UNTER DEM SCHNITTPUNKT VON JAVAGRABEN, PALAUGRABEN UND PHILIPPINENGRABEN
Ike stieg in die urzeitliche Stadt hinab und führte seine Tochter an einem Seil mit sich. Die Stadt erstreckte sich in dem organischen Zwielicht vor ihm, ein Puzzle aus Überresten geschmolzener Architektur und augenloser Fenster. Auf dem Boden des riesigen Kraters angelangt, schlang Ike sich Shoats Laptop über die Schulter und knickte die Leuchtkerze, die Shoat ihm mitgegeben hatte. Sofort glühte der Stab grün auf. Selbst ohne Zielfernrohr konnte Shoat jetzt seinen Weg durch die Stadt verfolgen.
Auf dem ersten Kilometer stellte sich ihm niemand in den Weg, nur hier und da krabbelten kleinere Tiere über den Fließstein. Bei jedem Schritt versuchte Ike sich eine Alternative zu dem sich jetzt anbahnenden Szenario zu überlegen. Shoats Spinnennetz schien lückenlos geknüpft.
Ike spürte förmlich das elektronische Zielfernrohr, das auf seinen Hinterkopf gerichtet war. Er konnte versuchen, der Kugel zu entkommen - oder sie eben abkriegen. Aber Shoat hatte sein Ziel deutlich genug verkündet: zuerst Ali. Ike ging weiter durch die versteinerte Stadt.
Die Nachricht, dass ein Mensch die Stadt unbefugt betreten hatte, eilte ihm voraus. Im Zwielicht der grünen Kerze wirkten die Gestalten, die sich normalerweise als Silhouetten vor dem blassen Schimmer des Gesteins abgezeichnet hätten, wie lauernde Schatten. Der Neonschein der Kerze machte seine Nachtsicht zunichte. Andererseits hatte er seine Fähigkeit, sich im Dunkeln zu bewegen, schon seit Anbeginn der Expedition sträflich vernachlässigt. Er hatte sogar die Nahrung der Menschen zu sich genommen. Es war unmöglich, seine Herkunft zu verschleiern.
Er roch, dass sich rings um ihn herum viele Hadal drängten. Ein Stein traf ihn am Oberarm, nicht fest, nur um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Geflügelte Tiere strichen dicht über ihn hinweg. Ike behielt seinen gleichmäßigen Schritt bei.
Die ausgetretenen Treppen der Stadt führten ihn immer höher. Ike näherte sich jener Erhebung im Zentrum, die er durch das Fernglas bereits gesehen hatte. Die Gebäude ringsum waren mit Flüchtlingen überfüllt. Sie lagen auf dem nackten Boden, krank und hungrig.
In all seinen Jahren der Gefangenschaft hatte Ike nicht einmal einen Bruchteil der hier versammelten hadalischen Varianten gesehen. Einige Arten hatten Flossen an Stelle von Armen, andere wiederum Füße, die Händen glichen. Es gab Köpfe, die durch Abbinden abgeflacht waren, und mutationsbedingte leere Augenhöhlen. Die Vielfalt der Körperverzierungen und Kleidungsstücke war atemberaubend. Einige gingen nackt, andere trugen Rüstungen oder Kettenhemden. Er ging an Eunuchen vorbei, die ihre Beschneidung stolz zur Schau stellten, an Kriegern mit Perlen im Haar und Skalps an den Hörnern, an Frauen, die absichtlich klein oder fett gezüchtet worden waren.
Ike durchwanderte dieses Panoptikum mit ungerührtem Gesichtsausdruck. Er stieg zur Bergspitze hinauf, und die Hadal-Meute schloss sich immer enger um ihn. Hier und da wölbten sich abgenagte Rippen über ausgeweideten Kadavern. Er wusste, dass in Notzeiten das menschliche Vieh zuerst geschlachtet wurde.
Das Mädchen ging hinter ihm und versuchte, Schritt zu halten. Seine Tochter war sein Passierschein. Niemand stellte sich ihm mehr in den Weg. Vom Klippenrand aus hatte Ike gesehen, dass dieser Krater keine Sackgasse war, dass der Höllenschlund sich weiter hinten noch tiefer in den Abgrund bohrte. Trotzdem schien sich das gesamte Volk hier versammelt zu haben. Keiner von ihnen machte Anstalten, noch tiefer in die Erde vorzudringen. Genau das machte Ike neugierig darauf, was sich noch alles in den finsteren Abgründen verbergen mochte. Im nächsten Moment stimmte ihn seine Neugier traurig, denn es war unwahrscheinlich, dass er die nächsten Stunden überleben und noch irgendwelche Erkundungstouren unternehmen würde.
Sie gingen weiter in einem Halbkreis um den Hügel herum. Die Ruinen auf der abgeflachten Spitze bedeckten eine Fläche von mehreren Hektar. Überall auf den amorphen Steinfalten lagen oder saßen Hadal, doch eigenartigerweise hatten sie das Gebäude selbst nicht besetzt. Sie machten keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten und schienen in aller Ruhe abzuwarten.
Die Fassade des Hauptgebäudes war auf einer Seite eingestürzt. Ike und das Mädchen kletterten über den Schutt in das obere Stockwerk der Ruine, das Ike bereits durch das Fernglas gesehen hatte. Das Dach war heruntergebrochen oder abgedeckt worden, wodurch sich Shoat und seinem Zielfernrohr eine perfekte Bühne darbot. Die Galerie war geräumiger, als Ike erwartet hatte. Erst jetzt sah er, dass es sich um eine Art Bibliothek voller Schränke und Regale handelte.
Ike blieb in der Mitte des Raums stehen. Hier hatte er Ali lesen gesehen. Sie war nicht mehr da. Der Boden war leicht geneigt, wie bei einem sinkenden Schiff. An diesem Ort, unter dem Gegenstück eines Himmelsgewölbes, fühlte er sich wenigstens nicht beengt. Wenn er schon die Wahl hatte, so wollte er nicht in irgendeinem engen Schacht sterben. Dann lieber im Freien. Außerdem musste er der Anweisung nach in Sichtkontakt zu Shoat bleiben.
Er stellte den Computer auf eine abgebrochene Stele und klappte den Deckel auf. Shoats Gesicht leuchtete wie ein verkleinerter Zauberer von Oz auf. »Worauf warten die denn?«, fragte seine Stimme aus dem Lautsprecher. Das wilde Mädchen wich erschrecken zurück. Einige Hadal, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, verzogen sich in die Dunkelheit und stießen heulende Alarmrufe aus.
»Hier müssen wir nach den Spielregeln der Hadal spielen«, antwortete Ike.
Zehn endlose Minuten vergingen. Dann trat Ali aus dem unübersichtlichen Gebäudeinneren zu ihm heraus. Ein paar Meter vor ihm blieb sie stehen. Tränen rannen über ihr Gesicht. »Ike.« Sie hatte um ihn getrauert. Und jetzt trauerte sie noch einmal um ihn.
»Ich dachte, du seist tot. Ich habe für dich gebetet. Und dann habe ich darum gebetet, dass du mich, wenn du doch noch lebst, auf keinen Fall suchen kommst.«
»Den Schluss muss ich irgendwie nicht mitgekriegt haben«, lächelte Ike. »Ali, ist mit dir alles in Ordnung?« »Sie haben mich gut behandelt, jedenfalls im Vergleich zu Walkers Leuten. Ehrlich gesagt, inzwischen glaube ich sogar, es könnte hier einen Platz für mich geben.«
»Sag so was nicht!«, fuhr Ike sie an. Die Hadal hatten also bereits angefangen, sie zu verführen. Es war der verführerische Zauber einer Märchenwelt, der verlockende Gedanke, keine Vergangenheit mehr zu haben. Man begeisterte sich für einen Ort wie Schwarzafrika, Paris oder Katmandu, und schon besaß man kein Heimatland mehr, man war einfach nur noch ein Bürger der Zeit. Das hatte er hier unten gelernt. Unter den gefangenen Menschen hatte es schon immer Sklaven gegeben, lebende Tote. Und es gab die anderen, nur sehr wenige, wie ihn -oder Isaak -, die ihre Seele an diesen Ort verloren hatten.
»Aber ich bin schon so dicht dran am Wort. Am ersten Wort. Ich spüre es bereits, es ist hier irgendwo, Ike.«
Ihrer aller Leben stand auf dem Spiel. Shoats Sturm würde bald losbrechen, und sie erzählte ihm etwas von der Ursprache? Das Wort war ihre Verführung. Sie war seine.
»Kommt nicht in Frage«, sagte er.
»Hallo, Ali«, rief Shoat über die Computerverbindung. »Du bist ein sehr böses Mädchen gewesen.«
»Shoat?« Ali schluckte und starrte auf den Bildschirm.
»Bleib ruhig«, sagte Ike.
»Aber ...?«
»Er hat keine Schuld«, sagte Shoats Bild. »Ike ist nur mein Pizzabote.«
»Ike, ich bitte dich«, flüsterte sie. »Was hat er vor? Hör zu, die Hadal lassen mit sich reden. Lass mich mit ihnen verhandeln.«
»Verhandeln? Du redest von ihnen immer noch wie von edlen Wilden.«
»Ich kann ihnen helfen, ich kann ...«
»Ihnen helfen? Sieh dich nur einmal um!«
»Ich habe einen Schatz gefunden.« Ali zeigte auf die Schriftrollen, Glyphen und Texte. »Hier liegt das Geheimnis ihrer Vergangenheit, das Gedächtnis ihres Volkes, es liegt alles hier!«
»Sie können weder lesen noch schreiben. Sie verhungern.«
»Genau deshalb brauchen sie mich«, erwiderte sie. »Wir können ihre Größe zu neuem Leben erwecken. Es braucht Zeit, gewiss, aber ich weiß jetzt, wie wir es anstellen können. Der innere Zusammenhang ist in diesen Schriften bewahrt. Sie sind etwa so weit von der heutigen Sprache der Hadal entfernt wie Altägyptisch vom Englischen. Aber dieser Ort gibt uns den Schlüssel dazu. Mit etwas Geduld können wir eine zwanzigtausend Jahre alte Zivilisation enträtseln.«
»Wir?«, fragte Ike.
»Ja, es gibt hier noch einen zweiten Gefangenen. Ich kannte ihn schon früher. Wir haben das ganze UrsprachenProjekt gemeinsam aus der Taufe gehoben.«
»Du kannst die Hadal nicht mehr zu dem machen, was sie einmal waren. Sie brauchen keine Geschichten aus der glorreichen Vergangenheit.« Ike hob die Nase witternd in die Luft. »Riech nur, Ali. Das ist der Geruch des Todes und der Verwesung. Wir sind hier in der Stadt der Verdammten. Ich weiß nicht, warum sich die Hadal alle hier versammelt haben. Es spielt auch keine Rolle. Sie gehen zu Grunde. Deshalb rauben sie unsere Frauen und Kinder. Deshalb lassen sie dich am Leben. Sie brauchen dich als Zuchtstute. Wir sind Vieh für sie. Sonst nichts.«
»Hallo, ihr zwei Turteltäubchen«, unterbrach sie Shoats quäkende Stimme. »Meine Uhr tickt. Bringen wir die Sache hinter uns, ja?«
Ali wandte sich dem Bildschirm zu. Sie wusste nicht, dass er sie durch sein Zielfernrohr im Visier hatte. »Was wollen Sie, Shoat?«
»Erstens: den Oberboss. Zweitens: mein Eigentum. Fangen wir bei Punkt eins an. Stellt mich zu ihm durch.«
Sie schaute Ike an.
»Er glaubt, die Hadal lassen mit sich handeln. Soll er es doch versuchen. Also, wer führt hier das Kommando, Ali?«
»Derjenige, den ich die ganze Zeit über gesucht habe, Ike. Der, nach dem auch du gesucht hast. Es ist ein und derselbe.«
»Das kann nicht sein.«
»Doch. Er ist es. Ich habe mit ihm geredet. Er kennt dich.« Ali sprach den hadalischen Namen des Gottkönigs in der Schnalzsprache aus.
»Älter-als-Alt«, sagte sie dann auf Englisch.
Es war ein verbotener Name, und das wilde Mädchen warf ihr einen strengen, erstaunten Blick zu.
»Er.« Ali zeigte auf das in Ikes Arm tätowierte Stammeszeichen, und ihn fröstelte. »Satan.«
Sein Blick huschte suchend über die Gestalten, die im Gewölbe hinter Ali lauerten. War das möglich? Hier?
Plötzlich stieß das Mädchen einen leisen Schrei aus. »Batr!«, sagte sie auf Hadal. Das Wort traf Ike ganz unerwartet. Sie hatte »Vater« gesagt. Sein Herz schlug schneller, und er drehte sich zu ihr um. Doch sie witterte in Richtung der lauernden Schatten. Kurz darauf nahm auch Ike den Geruch wahr. Abgesehen von einem kurzen Blick bei der Belagerung der Festung hatte Ike diesen Mann seit seinen Tagen im Höhlensystem von Tibet nicht mehr gesehen.
Isaak hatte sich kaum verändert. Und wenn, dann war er noch eindrucksvoller geworden. Keine Spur mehr von dem ausgemergelten Asketenkörper. Er hatte kräftige Muskeln angesetzt, was bedeutete, dass die Hadal ihm einen höheren Status und damit größere Fleischrationen zugestanden. Kalziumauswüchse bildeten an einer Seite seines bemalten Kopfes ein gewundenes Horn. Er bewegte sich mit der Anmut eines Tai-Chi-Meisters. Von den Silberbändern, die seinen Bizeps umspannten, über den drohenden Dämonenblick bis zu dem antiken Samuraischwert, das er in einer Hand führte, sah Isaak wie geschaffen dafür aus, hier unten zu regieren. Ein wahrhaftiger Herrscher der Unterwelt.
»Unser Abtrünniger«, begrüßte ihn Isaak mit mörderischem Grinsen. »Und er hat Geschenke mitgebracht? Meine Tochter. Und eine Maschine.«
Das Mädchen wollte sich losreißen, doch Ike hielt sie zurück, indem er den Strick noch einmal um seine Hand wand. Isaaks Oberlippe zog sich über die gefeilten Zähne zurück. Er sagte etwas auf Hadal, das zu kompliziert für Ike war.
Ike packte sein Messer und erstickte seine Angst. Das war Alis Satan? Es sah ihm ähnlich, sie davon zu überzeugen, er sei der große Khan. So wie er Ikes eigene Tochter glauben gemacht hatte, er sei ihr Vater.
»Ali«, murmelte Ike, »er ist es nicht.« Er sprach den Namen von Älter-als-Alt nicht aus, nicht einmal geflüstert. Stattdessen berührte er sein Sippenzeichen, um ihr zu signalisieren, wen er meinte.
»Natürlich ist er es.«
»Nein. Er ist nur ein Mensch. Ein Gefangener wie ich.«
»Aber sie gehorchen ihm.«
»Weil er ihrem König gehorcht. Er ist ein Statthalter. Ein Günstling.«
Ali sah ihn verdutzt an. »Aber wer ist dann der König?«
Ike vernahm ein leises Klingeln. Er kannte dieses Geräusch aus der Festung. Das Klirren von Jade gegen Jade. Kriegerrüstungen, zehntausend Jahre alt. Ali drehte sich um und starrte in die Dunkelheit.
Eine schreckliche Kraft fing an, an Ike zu zerren. Er spürte, wie er den Halt verlor und die Tiefe ihn magisch anzog.
»Wir haben dich vermisst«, sprach eine Stimme aus den Ruinen zu ihm.
Als eine vertraute Gestalt aus der Dunkelheit hervortrat, senkte Ike die Hand mit dem Messer. Er ließ den Strick los, an den seine Tochter gefesselt war, und sie huschte von seiner Seite. Sein Bewusstsein füllte sich. Sein Herz wurde leer. Er ergab sich dem Abgrund.
Endlich, dachte Ike und fiel auf die Knie. Er.
Shoat summte in seinem Scharfschützenversteck vor sich hin. Das Gewehr ruhte in einer Rille im Felsgestein vor ihm. Von hier aus hatte er das gesamte Höllenloch im Blick. Sein Auge haftete am Zielfernrohr, durch das er beobachtete, wie die kleinen Gestalten dort unten das abgesprochene Drehbuch aufführten. »Tick-tack«, flüsterte er.
Höchste Zeit, den Deckel auf den Sarg zu nageln und die lange Heimreise anzutreten. Da der Fluchttunnel mit synthetischen Viren blockiert war, brauchte er sich vor keiner dieser Kreaturen mehr zu verstecken, musste vor niemandem mehr davonlaufen. Die größten Gefahren, die ihm drohten, waren Einsamkeit und Langeweile. Immerhin lag ein einsamer Marsch von einem halben Jahr vor ihm, den er mit einem eintönigen Speiseplan aus überall am Weg versteckten Energieriegeln hinter sich bringen musste.
Dass sich die Hadal alle hier an einem Fleck zusammengerottet hatten, war ein wahrer Glücksfall für ihn. Die Forscher bei Helios hatten berechnet, dass es bis zu zehn Jahren dauern könnte, bis die Kontaminierung mit Prion das subpazifische Höhlensystem durchdrungen und die gesamte Nahrungskette inklusive der Hadal selbst vernichtet hatte. Jetzt aber, nachdem er seine letzten fünf Kapseln im Gehäuse des Laptops festgeklebt hatte, konnte Shoat die lästige Bevölkerung hier unten weit vor dem veranschlagten Zeitpunkt ausradieren. Es war das ultimative Trojanische Pferd.
Shoat genoss das Glücksgefühl des Überlebenden. Zugegeben, es war zuweilen ziemlich hart zugegangen, und eigentlich hatte er schon wesentlich weiter sein wollen. Aber insgesamt hatte es die Vorsehung gut mit ihm gemeint. Die Expedition hatte sich selbst aufgelöst, aber erst, nachdem sie ihn weit und tief genug begleitet hatte. Die Söldner waren durchgedreht, aber erst, nachdem er ohnehin kaum noch Verwendung für sie gehabt hatte. Und jetzt hatte Ike das Verderben direkt ins Wohnzimmer des Feindes befördert.
»Himmlische Heerscharen werden dich in den Schlaf singen«, murmelte er und hielt das Auge wieder vor das Zielfernrohr.
Noch vor einer Minute hatte es so ausgesehen, als würde Ike jeden Augenblick türmen. Eigenartigerweise lag er jetzt auf den Knien, buckelte vor einer Gestalt, die aus dem Gebäudeinneren herauskam. Das war vielleicht mal ein Anblick: Crockett in der Pose des Besiegten, die Stirn unterwürfig auf den Fußboden gepresst.
Shoat wünschte, er hätte ein besseres Fernglas zur Hand. Wer mochte das wohl sein? Wie gerne hätte er das Gesicht des Hadal aus der Nähe gesehen. So aber musste er sich mit dem Zielfernrohr zufrieden geben.
Pleased to meet you, summte Shoat. Hope you guessed my name.
»Du bist also zu mir zurückgekehrt«, sprach die Stimme aus der Dunkelheit. »Erhebe dich.«
Ike hob nicht einmal den Kopf.
Wie gelähmt von Ikes unterwürfiger Geste, starrte Ali seinen nackten Rücken an. Das stellte ihr ganzes Weltbild auf den Kopf. War er nicht immer das Urbild des freien Geistes gewesen, der Rebell schlechthin? Und jetzt kniete er im Staub, ohne jeden Widerstand, ohne den geringsten Protest.
Das Oberhaupt der Hadal - ihr Fürst, Mahdi, Khan, König oder wie immer man seinen Namen übersetzen mochte - stand reglos vor dem demütig kauernden Ike. Er trug eine Rüstung aus Jade- und Kristallplatten, darunter das kurzärmelige Kettenhemd eines Kreuzritters.
Das war Satan? Die plötzliche Erkenntnis verursachte Ali Übelkeit. Das war derjenige, den Ike gesucht hatte? Sie hatte geglaubt, er wolle ihn vernichten, aber jetzt betete er ihn an. Ikes Unterwerfung war vollständig, seine Angst und seine Scham waren nicht zu übersehen. Er scheuerte mit der Stirn über den Fließstein.
»Was tust du da?«, murmelte sie, aber die Frage war nicht an Ike gerichtet.
Thomas öffnete feierlich die Arme, und ringsum erhob sich aus der Stadt das Gebrüll der Hadal-Clans. Ali sank fassungslos in die Knie. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, um das Ausmaß seiner Täuschungen zu ergründen. Immer wenn sie gerade eine davon begriffen hatte, schob sich eine noch unglaublichere in den Vordergrund. Er hatte sich als ihr Mitgefangener ausgegeben, er hatte von Anfang an Januarys Gruppe manipuliert, und am verblüffendsten war seine Fähigkeit, als Mensch aufzutreten, obwohl er durch und durch Hadal war.
Trotzdem sah Ali selbst hier, wo sie ihn in eine uralte Kampfausrüstung gekleidet die Huldigungen seines Volkes entgegennehmen sah, immer noch den Jesuiten in ihm, streng, rigoros und human. Es war unmöglich, das Vertrauen und die Kameradschaft, die sie in den vergangenen Wochen aufgebaut hatte, einfach auszubrennen.
»Erhebe dich«, befahl Thomas. Dann fiel sein Blick auf Ali und wurde sanfter. »Bitte, sag ihm doch, er soll aufstehen. Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«
Ali kniete sich neben Ike, lehnte den Kopf an seinen, damit sie einander durch die tosenden Lobpreisungen der Hadal verstehen konnten. Sie ließ die Hand über seine knotigen Schultern streichen, über die Narben an seinem Hals, dort, wo einst der Eisenring in seiner Wirbelsäule gesteckt hatte.
»Steh auf«, wiederholte Thomas.
Ali sah zu ihm auf.
»Er ist nicht dein Feind«, sagte sie. Eine innere Stimme riet ihr, sich für Ike einzusetzen. Nicht nur wegen seiner Unterwerfung und Hilflosigkeit - plötzlich hatte sie Angst um sich selbst. Wenn Thomas tatsächlich der oberste Herrscher war, dann war er es, der es zugelassen hatte, dass Walkers Soldaten tagelang gefoltert wurden. Und auch Ike war Soldat.
»Zu Anfang nicht«, erwiderte Thomas. »Zu Anfang, als wir ihn hereinholten, war er eher so etwas wie ein Waisenkind. Und ich führte ihn zu unserem Volk. Aber was ist der Dank dafür? Er bringt Krieg, Hungersnot und Krankheit über uns. Wir schenkten ihm das Leben und zeigten ihm den Weg. Er aber brachte Soldaten, diente Kolonisten als Kundschafter. Jetzt ist er zu uns heimgekehrt. Aber ist er als verlorener Sohn gekommen? Oder als unser Todfeind? Antworte mir. Erhebe dich.«
Ike stand auf.
Thomas nahm Ikes linke Hand und hob sie an seinen Mund. Ali dachte, er wollte die Hand des Sünders küssen, sich mit ihm versöhnen. Schon stieg ein Hoffnungsschimmer in ihr auf. Stattdessen spreizte er Ikes Finger und schob sich den Zeigefinger in den Mund. Er saugte daran. Der Anblick war so pervers, dass Ali nicht wusste, wo sie hinsehen sollte. Der alte Mann schob den Finger bis zum letzten Glied hinein und legte die Lippen um den untersten Knöchel.
Ike sah mit zusammengepressten Kiefern zu Ali hinüber. Mach die Augen zu, signalisierte er.
Sie behielt sie offen.
Thomas biss zu.
Seine Zähne bohrten sich durch den Knochen.
Ikes Blut sprudelte über Thomas’ Jaderüstung und in Alis Haare. Sie schrie auf. Ikes Körper zitterte. Sonst zeigte er keine Reaktion, nur sein Kopf senkte sich demütig.
Jetzt erkannte Ali, dass der leibhaftige Satan vor ihr stand. Er hatte sie von Anfang an in die Irre geführt. Sie hatte sich selbst verleiten lassen. Durch die systematische Beschäftigung mit ihren Landkarten und ihrer viel versprechenden Interpretation des hadalischen Alphabets, seiner Glyphen und seiner Geschichte, hatte sich Ali zu der Überzeugung verleiten lassen, sie kenne die Bedingungen dieses Ortes. Es war der Glaube der Gelehrten, Worte seien schon die Welt selbst. Doch hier stand die Legende mit den tausend Gesichtern. Erst freundlich, dann zornig, erst gebend, dann nehmend. Erst Mensch, dann Hadal.
Mit immer noch geneigtem Kopf kniete Ike nieder. »Verschone diese Frau«, bat er. Seine Stimme verriet die Schmerzen.
»Wie galant«, erwiderte Thomas eiskalt.
»Sie kann dir von Nutzen sein.«
Ali staunte weniger darüber, dass Ike sie zu retten versuchte, sondern darüber, dass sie gerettet werden musste. Bis vor wenigen Minuten hatte sie sich in Sicherheit geglaubt. Jetzt klebte Ikes Blut in ihrem Haar. Egal wie sehr sie sich auch in ihre wissenschaftliche Arbeit vertiefte, die Grausamkeit dieses Ortes war unerbittlich.
»Allerdings«, sagte Thomas. »In vielerlei Hinsicht.« Er streichelte Ali über das Haar, und seine Rüstung klingelte wie ein kristallener Kronleuchter. Sie zuckte vor der besitzergreifenden Geste zurück.
»Sie wird meine Erinnerung wieder herstellen. Sie wird mir tausend Geschichten erzählen. Durch sie werde ich mich an all die Dinge erinnern, die mir die Zeit gestohlen hat. Wie man die alten Schriften liest, wie man sich ein Imperium erträumt, wie man ein Volk zu wahrer Größe führt. So viel ist meinem Geist entfallen. Wie es ganz am Anfang war. Das Gesicht Gottes. Seine Stimme. Seine Worte.«
»Gott?«, murmelte sie.
»Oder wie du ihn sonst nennen willst. Der shekinah, der vor mir existierte. Die Fleisch gewordene Göttlichkeit. Noch vor Anbeginn der Geschichte. Im hintersten Winkel meiner Erinnerung.«
»Du hast ihn gesehen?«
»Ich bin er. Die Erinnerung an ihn. Ein hässliches Scheusal, so weit ich mich entsinne. Mehr Affe als Moses. Aber ich habe, wie du siehst, sehr viel vergessen. Es ist so, als wollte ich mich an den Augenblick meiner Geburt erinnern. Meine erste Geburt als der, der ich bin.« Seine Stimme wurde so matt wie Staub.
Erste Geburt? Die Stimme Gottes? Ali konnte sich keinen Reim auf diese Worte machen, und mit einem Mal wollte sie es auch nicht mehr. Sie wollte nach Hause. Sie wollte Ike. Doch das Schicksal hatte sie mit diesem Höllenschlund verwoben. Da hatte sie nun ihr ganzes Leben lang gebetet, und jetzt stand sie hier, umzingelt von Ungeheuern.
»Pater Thomas«, sagte sie. Sie hatte keine Angst davor, seinen anderen Namen auszusprechen, aber sie brachte ihn einfach nicht über die Lippen. »Seit wir uns kennen lernten, habe ich Ihre Wünsche stets getreu erfüllt. Ich habe meine eigene Vergangenheit hinter mir gelassen und bin hierher gekommen, um Ihre Vergangenheit wieder herzustellen. Ich werde hier bleiben, wie wir es vereinbart haben. Ich helfe Ihnen dabei, Ihre alte Sprache neu zu erlernen. Daran hat sich nichts geändert.«
»Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann,« erwiderte Thomas. Ali erkannte, dass ihre Treue lediglich eines seiner vielen Besitztümer war. Sie faltete gehorsam die Hände und versuchte, keinen Blick auf seine blutigen Lippen zu werfen. »Sie können sich bis zum Ende meiner Tage auf mich verlassen. Aber im Gegenzug dürfen Sie diesem Mann hier nichts mehr antun.«
»Ist das eine Forderung?«
»Auch er hat seine Verdienste. Ike kann meine Lücken ergänzen. Er kann Sie überall hinführen, wohin ich Sie bringen soll.«
Ikes Kopf hob sich kaum wahrnehmbar.
»Nein«, sagte Thomas. »Du verstehst das nicht. Ike weiß nicht mehr, wer er ist. Begreifst du, wie gefährlich das ist? Er ist ein Tier geworden, das andere für ihre Zwecke einsetzen. Die Armee benutzt ihn, um uns zu töten. Die Multis benutzen ihn dazu, unser Territorium zu besetzen und Mörder herabzuführen, die uns mit Krankheiten verseuchen. Und er verbirgt seine eigene Verderbtheit, indem er von einer Rasse zur anderen wechselt.«
»Seuchen?«, fragte Ali. Thomas hatte das schon einmal erwähnt, und sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte.
»Ihr habt Elend und Verwüstung über mein Volk gebracht. Die Vernichtung folgt euch auf dem Fuße.«
»Welche Seuche?«
Thomas’ Augen blitzten sie an.
»Keine Heucheleien mehr!«, donnerte er.
Ali wich unwillkürlich vor ihm zurück.
»Ganz meiner Meinung«, piepste eine hohe Stimme aus dem Laptop.
Thomas wandte den Kopf, als hörte er eine Fliege summen und warf einen misstrauischen Blick auf den Computer.
»Was soll das?«, zischte er.
»Ein Mann namens Shoat«, sagte Ike. »Er möchte mit dir sprechen.«
»Montgomery Shoat?« Thomas sprach den Namen aus, als würge er einen üblen Geschmack hervor. »Ich kenne Sie.«
»Ich wüsste nicht, woher«, antwortete Shoat. »Aber wir haben ein gemeinsames Anliegen.«
Thomas packte Ike am Arm und wirbelte ihn herum, sodass er mit dem Gesicht zur fernen Klippe stand. »Wo ist dieser Mann? Ist er in der Nähe? Beobachtet er uns?«
»Ah-ah, vorsichtig, Ike. Kein Wort mehr«, ertönte Shoats Stimme. Sein erhobener Zeigefinger drohte ihnen vom Bildschirm.
Thomas stand wie angewurzelt hinter Ike, reglos, bis auf seinen Kopf, den er hin und her drehte und dabei ins Zwielicht hinausspähte. »Warum kommen Sie nicht zu uns, Mr. Shoat?«
»Danke für die Einladung«, sagte Shoats Bild auf dem Schirm. »Für meinen Geschmack bin ich dicht genug dran.«
Die Surrealität des Computerbildschirms in dieser Unterwelt war atemberaubend. Die Moderne sprach zum Althergebrachten. Dann bemerkte Ali, dass Ikes Blick unruhig suchend im Zimmer hin und her huschte.
»Sie werden früh genug hier unten sein, Mr. Shoat«, sagte Thomas zu dem Computer. »Aber gibt es bis dahin etwas, worüber Sie reden möchten?«
»Ein gewisses Stück Ausrüstung, Eigentum von Helios, ist in Ihre Hände gefallen.«
»Was will dieser Narr?«, wollte Thomas von Ike wissen.
»Sein Peilgerät«, antwortete Ike. »Er behauptet, jemand habe es ihm gestohlen.«
»Ohne das Ding bin ich verloren«, sagte Shoat. »Geben Sie es mir zurück, und schon sind Sie mich los.«
»Mehr wollen Sie nicht?«
Shoat überlegte. »Vielleicht einen kleinen Vorsprung?«
Thomas’ Gesicht wurde zornig, aber er behielt seine Stimme im Griff. »Ich weiß, was Sie getan haben, Shoat. Ich weiß, was Prion-9 ist. Sie werden mir zeigen, wo sie es versteckt haben. Jede einzelne Kapsel.«
Ali warf Ike einen Blick zu, doch der war ebenso verdutzt wie sie.
»Gemeinsame Interessen«, dozierte Shoat, »sind die Grundlage jeder Verhandlung. Ich verfüge über Informationen, die Sie haben möchten, und Sie können mir einen sicheren Rückweg garantieren. Quid pro quo.«
»Sie brauchen keine Angst um Ihr Leben zu haben, Mr. Shoat«, behauptete Thomas. »Sie werden noch lange in unserer Gesellschaft leben. Länger, als Sie es sich je erträumen könnten.«
Ali zweifelte nicht daran, dass er Shoat nur hinhielt, um seinen Aufenthaltsort zu entdecken. Auch Isaak neben ihm spähte angestrengt ins Dämmerlicht, um einen Hinweis zu finden, wo sich Shoat verbergen mochte. Das Mädchen stand direkt an seiner Schulter und lenkte flüsternd seine Blicke.
»Mein Peilsender«, sagte Shoat.
»Ich habe erst kürzlich Ihrer Mutter einen Besuch abgestattet«, sagte Thomas, als sei ihm soeben eine kleine Höflichkeit eingefallen.
Isaak hatte unmerklich aus dem Mundwinkel murmelnd mehrere Hadal-Krieger losgeschickt. Ihre dunklen Silhouetten unterschieden sich kaum von den Schatten, in die sie in die Ruinenstadt hinuntereilten.
»Meine Mutter?« Shoat war verwirrt.
»Eva. Vor drei Monaten. Eine elegante Gastgeberin. Wir waren auf ihrem Landsitz. Wir haben uns ausführlich über Sie unterhalten, Montgomery. Sie war sehr bestürzt über das, was Sie hier vorhaben.«
»Das ist unmöglich.«
»Kommen Sie herunter, Monty. Wir haben einiges zu besprechen.«
»Was haben Sie meiner Mutter angetan?«
»Warum machen Sie uns solche Schwierigkeiten? Wir finden Sie ohnehin. Ob in einer Stunde oder in einer Woche, das spielt keine Rolle. Jedenfalls kommen Sie nie wieder von hier weg.«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
Ikes Augen hörten auf zu suchen. Ali sah, dass sie sich eindringlich auf die ihren konzentrierten. Sie atmete tief durch und versuchte, ihre Verwirrung und ihre Angst zu bekämpfen. Dann verankerte sie sich in seinen Augen.
»Quid pro quo?«, fragte Thomas.
»Was haben Sie ihr angetan?«
»Wo soll ich anfangen?«, fragte Thomas gelassen. »Am Anfang? An Ihrem Anfang? Sie kamen mit Hilfe eines Kaiserschnitts zur Welt ...«
»Meine Mutter würde niemals ...«
Thomas’ Stimme wurde schneidend: »Das hat sie auch nicht, Monty.«
»Aber wie ...« Shoats Stimme verebbte.
»Ich habe die Narbe selbst entdeckt«, sagte Thomas. »Und dann habe ich sie geöffnet. Diese Wunde, durch die Sie in die Welt gekrochen kamen.«
Shoat war verstummt.
»Kommen Sie herunter zu uns«, wiederholte Thomas. »Dann verrate ich Ihnen, in welcher Müllkippe ich sie abgeladen habe.«
Shoats Augen füllten den gesamten Bildschirm und wichen dann zurück. Der Schirm wurde schwarz.
Was kommt jetzt, fragte sich Ali.
»Er hat sich davongemacht«, sagte Thomas zu Isaak.
»Bring ihn mir. Lebend.«
Ein friedlicher Ausdruck zuckte über Ikes Gesicht. Er hob den Blick zu den fernen Klippen. Thomas lauerte, direkt hinter ihm. Ali hatte keine Ahnung, wonach Ike suchte. Sie ließ den Blick über die dunklen Felsen wandern - und da war es. Ein winziges Glitzern. Ein flüchtiger Nordstern.
Ike duckte sich weg.
Im gleichen Moment loderte Thomas auf. Die Hadal-Rüstung, das Kettenhemd der Kreuzritter und das goldene Wams schützten ihn nicht. Normalerweise hätte die Kugel seinen Rücken durchschlagen und sich sofort in einen Phosphorschrapnelle versprühenden Feuerball verwandelt. In Thomas jedoch, der sowohl hinten als auch vorne in einer Rüstung steckte, fand sie keinen Ausgang. Die Hitze und die Splitter entluden sich mit voller Wucht in ihm. Der Körper fauchte flammend auf. Seine Wirbelsäule zerbarst. Und trotzdem schien sein Ende unendlich lange zu dauern.
Ali starrte wie gebannt auf das Schauspiel. Flammen sprangen aus der Halskrause von Thomas’ Rüstung, und er atmete tief ein. Das Feuer ergoss sich in seinen Hals. Er atmete aus, und die Flammen schossen aus seinem Mund. Seine Stimmbänder verschmorten. Thomas verstummte. Die Goldnähte des Jadepanzers schmolzen dahin, und die Plättchen fielen leise klirrend zu Boden.
Der Fürst der Unterwelt stand wankend vor ihr. Es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick umstürzen. Aber sein Wille war stark. Seine Augen richteten sich nach oben, als wolle er davonfliegen. Schließlich gaben seine Knie nach. Ali spürte, wie sie jemand von den Beinen riss.
Ike hob sie hoch und rannte auf eine umgestürzte Säule im Halbdunkel zu. Er schleuderte sie hinter die Säule und sprang mit einem Satz hinter ihr her. Shoats vernichtender Feuerzauber fing jetzt erst richtig an. Es hatte den Anschein, als verberge sich dort oben eine ganze Armee. Seine Kugeln schlugen wie Blitze ein, detonierten in Kaskaden gleißenden Lichts und ließen tödliche Splitter durch die Bibliothek schwirren. Er bestrich die Ruine von einer Seite zur anderen, und überall sanken Hadal zu Boden.
Die steinerne Säule bot ihnen Deckung gegen den direkten Beschuss, aber nicht gegen die überall umherspritzenden Querschläger. Ike zog tote Körper heran und legte sie wie Sandsäcke über sich und Ali.
Ali schrie auf, als sie sah, wie wertvolle Handschriften, Dokumente und Schriftrollen durchsiebt wurden und in Flammen aufgingen. Kostbare Glaskugeln, die mit einer längst vergessenen Technik auf der Innenseite beschriftet waren, zerplatzten. Tontafeln, die von Teufeln, Göttern und Städten kündeten, zehnmal älter als der mesopotamische Schöpfungsmythos Enuma Elish, verwandelten sich in Staub. Die Feuersbrunst breitete sich in die weiter innen gelegenen Räume der Bibliothek aus, nährte sich an Reispapier, Papyrus und ausgetrockneten hölzernen Kunstwerken.
Die ganze Stadt schien aufzuheulen. Die Horden flohen den Berg hinab, weg von den Ruinen, obwohl eine Hand voll Märtyrer sich um Thomas scharte, um ihren Herrn vor weiterer Entweihung zu schützen. Mit einem schrillen Schrei sprang Isaak, gefolgt von einigen Kriegern, in die Dunkelheit.
Ali spähte um die Säule. Shoats Mündungsfeuer blitzte immer noch in der Ferne auf. Ein einziger Schuss hätte seine Flucht perfekt vorbereiten können. Stattdessen hatte er sich von seinem Zorn übermannen lassen.
Solange das Chaos in vollem Gange war, machte sich Ike daran, Ali zu verwandeln. Er ging nicht zimperlich vor. Die Flammen, das Blut, die Vernichtung uralter Schriften, uralten Wissens und verlorener Geschichte -das war alles zu viel für sie. Ike riss ihr die Kleider vom Leib und bestrich sie mit der schmierigen Ockerfarbe von den Leichnamen rings um sie her. Mit seinem Messer schnitt er gebräunte Häute und Haarflechten von den Toten. Er richtete Ali nach ihrem Vorbild her, machte ihr Haar mit geronnenem Blut steif und drehte es zu hornartigen Gebilden. Noch vor einer Stunde war sie eine über kostbare Texte gebeugte Wissenschaftlerin gewesen, ein Gast des Imperiums. Jetzt war sie von oben bis unten mit Tod besudelt. »Was tust du da?«, schluchzte sie.
Der Beschuss hörte auf. Sie hatten Shoat gefunden.
Ike erhob sich. Er duckte sich vor dem lodernden Scheiterhaufen gesammelter Schriften, und während einige Verwundete vorsichtig über die nadelartigen Schrapnellsplitter staksten, zog er Ali auf die Füße.
»Schnell!« sagte er und drapierte ein paar Stofffetzen um ihren Kopf.
Sie kamen an Thomas vorbei, der verbrannt und blutend, in seine Rüstung eingeschweißt zwischen seinen Getreuen lag. Sein Gesicht war versengt, aber noch vollständig. Unverständlicherweise war er immer noch am Leben. Seine Augen waren offen, sein starrender Blick wanderte umher.
Das Geschoss musste seine Wirbelsäule durchtrennt haben, schloss Ali daraus. Er konnte gerade noch den Kopf bewegen. Halb begraben unter seinen sterbenden Getreuen, erkannte er Ike und Ali, die auf ihn hinabblickten. Sein Mund bewegte sich, um sie zu verfluchen, aber da seine Stimmbänder verbrannt waren, war kein Laut zu hören.
Immer mehr Hadal tauchten auf, um sich um ihren Gottkönig zu scharen. Ike senkte den Kopf und machte sich mit Ali im Schlepptau auf den Weg hinaus. Mit etwas Glück konnten sie in dem allgemeinen Durcheinander entwischen. Dann spürte Ali, wie sie jemand von hinten am Arm packte.
Es war das wilde Mädchen. Ihr Gesicht war blutverschmiert, doch sie hatte die Verkleidung sofort durchschaut und wusste genau, was Ike und Ali vorhatten. Sie musste nur laut losschreien.
Ike zog ein Messer. Das Mädchen blickte auf die schwarze Klinge, und Ali konnte sich denken, was in ihr vorging. Da sie als Hadal erzogen worden war, konnte sie nur eine tödliche Absicht dahinter vermuten.
Stattdessen bot ihr Ike das Messer an. Ali folgte ihrem Blick, der von Ike zu ihr und wieder zurück zuckte. Vielleicht erinnerte sie sich an etwas Freundliches, das sie ihr getan hatten, an einen Akt des Mitleids. Vielleicht sah sie etwas in Ikes Gesicht, das zu ihr gehörte, eine Verbindung zu ihrem eigenen Spiegelbild. Was auch immer in ihrem Kopf vor sich ging, jedenfalls traf sie ihre Entscheidung.
Das Mädchen drehte den Kopf einen Augenblick zur Seite. Als sie wieder hinsah, waren die beiden nicht mehr da.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt.
JONA 2:7