21 Ausgesetzt

6000 FADEN UNTER DEM MEER

Niemand hatte sich je einen solchen Ort erträumt. Geologen hatten immer wieder von urzeitlichen, unter den Kontinenten verborgenen Ozeanen gesprochen, allerdings nur als hypothetische Erklärung für die wandernden Pole und Schwerkraftabweichungen der Erde. Doch lag er wirklich vor ihnen.

Am 22. Oktober war er da, ohne Vorwarnung, reglos und schweigend. Die Männer und Frauen, die eine Woche lang flussabwärts um ihr Leben gerannt waren, hielten an. Sie stiegen aus den Flößen und standen staunend mit offenen Mündern auf dem zinnfarbenen Strand. Die Wasserfläche dehnte sich wie ein gewaltiger Halbmond vor ihnen aus. Sanft schlugen winzige Wellen ans Ufer. Die Wasseroberfläche war völlig glatt und warf das Licht der flüchtig über sie hinweghuschenden Scheinwerfer zurück.

Sie hatten keine Vorstellung von der Ausdehnung oder der Gestalt des urzeitlichen Ozeans. Auf der Suche nach der Decke des gewaltigen Hohlraums schickten sie Laserstrahlen nach oben und trafen schließlich achthundert Meter über ihren Köpfen auf Gestein. Die Wasserfläche schien endlos. Sie konnten lediglich feststellen, dass der Horizont gut 32 Kilometer entfernt war und das andere Ufer sich ihren Blicken entzog.

Der Weg verlief sowohl rechts als auch links am Ufer entlang. Niemand wusste, welcher Weg wohin führte. »Da sind Walkers Stiefelspuren«, sagte jemand, und sie folgten ihnen.

Ein Stück weiter am Strand fanden sie ihr viertes Proviantlager. Walkers Leute waren schon vor Stunden angekommen und hatten die Zylinder innerhalb eines provisorischen Schutzwalles aus Sand ausgepackt.

Die Wissenschaftler näherten sich der Sandburg zu Fuß. Walker kam heraus und streckte ihnen abwehrend die Hände entgegen.

»Der Zutritt zum Depot ist verboten!«

»Das können Sie doch nicht machen!«, rief jemand.

»Wir befinden uns in Alarmbereitschaft«, entgegnete Walker.

»Unser höchstes Ziel ist der Schutz von Nahrungsmitteln und Nachschub. Falls wir angegriffen werden und Sie sich innerhalb unserer Stellung aufhalten, führt das nur zu Chaos. Das hier ist die beste Lösung. Wir haben für Sie ein Lager auf der anderen Seite des Felsens dort drüben eingerichtet. Der Quartiermeister hat bereits Post und Rationen ausgeteilt.«

»Ich muss zu dem Mädchen«, sagte Ali.

»Zutritt verboten«, gab Walker zurück. »Sie wurde als militärisch wichtig eingestuft.«

Die Art, in der er das sagte, war selbst für Walkers autoritären Stil merkwürdig.

»Wer hat sie so eingestuft?«, wollte Ali wissen.

»Geheimsache.« Walker blinzelte. »Sie verfügt über wichtige Informationen hinsichtlich des Terrains.«

»Aber sie spricht doch nur Hadal.«

»Ich habe vor, ihr Englisch beizubringen.«

»Das dauert doch viel zu lange. Ike und ich können dabei helfen. Ich habe schon ein Glossar zusammengestellt.« Dies war ihre Chance, endlich die tatsächlich gesprochene Sprache kennen zu lernen.

»Vielen Dank für Ihre Einsatzfreudigkeit, Schwester.«

Walker zeigte auf zwanzig bruchsicher verpackte Flaschen, die im Sand lagen. »Helios hat Whiskey mitgeschickt. Trinken Sie ihn oder gießen Sie ihn aus. Er bleibt jedenfalls hier. Wir nehmen auf keinen Fall flüssiges Gepäck mit.«

Schlecht gelaunt fügten sich die Wissenschaftler. Die Entfremdung von den Söldnern war in den letzten Wochen immer deutlicher geworden, und das Massaker hatte die Kluft nur noch weiter aufgerissen. Jetzt gab es sogar schon zwei Lager! In der Nacht wurden die Whiskey-Flaschen herumgereicht. »Sie behandeln uns wie lästige Deppen!«, beschwerte sich jemand.

»Was sollen wir noch alles einstecken?«, fragte eine Frau.

»Mir reicht’s jedenfalls. Ich würde ohne Zögern jederzeit nach Hause gehen«, verkündete Gitner. Der grantige Petrologe hatte schon mehrfach überlegt, umzukehren.

Ali erkannte, welche Stimmung da aufkam, und beschloss, sich herauszuhalten. Sie ging lieber auf die Suche nach Ike, um ihre Gedanken mit ihm auszutauschen, und fand ihn mit einer Flasche Whiskey an einen Felsen gelehnt. Walker hatte ihn gehen lassen, wenn auch ohne seine Waffen. Ali war enttäuscht. Ohne seine Waffe schien Ike hilflos zu sein. »Warum trinkst du?«, fragte sie ihn. »Und das ausgerechnet heute Nacht?«

»Warum denn nicht?«, erwiderte er.

»Die Gruppe bricht auseinander. Schau dir doch mal Walkers Festung an!«

»Das ganze Unternehmen war von Anfang an eine Nummer zu groß«, sagte Ike.

Ali blickte ihn an. »Ist dir inzwischen alles egal?«

Er setzte die Flasche ab, wischte sich über den Mund und murmelte: »Manchmal muss man einfach mit dem Strom schwimmen.«

»Lass uns nicht im Stich, Ike.«

Er sah weg.

Ali ging zu einer einsamen Stelle irgendwo auf halbem Weg zwischen den beiden Lagern und legte sich schlafen.

Mitten in der Nacht wachte sie auf, weil sich eine Hand fest auf ihren Mund presste.

»Schwester«, flüsterte ein Mann.

Sie spürte, wie ihr jemand ein schweres Bündel in die Hand drückte. »Verstecken Sie das.«

Er ging, bevor Ali auch nur ein einziges Wort sagen konnte. Sie legte das Bündel neben sich und betastete den Inhalt. Ein Gewehr, eine Pistole, drei Messer, eine abgesägte Flinte, die nur Ike gehören konnte, sowie mehrere Schachteln Munition. Verbotene Früchte. Ihr Besucher konnte nur ein Soldat gewesen sein, und sie war sich ziemlich sicher, dass es einer von den beiden war, die Ike damals aus dem Vulkan gerettet hatte. Aber warum diese Waffen?

Ali wollte Ike nach seiner Meinung fragen. Doch Ike war nicht mehr ansprechbar. Schließlich vergrub sie das merkwürdige Geschenk am Fuß einer Felswand.

Als Ali am nächsten Morgen sehr früh aufwachte, lag Nebel über dem Strand. In der Stille fühlte sie die Schritte im Sand eher als dass sie sie hörte. Sie erhob sich und erkannte einzelne Soldaten, die durch den Nebel schlichen, geisterhafte Silhouetten, die einen Schatz wegschleppten.

Sie gingen in Richtung Wasser. Erst als nach mehreren Minuten niemand mehr im Nebel auftauchte, erhob sie sich und ging zum Strand, wo sie die Scheinwerfer der Flöße über das ruhige, pechschwarze Meer entschwinden sah.

Sie dachte, Walker habe eine Frühpatrouille losgeschickt, aber es lagen überhaupt keine Flöße mehr auf dem Strand. Ali lief auf und ab, überzeugt davon, dass sie einfach nur an der falschen Stelle suchte. Doch die Schleifspuren der Ausleger auf dem Sand ließen keine falschen Schlüsse zu. Sämtliche Flöße waren weg. Erst jetzt wurde ihr klar, dass das alles geplant war. Sie hatten sie absichtlich zurückgelassen.

Der Schock machte sie innerlich ganz leer.

Ausgesetzt. Das Gefühl von Verlust und Verlorenheit war überwältigend, genau wie damals, als der Polizist zu ihr nach Hause gekommen war, um ihr die Nachricht vom Unfalltod ihrer Eltern zu überbringen.

Ein Husten drang durch den Nebel, und mit einem Mal wurde ihr die ganze Wahrheit klar. Sie war nicht allein zurückgelassen worden. Walker hatte alle, die nicht seinem unmittelbaren Kommando unterstanden, im Stich gelassen.

Stolpernd rannte sie über den Sand, bis sie die Wissenschaftler fand, die weit verstreut überall dort lagen, wo sie im Rausch umgekippt waren. Sie ließen sich nur widerwillig wecken und weigerten sich, Alis Worten zu glauben. Erst als sie fünf Minuten später an der Stelle am Meeresufer standen, an der ihre Flöße gelegen hatten, sickerte die schreckliche Tatsache langsam in ihre Köpfe.

»Was hat das zu bedeuten?«, brüllte Gitner.

»Sie haben uns sitzen lassen! Wo ist Shoat?«

Aber Shoat war ebenfalls weg, genau wie das Hadal-Mädchen.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Ali beobachtete ihre Reaktionen, als handele es sich um einen Teil ihrer selbst. Sie fühlte sich gelähmt. Am liebsten hätte sie wie ihre Freunde und Weggefährten laut geschrien, voller Wut in den Sand getreten und sich auf den Rücken geworfen. Dieser Verrat war einfach unglaublich.

»Warum haben sie das getan?«, schrie jemand.

Ike kam mit einem Zettel in der Hand herbei, auf dem Ali eine Zahlenkolonne erblickte. »Walker hat einiges an Lebensmitteln und Medizin zurückgelassen. Aber die Verbindung nach oben ist zerstört. Außerdem haben sie sämtliche Waffen mitgenommen.«

»Sie haben uns hier einfach zurückgelassen«, heulte jemand.

»Als Opfergabe für die Hadal.«

Ali packte Ike am Arm. Ihr Gesichtsausdruck ließ die anderen verstummen. Mit einem Mal konnte sie sich einen Reim auf ihren nächtlichen Besucher machen.

»Glaubst du an Karma?«, fragte sie Ike, und dann gingen sie alle zu der vergrabenen Decke, in die die Gewehre und Messer eingeschlagen waren.

»Ich kapiere das nicht«, sagte Gitner. »Ike rettet dem Kerl das Leben, aber dann gibt er das ganze Zeug einer Nonne?«

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Pia. »Es ist doch Ikes Nonne.« Alle Augen richteten sich auf Ali.

Ike wechselte rasch das Thema.

»Jetzt haben wir wenigstens eine Chance«, knurrte er und schob eine Patrone in sein Gewehr.

Im Depot wühlten sie Kisten und Dosen durch. Walker hatte mehr als erwartet zurückgelassen, aber weniger als sie brauchten.

Schlimmer noch: Seine Männer hatten die Pakete geplündert, die den Wissenschaftlern von ihren Familien und Freunden herabgeschickt worden waren. Die kleine Sandfestung war mit Postkarten und Schnappschüssen übersät, was dem Ganzen noch eine Dimension der Erniedrigung hinzufügte.

Insgesamt waren sie noch 46 Personen. Nach einer sorgfältigen Berechnung stellte sich heraus, dass ihnen noch 1.124 Rationen oder insgesamt Vollverpflegung für 29 Tage geblieben war. Man kam sofort überein, die Rationen zu strecken. Wenn man die tägliche Ration halbierte, reichte das Essen für zwei Monate.

Ihre Forschungsarbeit war damit gestorben. Geblieben war jetzt nur noch ein Wettlauf mit dem Tod. Die Expedition stand vor der Entscheidung: Entweder sie versuchten, zu Fuß nach Esperanza zurückzumarschieren, oder sie gingen weiter und machten sich auf die Suche nach dem nächsten Proviantlager und einem Ausgang aus dem Subplaneten.

Gitner versteifte sich sofort darauf, dass Esperanza ihre einzige Hoffnung sei.

»Zumindest müssen wir uns auf diesem Weg nicht dem absolut Unbekannten aussetzen«, sagte er. Mit Rationen für zwei Monate blieb ihnen Zeit genug, die Überreste des dritten Proviantlagers zu erreichen, die Verbindungsleitung zu flicken und mehr Nachschub anzufordern. Gitner bezeichnete jeden, der ihm nicht zustimmte, als hirnverbrannten Idioten.

»Wir haben keine Minute zu verlieren«, sagte er immer wieder.

»Was meinst du?«, fragte sie Ike.

»Das ist Schwachsinn«, sagte er.

»Aber wohin sollen wir sonst gehen?«

Alle wussten, dass Ike seine Entscheidung bereits gefällt hatte. Aber er wollte keine Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen und blieb stumm.

»Im Westen erwartet uns nichts als endlose Tunnelsysteme«, verkündete Gitner. »Alle, die nach Osten wollen, kommen mit mir.«

Ali staunte, wie ausgefuchst Ike mit Gitner um die Waffen schacherte. Schließlich trennte Ike sich gegen eine Extraration Protein-Riegel von einem Gewehr und der dazugehörigen Munition, vom Funkgerät und einem Messer. »Ich glaube«, sagte er, »wir versuchen es einfach auf dem Weg um dieses Gewässer herum.«

Nachdem ihm die meisten Waffen, Gefolgsleute und Nahrungsmittel sicher waren, machte das Gitner überhaupt nichts aus. »Sie sind völlig irre«, sagte Gitner zu Ike. »Was ist mit euch anderen?«

»Neues Territorium«, sagte Troy, der junge Anthropologe.

»Ike hat uns bisher gut geführt«, sagte Pia.

Ali wollte ihre Wahl nicht auch noch begründen.

»Dann also gute Reise«, erwiderte Gitner.

Es blieb kaum Zeit, dass sich die beiden kleinen Gruppen voneinander verabschiedeten. Die Angehörigen beider Fraktionen schüttelten einander herzlich die Hände, wünschten sich Hals- und Beinbruch und versprachen, sofort Hilfe loszuschicken, sollten sie als Erste die Oberfläche erreichen.

Kurz bevor sie aufbrachen, ging Gitner mit seiner neuen Flinte auf Ali zu. »Ich halte es für nicht mehr als gerecht, wenn du uns deine Karten mitgibst«, sagte er. »Du brauchst sie nicht. Wir schon.«

»Meine Tageskarten?« Sie gehörten ihr. Sie hatte sie mit ihrem künstlerischen Herzblut geschaffen und betrachtete sie als einen Teil von sich.

»Wir müssen uns an alle nur erdenklichen Orientierungspunkte erinnern.«

Es war das erste Mal, dass Ali wünschte, Ike würde für sie eintreten, als sie Gitner die Trommel mit den Karten reichte. »Versprechen Sie, dass Sie gut darauf aufpassen«, sagte sie. »Ich hätte sie eines Tages gern zurück.«

»Klar doch.« Gitner bedankte sich nicht einmal, sondern schob die Trommel einfach in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg. Seine Leute folgten ihm.

Abgesehen von Ali und Ike blieben nur sieben Leute zurück.

»Welchen Weg nehmen wir?«

»Links«, sagte Ike.

»Aber Walker ist mit den Booten nach rechts weg«, sagte Ali. »Ich habe ihn noch gesehen.«

»Könnte funktionieren«, gestand Ike ein. »Aber es ist falsch herum.«

»Falsch herum?«

»Spürst du das nicht?«, fragte Ike. »Das hier ist ein heiliger Ort. Um heilige Orte geht man immer links herum. Berge. Tempel. Seen. So wird es eben gemacht. Im Uhrzeigersinn.«

»Ist das nicht irgend so ein buddhistisches Ding?«, fragte Pia.

»Dante«, sagte Ike. »Hast du das Inferno gelesen? Jedes Mal, wenn sie an eine Weggabelung kommen, biegt die Gruppe nach links ab. Immer nach links. Soviel ich weiß, war Dante kein Buddhist.«

»Das ist das ganze Geheimnis?«, staunte ein stämmiger Geologe. »Haben wir uns die ganzen Monate von einem Gedicht und deinem Aberglauben führen lassen?«

Ike grinste. »Hast du das nicht gewusst?«

Die ersten fünfzehn Tage marschierten sie barfuß. Der Sand war kühl zwischen den Zehen. Sie schwitzten unter ihrem schweren Marschgepäck. Nachts schmerzten ihnen die Oberschenkel. Jetzt forderte die lange Flussfahrt ihren Tribut.

Ike hielt sie ständig in Bewegung, doch eher im gemächlichen Tempo von Nomaden. »Es hat keinen Sinn, sich abzuhetzen«, sagte er. »Wir kommen gut voran.«

Sie lernten das Wasser des urzeitlichen Ozeans besser kennen. Ali tauchte ihre Stirnlampe unter Wasser, doch sie hätte ebenso gut versuchen können, Licht von der Rückseite eines Spiegels hereinfallen zu lassen. Sie schöpfte Wasser mit der hohlen Hand, und es war, als hielte sie die Zeit fest. Das Wasser war uralt.

»Dieses Wasser lebt hier schon seit einer halben Million Jahre«, erklärte ihr Chelsea, die Hydrologin. Es verströmte einen Geruch, als hätte man tief in die Erde gegraben.

Ike ließ ein paar Tropfen auf seine Zunge fallen.

»Schmeckt anders«, kommentierte er. Danach trank er aus dem Meer. Er ließ die anderen selbst entscheiden und wusste, dass sie ihn genau beobachteten, um zu sehen, ob ihm schlecht wurde oder sich sein Urin rot verfärbte.

Am Ende des zweiten Tages tranken alle das Wasser, ohne es vorher zu reinigen.

»Es schmeckt köstlich«, sagte Ali. Eigentlich hatte sie »sinnlich« gemeint, wollte das Wort aber nicht laut aussprechen. Es unterschied sich irgendwie von normalem Wasser, so wie es über die Zunge rann, auch hinsichtlich seiner Sauberkeit. Sie schöpfte sich eine Hand voll ins Gesicht und rieb es über die Wangenknochen. Sie kam zu dem Schluss, dass sich alles nur in ihrem Kopf ab spielte, und dass es etwas mit diesem Ort zu tun haben musste.

Eines Tages sahen sie kleine, schwefelgelbe Blitze hinter dem schwarzen Horizont aufzucken. Ike meinte, es handele sich um Mündungsfeuer, wahrscheinlich weit über hundert Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Meeres. Entweder machte Walker dort Ärger, oder er hatte welchen bekommen.

Das Wasser wies ihnen die Richtung. Seit fast sechs Monaten waren sie ohne Aussicht marschiert, waren in blinden Adern gefangen gewesen. Jetzt hatten sie das Meer. Sie konnten im phosporeszierenden Licht des Wassers bis morgen und sogar bis übermorgen sehen. Es war kein gerader Verlauf, es gab Bögen und Buchten, doch endlich einmal konnten sie wieder so weit sehen, wie es ihre Augen zuließen, eine willkommene Abwechslung zu dem schier endlosen Labyrinth klaustrophobischer Tunnel.

Obwohl sie die Rationen halbiert hatten, litten sie keinen Hunger. Außerdem war immer genug Wasser da, um sie zu erfrischen. Mehrmals am Tag spülten sie ihren Schweiß ab. Sie banden Fäden an ihre Plastikbecher und zogen sich so eine Erfrischung aus dem Meer heraus, ohne sich bücken oder den Marsch unterbrechen zu müssen. Alis Haar war länger geworden. Sie befreite es von seinem Band und ließ die saubere Mähne ungebändigt herunterhängen.

Mit Ike als Anführer waren sie mehr als zufrieden. Er trieb sie nicht. Wenn jemand zu erschöpft war, nahm ihm Ike einen Teil seines Gepäcks ab. Einmal, als Ike erneut zu einem kleinen Erkundungsgang in eine Seitenschlucht losgezogen war, versuchte jemand, seine Last anzuheben. Sie ließ sich nicht einmal bewegen.

»Was hat er bloß da drin?«, fragte Chelsea. Natürlich traute sich niemand nachzusehen, denn das hätte bedeutet, das Schicksal herauszufordern.

Wenn sie nachts das letzte Licht ausmachten, schimmerte der Strand mit einer Phosphoreszenz aus der frühen Kreidezeit. Ali sah stundenlang zu, wie sich der Sand und das tintige Meer miteinander vermählten und dabei die Dunkelheit zurückdrängten. In letzter Zeit legte sie sich immer auf den Rücken und stellte sich beim Beten die Sterne vor. Alles, nur nicht schlafen. Seit Walker das Massaker angerichtet hatte, war für Ali der Schlaf gleichbedeutend mit schlimmen Träumen. Frauen ohne Augen verfolgten sie.

Einmal weckte sie Ike aus einem Albtraum.

»Ali?«, sagte er.

Sand klebte an ihrer verschwitzten Haut. Sie atmete schwer und klammerte sich an seine Hand.

»Ist schon gut«, keuchte sie.

»Es ist nicht so einfach«, murmelte er, »mit dir.«

Bleib, hätte sie beinahe gesagt. Aber was dann? Was sollte sie dann mit ihm anfangen?

»Schlaf jetzt«, sagte Ike. »Du solltest dir nicht alles so zu Herzen nehmen.«

Noch eine Woche verging. Sie wurden langsamer. Nachts knurrten ihre Mägen.

»Wie lange noch?«, fragten sie Ike.

»Wir liegen gut im Rennen«, munterte er sie auf.

»Wir haben Hunger.«

Ike musterte sie von oben bis unten. »So schlimm ist es noch nicht«, sagte er kryptisch. Wie groß musste ihr Hunger denn noch werden?, fragte sich Ali. Und was würde er dann vorschlagen?

»Wo ist das vierte Proviantlager? Wir müssen doch schon ganz in der Nähe sein!«

Alle wussten, dass die nächsten Zylinder in frühestens sechs Tagen heruntergelassen würden. Was sie jedoch nicht davon abhielt, hoffnungsvoll nach Signalen zu lauschen. Jeder von ihnen hatte ein winziges Peilgerät in der Helios-Armbanduhr. Bei der Suche nach dem Signal verbrauchten zuerst Pia, dann Chelsea ihre Uhrenbatterien. Keiner wollte darüber reden, was passierte, wenn Walker und seine Piraten das Proviantlager vor ihnen erreichten.

Die sechs Tage vergingen, und sie hatten noch immer nichts gefunden. Sie schafften jetzt nur noch wenige Kilometer pro Tag. Ike übernahm immer mehr von ihrem Gepäck. Ali schleppte sich gerade noch mit acht Kilo auf dem Rücken dahin.

Ike empfahl, dass sie sich ihre Rationen selbst einteilten. »Teilt euch ein Päckchen Proteinriegel mit zwei oder drei Leuten«, schlug er vor. »Oder esst über eine Periode von zwei Tagen nicht mehr als eins.« Aber er nahm ihnen nie das Essen weg oder rationalisierte es für sie.

Ihn selbst sahen sie nie essen.

»Wovon lebt der Kerl bloß?«, wollte Chelsea von Ali wissen.

Seit dreiundzwanzig Tagen führte Gitner seine Ausgesetzten durch ein steinernes Labyrinth. In der zweiten Woche hatten sie den Fluss aus den Augen verloren. Gitner machte Alis Tageskarten dafür verantwortlich. Er riss die Papierrollen aus der Ledertrommel und schleuderte sie auf den Boden. »So ein Mist!«, schrie er. »Das ist die reinste Sciencefiction!«

Nachdem der Fluss verschwunden war, hatten sie keine Verwendung mehr für ihre Wasserausrüstung. Sie ließen ihre Rettungsanzüge als schwabbeligen Neoprenhaufen zurück.

Gegen Ende der dritten Woche fielen einige Leute zurück und blieben verschwunden. Ein Salzbogen, den sie als Brücke benutzten, brach zusammen und riss fünf weitere in die Tiefe. Beide Ärzte der Expedition erlitten komplizierte Beinbrüche. Auf Gitners Veranlassung wurden sie zurückgelassen. Heile dich selbst, Arzt! Es dauerte zwei volle Tage, bis ihr flehendes Rufen in den Tunneln hinter ihnen verhallt war.

Bei ständig schwindender Teilnehmerzahl stützte sich Gitner auf drei Dinge: sein Gewehr, seine Pistole und den Gruppenvorrat an Amphetaminen. Der Schlaf war ihr Feind. Gitner glaubte immer noch daran, dass sie das dritte Proviantlager finden und die Verbindung nach oben reparieren könnten. Die Lebensmittel gingen zur Neige. Kurz darauf wurden zwei Frauen aus der Gruppe erschlagen aufgefunden. In beiden Fällen war ein Stein benutzt und anschließend das Marschgepäck der Opfer geplündert worden.

An einer Tunnelgabelung setzte Gitner seine Marschrichtung gegen den Widerstand der Gruppe durch. Er führte sie direkt in ein als Schwammlabyrinth bekanntes geologisches Gebilde. Zuerst dachten sie sich nicht viel dabei. Der poröse Irrgarten bestand aus Hohlräumen, miteinander verbundenen Kammern und Gesteinsblasen, die sich in alle Richtungen erstreckten. Es war so, als kletterte man durch einen gigantischen, erstarrten Schwamm.

»Jetzt haben wir eine Spur«, behauptete Gitner. »Offensichtlich hat sich eine gasartige Lösung aus dem Inneren nach oben gefressen. Dadurch können wir ebenfalls rascher hinaufsteigen.«

Die Verbliebenen seilten sich hinauf und bewegten sich jetzt hauptsächlich in vertikaler Richtung durch die engen Röhren. Löcher verengten sich und klafften dann gähnend ins Nichts. Immer wieder musste das Gepäck durch Spalten und Zwischenräume hinauf- und hindurchgereicht werden. All das kostete viel Zeit.

»Wir müssen zurückgehen«, knurrte jemand zu Gitner hinauf. Gitner band sich vom Seil los, damit niemand ihn zurückziehen konnte, und kletterte einfach weiter. Auch die anderen lösten sich vom Seil, und bald waren wieder einige verschwunden, was Gitner nur mit dem Satz »Allmählich erreichen wir unsere optimale Kampfgruppenstärke« kommentierte. In der Nacht hörten sie die Stimmen der Verlorenen, die versuchten, die Gruppe ausfindig zu machen. Gitner warf lediglich mehr Tabletten ein und ließ das Licht brennen.

Schließlich waren nur noch Gitner und ein anderer Mann übrig.

»Du hast alles vermasselt, Boss«, krächzte er.

Gitner schoss ihm in den Kopf. Er lauschte, wie der Körper tiefer und tiefer polterte, dann drehte er sich um und stieg weiter, überzeugt davon, dass ihn die Schwammwucherungen aus der Unterwelt wieder zurück zur Sonne bringen würden. Irgendwo unterwegs hängte er sein Gewehr an einen Vorsprung. Ein Stück weiter ließ er die Pistole zurück.

Am 15. November um 4.40 Uhr hörte der Schwamm auf. Gitner hatte eine feste Gesteinsdecke erreicht. Er zog seinen Rucksack nach vorne und setzte vorsichtig das Funkgerät zusammen. Die Batterie war so gut wie verbraucht. Mit großer Sorgfalt befestigte er die Antennendrähte an mehreren Schwammgebilden, setzte sich auf einen Marmorvorsprung, ordnete seine Gedanken und räusperte sich. Dann schaltete er das Funkgerät ein.

»Mayday, Mayday«, sagte er, und ein unbestimmtes Déjà-vu-Gefühl beschlich ihn. »Hier ist Professor Gitner von der University of Pennsylvania, Mitglied der subpazifischen Helios-Expedition. Niemand von meiner Gruppe ist mehr am Leben. Ich bin als Einziger übrig und brauche Hilfe. Ich wiederhole: Bitte schicken Sie Hilfe.«

Dann war die Batterie alle. Er legte den Apparat zur Seite, nahm seinen Hammer in die Hand und fing an, an der Decke zu kratzen. Eine Erinnerung, die keine genaue Gestalt annehmen wollte, geisterte in seinem Kopf herum. Er hämmerte immer entschlossener drauflos.

Mitten im Ausholen hielt er inne und senkte den Hammer. Vor fünf Monaten hatte er seiner eigenen Stimme zugehört, die genau den Notruf formuliert hatte, den er soeben ausgesendet hatte. Er hatte einen Bogen zu seinem eigenen Anfang geschlagen.

Für einige Leute hätte das neue Hoffnung bedeutet.

Für Gitner bedeutete es das Ende.



Ich sitze an die Klippe gelehnt,

und die Jahre ziehen dahin,

bis das Gras zwischen meinen Füßen wächst

und der rote Staub meinen Kopf bedeckt.

Und die Menschen der Welt,

die mich für tot halten,

suchen mich auf mit ihren Opfergaben,

die sie neben meinen Leichnam legen.


HAN SHAN,

Gedichte vom Kalten Berg (ca. 640 n. Chr.)

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