auf die Gestalt auf dem Stadionschirm. »In das da.«

Eva Shoat legte eine Hand auf ihren langen Hals. »Du hast das alles gewusst, und trotzdem hast du meinen Sohn dort hinuntergehen lassen?«

»Die Effekte treten nicht immer und nicht bei jedem auf«, sagte Cooper. »Bei den Veteranen ist das Verhältnis etwa fünfzig zu fünfzig. Die Hälfte von ihnen hat überhaupt keine Symptome, die andere Hälfte hat mit diesen verspätet auftretenden Mutationen zu kämpfen. Alles Symptome, die auch die Hadal entwickeln, sobald sie an die Erdoberfläche kommen. Etwas schaltet irgendetwas in der DNA an und aus. Verändert den genetischen Code. Ihre Körper fangen an, Proteine zu produzieren, Proteinchimären, die das Gewebe auf radikale Weise verändern.«

»Und Helios muss eine Lösung finden«, bemerkte Foley. »Sonst wird aus dem Reich unter dem Meer eine Geisterstadt, noch bevor das Projekt richtig in Gang kommt.«

»Genau so ist es.«

»Offenbar glauben Sie, die Lösung in der Physiologie der Hadal selbst zu finden?«, vermutete Vera.

Cooper nickte. »Die Gentechniker nennen es >den gordischen Knoten zerschneidenc. Wir müssen die Komplexität aufdröseln, Viren und Retroviren sowie Gene und Erscheinungsbilder isolieren. Die Umweltfaktoren untersuchen, das ganze Chaos systematisch erfassen. Deshalb stampft Helios hier ein milliardenschweres Forschungszentrum aus dem Boden und deshalb bringen wir lebende Hadal hierher.«

»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Vera. »Forschung und Entwicklung wären doch dort unten viel unkomplizierter zu betreiben. Sie müssten ihre Versuchskaninchen nicht durch den Transport an die Oberfläche gefährden. Sie könnten die gleiche Einrichtung für einen Bruchteil der Kosten als unterirdische Station bauen lassen. Hier oben müssen Sie das gesamte Labor künstlich auf subplanetaren Druck bringen. Warum die Hadal nicht gleich dort unten studieren? Die Sterblichkeitsrate wäre wesentlich niedriger. Und ihre Kolonisten könnten Sie ebenfalls gleich vor Ort testen.«

»Diese Option besteht nicht«, sagte de l’Orme. »Jedenfalls noch nicht so bald.«

Alle drehten sich zu ihm um.

»Wenn er keine Versuchskaninchen heraufbringt, wird es dort unten schon bald keine Hadal mehr zu holen geben. Habe ich Recht, Mr. Cooper?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, entgegnete Cooper.

»Vielleicht erzählen Sie uns etwas über die Seuche«, sagte de l’Orme. »Über Prion-9.«

Cooper taxierte den kleinen Archäologen von oben bis unten abschätzend. »Ich weiß, was Sie wissen. Wir haben in Erfahrung gebracht, dass entlang der Expeditionsroute Prion-Kapseln ausgesetzt werden. Aber Helios hat nichts damit zu tun. Es ist mir egal, ob Sie mir glauben oder nicht. Letztendlich sind es meine Leute, die dort unten dem Risiko ausgesetzt sind. Meine Expedition. Mit der Ausnahme Ihres Spions«, fügte er hinzu. »Dieser Frau von Schade.«

Januarys Miene wurde starr.

»Was ist das für eine Geschichte von einer Seuche?«, fragte Eva Cooper scharf.

»Ich wollte dich nicht noch mehr beunruhigen«, sagte Cooper zu seiner Frau. »Ein geistig gestörter ehemaliger Soldat hat sich der Expedition angeschlossen und legt überall auf dem Weg einen synthetischen Virus aus.«

»Mein Gott«, flüsterte seine Frau.

De l’Orme lächelte bitter. »Derjenige, der das Gift auslegt, heißt Shoat. Es ist Ihr Sohn, Ma’am.«

»Mein Sohn?«

»Er wird dazu missbraucht, eine synthetische Seuche auszusetzen. Und Ihr Mann hat ihn dazu auserwählt.«

Die Versammlung starrte den Archäologen verdutzt an. Sogar Thomas war bestürzt.

»Das ist absurd!«, brauste Cooper auf.

De l’Orme zeigte auf Coopers Sohn. »Er hat es mir verraten.«

»Ich habe Sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, protestierte Hamilton.

»Das stimmt. Ebenso wenig habe ich Sie gesehen.« De l’Orme grinste. »Trotzdem haben Sie es mir verraten.«

»Sie sind ja verrückt!«, brauste Hamilton auf.

»Aber, aber«, tadelte ihn de l’Orme. »Wir haben uns doch schon einmal über Ihre emotionalen Ausbrüche unterhalten. Keine Demütigung der Ehefrau mehr auf Cocktailpartys. Und keine Schlägereien mehr. Darin waren wir uns doch einig? Sie wollten daran arbeiten, Ihren Zorn in den Griff zu bekommen, richtig? Ihr Temperament zu zügeln.«

Der junge Mann wurde aschfahl.

Nun wandte sich de l’Orme an sie alle. »Über die Jahre habe ich festgestellt, dass die Geburt eines Sohnes einen Mann gelegentlich zur Vernunft bringt. In einigen Fällen bewirkt sie sogar seine Rückkehr zum Glauben. Als ich von der Taufe von Hamiltons Sohn hörte, kam mir eine Idee. Es war deutlich zu sehen, dass die Vaterschaft unseren jungen Sünder veränderte. Er hat sich mit dem besonderen Eifer eines verlorenen und doch noch zurückgekehrten Sohnes auf den Pfad der Tugend begeben. Seit mehr als einem Jahr hat Hamilton jetzt seiner Vorliebe für Heroin entsagt und sich von seinen teuren Callgirls fern gehalten.«

»Was reden Sie da überhaupt?«, fragte Cooper entgeistert.

»Hamilton Cooper hat den Geschmack der heiligen Hostie entdeckt«, sagte de l’Orme. »Und Sie alle kennen die Spielregel: ohne Beichte keine Eucharistie.«

Cooper wandte sich entsetzt an seinen Sohn. »Hast du Kontakt mit der Kirche aufgenommen?«

Hamilton sah niedergeschlagen aus. »Ich habe mit Gott gesprochen.«

»Und was ist mit dem Beichtgeheimnis?«, fragte Vera staunend.

»Ich habe die Kutte schon vor langer Zeit abgelegt«, klärte sie de l’Orme auf. »Meine Freundschaften und persönlichen Verbindungen pflege ich jedoch nach wie vor. Es war einfach nur eine Frage der Vorahnung, wann es mit dem mea culpa dieses korrupten jungen Mannes so weit sein würde. Ich musste mich nur bei gewissen Gelegenheiten in eine kleine hölzerne Kabine setzen. Hamilton und ich, wir haben uns stundenlang unterhalten. Ich habe viel über das Haus Cooper erfahren. Sehr viel.«

Cooper der Ältere lehnte sich zurück. Er starrte aus der Loge in die Nacht hinaus.

»Helios verfolgt folgende Strategie«, fuhr de l’Orme fort: »Die Seuche soll wie ein gewaltiger Gewittersturm des Todes durch den Subkontinent fegen. Anschließend kann die Firma eine praktisch von allen störenden Lebensformen gereinigte Welt in Besitz nehmen. Dann gibt es dort auch keine Hadal mehr. Deshalb hält sich Helios hier oben eine gewisse Population. Weil sie vorhaben, alles, was dort unten atmet, in Kürze zu töten.«

»Aber warum?«

De l’Orme blieb auch diese Antwort nicht schuldig. »Historie«, sagte er. »Mr. Cooper hat seine Lektion ordentlich gelernt. Eroberungen verlaufen immer auf die gleiche Weise. Es ist wesentlich einfacher, ein leeres Paradies zu besetzen.«

Cooper warf seinem Sohn einen vernichtenden Blick zu.

De l’Orme fuhr unbeirrt fort: »Helios erhielt das Prion-9 aus einem Labor, das im Auftrag der U.S. Army arbeitete. Wer es für Helios besorgt hat, dürfte außer Frage stehen.

General Sandwell, Sie waren es auch, der den Soldaten Dwight Crockett als Sündenbock rekrutierte, unter dessen Namen Montgomery Shoat immunisiert wurde.«

»Monty wurde immunisiert?«, fragte seine Mutter.

»Ihr Sohn hat nichts zu befürchten«, beruhigte sie de l’Orme.

»Zumindest nicht von der Seuche.«

»Wer kontrolliert die Freisetzung des Giftes?« Vera richtete ihre Frage direkt an Cooper. »Sie?«

Cooper schnaubte verächtlich.

»Montgomery Shoat«, vermutete Thomas. »Aber wie? Sind die Kapseln so programmiert, dass sie das Gift automatisch freisetzen? Gibt es eine Fernbedienung? Einen Code?«

»Um Gottes Willen, sag es ihnen!«, flehte Eva ihren Ehemann an.

»Wir können es nicht mehr aufhalten«, sagte Cooper. »Das ist die Wahrheit. Montgomery hat den Auslöser selbst codiert. Er ist der Einzige, der die elektronische Sequenz kennt. Auf diese Weise kann seine Mission von niemandem gefährdet werden. Nicht von Ihnen«, sagte er zu Thomas und fügte dann verbittert hinzu: »Und auch nicht von einem indiskreten Sohn. Und bei all unserer Ungeduld können wir den Virus nicht freisetzen, bevor Montgomery die Zeit für reif hält.«

»Dann müssen wir ihn finden«, sagte Vera. »Geben Sie uns Ihre Karte. Zeigen Sie uns, an welchen Stellen die Kapseln deponiert wurden.«

»Das hier?« Cooper schlug mit dem Handrücken auf die Karte. »Das ist lediglich ein Entwurf. Nur die Expeditionsteilnehmer wissen, welchen Weg sie wirklich genommen haben. Aber selbst wenn Sie ihn aufspüren, bezweifle ich, dass Montgomery sich noch an jede einzelne Kapsel auf der fünfzehntausend Kilometer langen Reise erinnert.«

»Wie viele davon gibt es?«

»Mehrere Hundert. Wir wollten keine halben Sachen machen.«

»Und wie viele Auslöser?«

»Nur den einen.«

Thomas forschte in Coopers Gesicht. »Für wann haben Sie den Massenmord geplant? Wann genau soll Shoat die Seuche entfesseln?«

»Das sagte ich bereits. Sobald er die Zeit für gekommen hält. Selbstverständlich wird er die Expedition so lange wie möglich nutzen. Sie garantiert ihm Transport, Nahrung und Schutz. Er ist kein Selbstmörder und bestand darauf, geimpft zu werden. Ich zweifle nicht daran, dass er die Aufgabe zu Ende bringt, wenn es so weit ist.«

»Auch dann, wenn er dazu die Expeditionsteilnehmer umbringen muss? Und jeden einzelnen Kolonisten, Bergarbeiter und Soldaten, der sich dort unten aufhält?«

Cooper antwortete nicht.

»Was hast du aus meinem Sohn gemacht?«, fragte Eva.

Cooper sah sie an. »Aus deinem Sohn.«

»Du Ungeheuer«, flüsterte sie.

In diesem Augenblick sagte Vera: »Seht doch!«

Sie starrte auf den Videoschirm. Der Hadal hatte die übereinander gestapelten Abflussröhren erreicht und zog sich an den runden dunklen Öffnungen hoch. Auf der Projektion war er an die zwölf Meter groß. Sein nackter, von alten Wunden und Stammeszeichen bedeckter Brustkasten zuckte in raschen, pumpenden Wellen. Das Wesen sagte eindeutig etwas. Sandwell eilte zur Wand und drehte an einem runden Knopf. Jetzt war auch die Tonübertragung aus den Lautsprechern zu hören. Es hörte sich an wie das Kreischen und Schnauben eines gefangenen Affen.

In der Mündung eines der Rohre erschien ein Gesicht. Dann tauchten in anderen Öffnungen andere Gesichter auf. Von den eigenen Exkrementen nass und verklebt, kamen sie aus ihren zementenen Höhlen und ließen sich zu Füßen des Hadal auf den Boden fallen. Es waren nur noch neun oder zehn von ihnen übrig. Die Stimme des Hadal veränderte sich. Er schien jetzt zu singen oder zu beten. Die anderen, bei denen es sich ausschließlich um Frauen und Kinder handelte, fingen laut zu heulen an.

»Was macht er da?«

Immer noch singend, nahm der Hadal einer der Frauen ein Kind weg und wiegte es in den Armen. Er vollführte eine weihevolle Bewegung, als striche er Asche auf den Kopf und den Hals des Kindes und nahm ein anderes, das ihm gereicht wurde, entgegen, woraufhin er die Geste wiederholte.

»Es schneidet ihnen die Kehle durch«, erkannte January.

»Was?«

»Ist das ein Messer?«

»Glas«, sagte Foley.

»Wo hat er das Glas her?«, fuhr Cooper den General an.

Jetzt stellte sich eine ausgemergelte Frau vor den Schlächter. Sie warf den Kopf in den Nacken, öffnete die Arme weit, und es dauerte kaum eine Sekunde, bis er ihre Schlagader gefunden und ihr die Kehle aufgeschlitzt hatte. Eine zweite Frau erhob sich.

Das Lied erstarb, eine Stimme nach der anderen.

»Halten Sie ihn auf!«, schrie Cooper Sandwell an. »Der Saukerl bringt meine ganze Herde um!«

Aber es war bereits zu spät.

Liebe ist Verpflichtung. Er wiegte seinen eigenen Sohn in den Armen. Er war kalt, kalt wie ein kleiner Stein. Er rief den Namen des Messias. Weinend führte er den Schnitt aus und drückte sein letztes, still verblutendes Kind an seine Brust. Nun endlich war es so weit, sein eigenes Blut mit dem der Seinen zu vereinen.

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