15 Flaschenpost

LITTLE AMERICA, ANTARKTIS

January hatte eine tobende weiße Hölle erwartet, mit Orkanen und Bretterbuden. Aber die Landebahn war trocken, der Luftsack hing schlaff herab. Sie hatte nicht wenige Beziehungen spielen lassen, um sie heute hierherzubringen, war sich jedoch nicht ganz sicher, was sie vorfinden würden. Es braute sich etwas zusammen, das den gesamten Planeten in Mitleidenschaft ziehen konnte.

Das Flugzeug parkte elegant ein. January und Thomas verließen die Globemaster über die Gepäckrampe, vorbei an Gabelstaplern und Gruppen von GIs.

»Sie werden bereits erwartet«, klärte sie eine Eskorte auf.

Sie betraten einen Fahrstuhl. January hoffte nur, dass es sich um einen Raum mit Aussicht in einem oberen Stockwerk handelte. Sie wollte sich diese riesenhafte weiße Ebene und die ewige Sonne ansehen. Stattdessen ging es nach unten. Zehn Stockwerke tiefer öffneten sich die Türen wieder. Der Flur führte zu einem Besprechungsraum, in dem es dunkel und sehr still war. Zuerst dachte sie, der Raum sei leer, doch dann sagte eine Stimme weiter vorne:

»Licht.« Es hörte sich an wie eine Warnung. Als es hell wurde, sah January, dass der Raum fast bis auf den letzten Platz besetzt war. Mit Ungeheuern.

Zuerst hielt sie alle für Hadal, die sich da schützend die Hände vor die Augen hielten. Aber es handelte sich ausschließlich um amerikanische Offiziere. Der Wasserkopf eines Captains vor ihr war auf die Größe und Form eines von Beulen und Furchen bedeckten Football-Helms angeschwollen. January suchte nach dem Fachausdruck ... Paget-Krankheit. Sie bewirkte die Auflösung und unkontrollierte Wucherung von Knochengewebe. Die Schädelhöhle wurde dabei nicht in Mitleidenschaft gezogen, auch Bewegung und Koordination blieben davon unbehelligt. Die Missbildungen hingegen waren drastisch. Sie sah sich automatisch nach Branch um, doch dieses eine Mal stach er nicht sogleich aus der Menge der Versammelten heraus.

»Ein herzliches Willkommen unseren hochverehrten Gästen, Senatorin January und Pater Thomas.« Auf dem Podium stand General Sandwell. Er war January als Mann mit außergewöhnlichem Potential und als Intrigant bekannt. Sein Ruf als Kommandeur im Feld war nicht der beste. Und jetzt hatte er seine Leute mit dieser Begrüßung vor der Politikerin und dem Priester in ihrer Mitte gewarnt. »Wir wollten gerade anfangen.«

Das Licht ging wieder aus. Die Erleichterung war hörbar, als die Männer es sich wieder in ihren Sesseln bequem machten. Januarys Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. An einer Wand leuchtete ein wasserblauer Videoschirm, auf dem mehrere Landkarten sichtbar wurden. »Um es noch einmal zusammenzufassen«, sagte Sandwell, »es braut sich in unserem WestPac-Sektor, genauer gesagt am Grenzposten 1492, eine kritische Situation zusammen. Die hier Anwesenden sind Kommandeure subpazifischer Basislager, und sie sind hier zusammengekommen, um die neuesten Informationen sowie meine diesbezüglichen Befehle entgegenzunehmen.«

January wusste, dass er das eigens für sie betonte. Sie ärgerte sich nicht darüber. Allein die Tatsache, dass sie und Thomas sich in diesem Raum aufhalten durften, war Ausdruck ihrer eigenen weit reichenden Macht.

»Nachdem eine unserer Patrouillen als vermisst gemeldet wurde, gingen wir zunächst von einem Angriff aus. Wir schickten sofort Verstärkung los. Auch die Verstärkung kehrte nicht zurück. Erst dann erreichte uns die letzte Nachricht der vermissten Patrouille.«

January wurde von Reue ergriffen. Ali war irgendwo dort draußen, viel weiter unten als die vermisste Patrouille. Konzentriere dich, ermahnte sie sich, nicht den roten Faden verlieren!

»Wir nennen so etwas Flaschenpost«, erklärte Sandwell. »Ein Mitglied der Patrouille, normalerweise der Funker, hat eine Thermopylen-Box dabei. Sie sammelt pausenlos Videobilder und digitalisiert sie. Im Notfall überträgt sie ihre Daten auch automatisch, wobei die Information in den geologischen Raum geworfen wird. Das Problem besteht darin, dass verschiedene unterirdische Phänomene unsere Frequenzen in unterschiedlichem Ausmaß retardieren. In diesem Fall prallte die Information am äußeren Mantel ab und kam erst viel später durch mehrfach gefalteten Basalt bei uns oben an. Kurz gesagt, die Übermittlung blieb fünf Wochen lang im Gestein stecken. In diesem Zeitraum haben wir drei weitere Trupps zusammengestellt und losgeschickt. Und verloren. Inzwischen wissen wir, dass es kein feindlicher Angriff gewesen ist. Der Feind, mit dem wir es hier zu tun haben, kommt von innen. Es ist einer von uns. Bitte das ClipGal-Video.«

»Letzte Meldung - Grüner Falke«, kündigte ein Titel an. Aus der Dunkelheit des Bildschirms lösten sich einzelne Wärmeflecken. Sieben Mann. Sie sahen geisterhaft aus.

»Da hätten wir sie«, sagte Sandwell. »SEALS, alle von UDT Three, WestPac. Ein ganz normaler Routinegang. Ich spule die nächsten zweihundert Meter vor. Was uns interessiert, kommt erst danach.«

Sandwell spulte, und der Zug Soldaten schien durch Lichtgitter vorwärtszurasen. In jeder Zone flammten neue Scheinwerfer auf, und der Bereich dahinter wurde wieder dunkel. Es war wie ein ausgedehnter Zebrastreifen. Die sorgfältig installierte Kombination aus Licht und anderen elektromagnetischen Wellen blendete und tötete Lebensformen, die in der Dunkelheit ihr Dasein fristeten. Nachdem der Subplanet befriedet war, wurden Kernpunkte wie der gezeigte mit Anordnungen von Scheinwerfern, Infrarot-, Ultraviolett- und anderen Photontransmittern ausgerüstet, dazu kamen sensorgeführte Laser, um »den Geist in der Flasche zu lassen«. Jetzt wurden erste Anzeichen für die Anwesenheit des Geistes sichtbar. Knochen und Kadaver lagen auf dem in tödlich grelles Licht getauchten Weg. Sandwell fuhr wieder auf normale Geschwindigkeit herunter.

Als die Patrouille sich dem Ende des Tunnels näherte, wurde deutlich, dass jemand versucht hatte, die dort installierte Scheinwerferanlage zu sabotieren. Einzelne Scheinwerfer waren zerbrochen, andere mit primitiven Werkzeugen blockiert oder mit Steinen ummauert. Die SEALS blieben stehen. Direkt vor ihnen, dort, wo die Mündung des Tunnels pechschwarz gähnte, lag die unbekannte Wildnis.

January schluckte ihre Anspannung herunter. Jeden Augenblick würde etwas Schreckliches passieren. Sandwell spulte wieder vorwärts. Mit hastigen Bewegungen entledigten sich die Soldaten ihres Marschgepäcks und begannen mit den Instandsetzungsarbeiten: Teile wurden ersetzt, Glühbirnen in Wände und Decken geschraubt, Geräte wurden geschmiert und Laser neu eingestellt. Die Bildschirmuhr durchraste sieben Minuten.

»Jetzt die Stelle, an der sie es entdeckten«, sagte Sandwell. Das Video wurde wieder langsamer. Eine Gruppe SEALS stand um einen Felsen herum. Die Soldaten diskutierten offensichtlich über etwas Merkwürdiges. Der Funker ging näher heran, und seine Minikamera zeigte einen kleinen Zylinder, etwa so lang wie ein kleiner Finger, der in einer Felsspalte steckte.

»Da ist es«, kommentierte Sandwell.

Auf der Tonspur waren weder Stimmen noch andere Geräusche zu hören. Einer der SEALS streckte die Hand nach dem Zylinder aus. Ein Zweiter versuchte, ihn davon abzuhalten. Plötzlich fiel ein Mann nach hinten um. Der Rest sank einfach zu Boden. Die Minikamera wirbelte wie wild hin und her und kam dann zur Ruhe, zeigte aus seitlicher Ansicht einen Stiefel. Der Stiefel zuckte nur noch ein einziges Mal.

»Wir haben es gestoppt«, sagte Sandwell. »Es dauerte weniger als zwei Sekunden, dann waren die sieben Mann tot. Natürlich trat es hier bei seinem Austritt in konzentrierter Form auf. Aber noch Wochen später und fünf Kilometer entfernt, nachdem es sich im Luftstrom aufgelöst hatte, brauchte es nur wenig länger, um unsere Verfolgungstrupps zu töten. Es tötet auf der Stelle. Mit einer Erfolgsquote von einhundert Prozent.«

Gas, dachte January entsetzt. Oder Bakterien. Aber so schnell wirkend?

Auch die Offiziere wussten offensichtlich Bescheid: CBW, chemisch-biologische Waffen. Genau die Art von Kriegführung, mit der sie nichts zu tun haben wollten. Aber genau das hatten sie soeben gesehen.

»Unmöglich, absolut unmöglich«, sagte ein Offizier. »Die Haddies sind nicht im Entferntesten zu so etwas in der Lage. Die sind doch kaum in der Lage, Feuer zu machen. Sie benutzen vielleicht Waffen, aber sie erfinden sie nicht. Mit Speeren und einfachen Fallen ist ihre Erfindungsgabe am Ende. Sie können mir nicht weismachen, dass sie CBWs herstellen.«

»Seither«, fuhr Sandwell fort, ohne auf ihn einzugehen, »haben wir drei weitere dieser Kapseln gefunden. Ihre Zünder werden durch ein kodiertes Funksignal ausgelöst. Sind sie erst einmal aktiviert, können sie nur durch ein entsprechendes Gegensignal deaktiviert werden. Was passiert, wenn man sich sonst wie daran zu schaffen macht, haben Sie selbst gesehen. Hier eine Videoaufnahme von einem Zylinder, den wir erst vor fünf Tagen entdeckt haben.«

Diesmal steckten die Figuren auf dem Videoschirm in Biochem-Anzügen und bewegten sich mit der Langsamkeit von Astronauten in der Schwerelosigkeit. Die Kamera schwenkte zu einem Riss in der Höhlenwand. Einer der Soldaten im Anzug schob einen glänzenden Stab, den January als Zahnarztspiegel identifizierte, in den Riss. Die nächste Einstellung holte das Bild im Spiegel heran.

»Hier haben wir die Rückseite einer der Kapseln«, sagte Sandwell.

Diesmal waren die Buchstaben vollständig zu lesen, auch wenn sie auf dem Kopf standen. Man sah einen winzigen Strichcode und eine Kennung in englischer Sprache. Sandwell stellte auf Standbild.

»Rechte Seite nach oben«, befahl er. Das Bild drehte sich, SP-9, stand da zu lesen, gefolgt von US-DOD.

»Ist das von uns?«, fragte eine Stimme.

»Das SP bezeichnet ein synthetisches Prion, hergestellt im Labor. Neun ist die entsprechende Generation.«

»Soll das eine gute oder eine schlechte Nachricht sein?«, fragte jemand. »Nicht die Hadal stellen das Gift her, das uns umbringt, sondern wir selbst!«

»Prion-9 verfügt über einen eingebauten Beschleuniger. Bei Hautkontakt entwickelt es fast sofort Kolonien. Der Laborleiter verglich es mit einer Art Hochgeschwindigkeitspest.« Sandwell machte eine kleine Pause. »Prion-9 wurde für den Fall entwickelt, dass die Dinge dort unten außer Kontrolle geraten. Doch dann kam man zu dem Schluss, dass nichts so sehr außer Kontrolle geraten könnte, um seinen Einsatz zu rechtfertigen. Einfacher gesagt: Es ist zu tödlich, um eingesetzt zu werden. Da es reproduktionsfähig ist, besitzen sogar kleine Mengen davon das Potenzial, eine ökologische Nische zu besetzen. In diesem Fall handelt es sich bei der Nische um den gesamten Subplaneten.«

Eine Hand schloss sich wie ein Eisenband um Januarys Arm. Thomas’ Griff verursachte einen Schmerz, der sie aufschreien ließ. Er zog die Hand weg.

»Tut mir Leid«, flüsterte er.

January wusste, dass man eine militärische Besprechung nicht einfach so unterbrechen konnte. Aber sie tat es trotzdem. »Und was geschieht, wenn dieses Prion seine Nische ausgefüllt hat und beschließt, in die nächste überzuspringen? Was passiert dann mit unserer Welt?«

»Eine gute Frage, Frau Senatorin. Doch die schlechte Nachricht kommt nicht ohne eine gute. Prion-9 wurde exklusiv für den Einsatz im Subplaneten entwickelt. Es kann nur in der Dunkelheit leben - und töten. Es stirbt im Sonnenlicht.«

»Mit anderen Worten, es kann seine Nische nicht verlassen. Lautet so die Theorie?« Sie ließ ihre Skepsis im Raum stehen.

»Und noch eins«, ergänzte Sandwell. »Das synthetische Prion wurde an gefangenen Hadal getestet. Wenn sie ihm ausgesetzt sind, sterben sie doppelt so schnell daran wie wir.«

»Ein grandioser Vorteil«, schnaubte jemand verächtlich. »Eine Sekunde.«

Gefangene Hadal? Tests? Davon hatte January noch nie gehört.

»Und schließlich«, fuhr Sandwell fort, »wurden sämtliche Überreste dieser Generation vernichtet.«

»Gibt es noch weitere Generationen?«

»Das ist streng geheim. Prion-9 sollte ohnehin vernichtet werden. Der Befehl dazu traf nur wenige Tage nach dem Diebstahl ein. Es gibt keine Zylinder mehr außer den bereits in den Subplaneten geschmuggelten.«

Aus dem dunklen Raum wurde eine andere Frage laut: »Wie haben die Hadal unser Material in die Hände gekriegt, General?«

»Nicht die Hadal haben das Prion verteilt«, sagte Sandwell langsam. »Dafür haben wir inzwischen Beweise. Es war einer von uns.«

Der Bildschirm ging wieder an. Aus hellgrünen Amöben wurden Zweibeiner. Aber das waren keine Soldaten.

Plötzlich konnte man sehen, wie die Gestalten auf dem Bildschirm freudig losschrien, sich die Brillen von den Gesichtern rissen und sich ganz allgemein wie Zivilisten auf Urlaub benahmen. Ihre Helios-Uniformen waren schmutzig, aber weder zerrissen noch sehr abgewetzt.

»Sieh doch«, flüsterte January Thomas zu.

Dort war Ali. Sie trug einen Rucksack und sah zwar dünn, aber gesund aus. Sie ging an der Wandkamera vorbei, ohne zu wissen, dass sie aufgenommen wurde.

»Die Helios-Expedition«, sagte Sandwell für diejenigen, die nichts davon wussten.

»Wollen Sie damit sagen, dass einer von denen die Zylinder installiert hat?«, fragte jemand.

Wieder korrigierte Sandwell. »Ich wiederhole: Es war einer von uns.« Kurze Pause. »Nicht von denen. Von uns. Einer von Ihren Leuten.«

»Den Halunken dort kenne ich«, meldete sich einer der Kommandeure zu Wort.

In der Bildmitte stand ein schlanker Söldner, der drei anderen Bewaffneten Befehle erteilte. »Er heißt Walker«, sagte der Kommandeur. »Ehemals Air Force. F-16 Pilot, quittierte nach einer Menge Ärger aber freiwillig den Dienst, um in die Geschäftswelt einzusteigen. Dann hörte ich, dass er für Helios Truppen anheuerte. Mit dem haben sie sich einen schönen Haufen Scheiße eingehandelt.«

Sandwell ließ das Band noch eine Minute ohne jeden Kommentar weiterlaufen. Dann sagte er: »Walker hat die Prion-Kapseln nicht installiert.« Er ließ das Bild stehen. »Es war dieser Mann hier.«

Thomas schreckte kaum merklich zusammen. January spürte den Schock des Wiedererkennens und sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm und wühlte in ihrem Gedächtnis. Bei dieser Gestalt handelte es sich um niemanden, den sie kannte.

»Sie irren sich«, stellte ein Soldat aus dem Publikum nüchtern fest. January kannte die Stimme.

»Major Branch?«, sagte Sandwell. »Sind Sie es, Elias?«

Branch erhob sich und verdeckte einen Teil des Bildschirms. Seine Silhouette wirkte gedrungen, verzerrt und urzeitlich. »Ihre Information ist falsch, Sir.«

»Dann erkennen Sie ihn also?«

Das Standbild zeigte ein Gesicht im Dreiviertelprofil, tätowiert, das Haar wie mit einem Messer gestutzt. Wieder spürte January, wie Thomas erneut zusammenzuckte. Das Klacken aufeinander schlagender Zähne, eine leichte Veränderung in der Atmung. Er starrte auf den Schirm.

»Kennen wir diesen Mann?«, flüsterte sie. Thomas schüttelte wieder den Kopf.

»Sie haben einen Fehler gemacht«, wiederholte Branch.

»Schön wär’s«, erwiderte Sandwell. »Er ist durchgedreht, Elias. So sieht es nun mal aus.«

»Nein, Sir.« Branch blieb stur.

»Wir sind selbst schuld daran«, sagte Sandwell. »Wir haben ihn bei uns aufgenommen. Die Army hat ihm Unterschlupf gewährt. Wir dachten, er sei zu uns zurückgekehrt. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass er nie aufgehört hat, sich mit den Hadal, die ihn gefangen genommen hatten, zu identifizieren.«

»Glauben Sie im Ernst, dass er für den Teufel arbeitet?«, spottete Branch.

»Ich sage nur, dass er ein psychologischer Flüchtling zu sein scheint. Er ist zwischen zwei Spezies gefangen und macht Jagd auf beide. Ich sehe, dass er meine Männer tötet und dass er es darüber hinaus auf den gesamten Subplaneten abgesehen hat.«

Jetzt war January zutiefst erschrocken. »Thomas, er ist der, von dem uns Ali in ihrem Brief berichtet hat. Dieser Kundschafter von Helios! Ike Crockett. Er ist den Hadal entkommen. Ali schrieb, sie hoffe, ihn befragen zu können. Wo habe ich sie da nur hineingeritten?«

»Seiner bisherigen Aktivität nach zu urteilen«, fuhr Sandwell fort, »ist Crockett dabei, einen Ring der Verseuchung um den gesamten subpazifischen Äquator zu legen. Mit einem einzigen Signal kann er eine Kettenreaktion auslösen, die jedes Lebewesen im Erdinneren auslöscht, egal ob Mensch, Hadal oder sonst was.«

»Welche Beweise haben Sie dafür?«, hakte Branch beharrlich nach. »Zeigen Sie mir eine Szene oder ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie Ike die CBWs installiert.« January hörte aus den trotzig vorgebrachten Worten auch eine Spur Gram heraus. Branch musste irgendwie mit dem Kerl auf dem Bildschirm in Verbindung stehen.

»Wir verfügen über keine Bilder«, gab Sandwell zu. »Aber wir haben die Spur der gestohlenen Ladung Prion-9 verfolgt. Sie wurde aus unserem Depot für chemische Waffen in West Virginia gestohlen. Der Diebstahl ereignete sich in der gleichen Woche, in der Crockett sich vor einem Kriegsgericht in Washington verantworten musste und stattdessen geflohen ist. Und jetzt wurden vier von diesen Zylindern ausgerechnet in dem Korridor gefunden, durch den er die Helios-Expedition führt.«

»Wenn das Gift hochgeht, ist er selbst mit dran«, hielt Branch dagegen. »Das sieht Ike nicht ähnlich. Er würde sich niemals selbst umbringen. Er ist ein Überlebenskünstler.«

»Genau das ist unser letzter Beweis«, konterte Sandwell.

»Ihr Schützling hat sich selbst immunisiert.«

Schweigen.

»Wir haben mit dem Arzt gesprochen, der den Impfstoff beaufsichtigte«, führte Sandwell weiter aus. »Er erinnerte sich genau an den Zwischenfall, und das aus gutem Grund. Es gibt nur einen Mann, der gegen Prion-9 immunisiert wurde.«

Auf dem Schirm blitzte ein Foto auf. Es zeigte einen medizinischen Entlassungsschein. Sandwell gab ihnen eine Minute, um ihn sich durchzulesen. Man konnte den Namen eines Arztes und eine Adresse im Briefkopf erkennen. Und ganz unten eine schlichte Unterschrift. Sandwell las sie laut vor: »Dwight D. Crockett.«

»Scheiße noch mal«, grunzte einer der Kommandeure.

Branch blieb weiterhin stur in seiner Loyalität. »Ich zweifle Ihren Beweis an.«

»Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, wandte sich Sandwell direkt an ihn.

January entging nicht, dass sich unter den Männern Unruhe breit machte. Erst später erfuhr sie, dass Ike nicht wenige von ihnen ausgebildet, einigen von ihnen sogar das Leben gerettet hatte.

»Es ist unumgänglich, dass wir diesen Verräter aufspüren«, verkündete Sandwell. »Ike hat sich damit zum meistgesuchten Mann der Welt gemacht.«

Jetzt ergriff January das Wort. »Habe ich das richtig verstanden?«, sagte sie. »Der einzige Mensch, der gegen diese Pest immun ist, ist derjenige, der sie einzusetzen droht?«

»Richtig, Frau Senatorin«, nickte Sandwell. »Aber nicht mehr lange. Momentan sind wir dabei, den gesamten Subplaneten innerhalb eines Radius’ von drei Meilen zu evakuieren, inklusive Nazca City. Niemand, der nicht geimpft worden ist, geht wieder zurück. Mit Ihnen, meine Herren, fangen wir an. Nebenan warten mehrere Ärzte auf Sie. Sie, Frau Senatorin, und auch Sie, Pater Thomas, dürfen sich uns gerne anschließen.«

Bevor January ablehnen konnte, sagte Thomas zu. Er warf ihr einen Blick zu und sagte: »Nur für alle Fälle.«

Jetzt war der Schirm mit einer Landkarte bedeckt. »Das Helios-Kartell hat sich dazu bereiterklärt, uns seine Informationen hinsichtlich des geplanten Verlaufs der Expedition zu übermitteln«, erläuterte Sandwell. »In den kommenden Monaten werden wir eng mit ihrer kartografischen Abteilung zusammenarbeiten, um die Forscher zu lokalisieren und zu retten. In der Zwischenzeit gehen wir auf die Jagd. Ich möchte, dass Patrouillen ausgesandt und Ausstiegspunkte überwacht werden. Wir lauern ihm auf. Und wenn wir ihn ausfindig gemacht haben, erschießen wir ihn. Auf der Stelle. Dieser Befehl kommt von ganz oben. Ich wiederhole: auf der Stelle eliminieren. Bevor dieser Abtrünnige uns erledigt.«

Sandwell sah sie direkt an. »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich jeder der hier Anwesenden fragen muss, ob er sich dieser Aufgabe stellen kann.«

Seine Frage galt allein einem Mann. Alle wussten das. Schweigend warteten sie auf Branchs Weigerung, dem Befehl Folge zu leisten. Er sagte nichts.

Der Anruf um 3.30 Uhr weckte Branch auf seiner Pritsche. Er schlief ohnehin nicht viel. Zwei Tage waren vergangen, seit die Kommandeure an ihre Stützpunkte zurückgekehrt waren und sofort mit der Suche nach Ike angefangen hatten. Branch hingegen hatte man zur Kontrollstation im Hauptquartier Südpazifik auf Neuguinea beordert. Die Versetzung war halbwegs als humanitäre Geste getarnt, doch eigentlich ging es darum, ihn weitgehend auszuschalten. Bei der großen Treibjagd brauchten sie zwar Branchs Sachverstand, trauten ihm jedoch nicht zu, dass er Ike selbst töten würde. Er konnte es ihnen nicht verübeln.

»Major Branch«, meldete sich die Stimme am Telefon. »Hier ist Pater Thomas.«

Seit der Lagebesprechung hatte Branch einen Anruf von January erwartet. Seine Verbindung lief über die Senatorin, nicht über ihren jesuitischen Vertrauten. Es hatte ihn sogar überrascht, dass January ihn zu ihrem Treffen in der Antarktis mitgebracht hatte.

»Wie haben Sie mich ausfindig gemacht?«, fragte er.

»January. Ich habe Informationen hinsichtlich Ihres Soldaten Crockett.«

Branch wartete.

»Jemand benutzt unseren Freund für seine Zwecke. Ich komme gerade von dem Arzt zurück, der für die Impfung verantwortlich war.«

Branch lauschte gespannt.

»Ich zeigte ihm ein Foto von Mr. Crockett.«

Branch schraubte den Hörer fast in sein Ohr hinein.

»Ich glaube, wir stimmen darin überein, dass er nicht allzu leicht zu verwechseln ist. Trotzdem behauptete der Arzt, ihn noch nie im Leben gesehen zu haben. Jemand hat seine Unterschrift gefälscht. Jemand hat sich für ihn ausgegeben.«

Branch lockerte seinen Griff ein wenig.

»Dann ist es Walker?« Er hatte ihn von Anfang an im Verdacht gehabt.

»Nein«, erwiderte Thomas. »Ich habe dem Arzt auch ein Foto von Walker gezeigt. Außerdem Fotos von jedem Einzelnen aus seiner Söldnergruppe. Der Arzt war sich völlig sicher: Auch von denen keiner.«

»Wer sonst?«

»Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Ich versuche gerade, Fotos von allen Expeditionsmitgliedern zu bekommen, die ich ihm auch noch vorlegen werde. Helios erweist sich als wenig kooperativ. Genauer gesagt, erklärte mir der Vertreter von Helios, dass es eine solche Expedition offiziell überhaupt nicht gebe.«

Branch setzte sich auf den Rand des Bettgestells. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Welche Absichten verfolgte dieser Priester? Warum spielte er mit einem Militärarzt Detektiv? Warum führte er mitten in der Nacht Telefongespräche, in denen er Ikes Unschuld herausposaunte?

»Ich habe auch keine Fotos«, sagte Branch.

»Mir fiel ein, dass wir dieses Video, das uns Sandwell vorspielte, ebenso gut als Quelle benutzen könnten. Man konnte darin ziemlich viele Gesichter erkennen.«

Also das war es. »Sie möchten, dass ich es Ihnen beschaffe?«

»Vielleicht erkennt der Arzt seinen Mann unter den Teilnehmern.«

»Dann fragen Sie Sandwell.«

»Habe ich bereits. Er ist ebenso wenig entgegenkommend wie Helios. Ehrlich gesagt, vermute ich, dass er noch eine ganz andere Rolle spielt.«

»Mal sehen, was ich tun kann«, sagte Branch. Dieser Theorie wollte er sich nicht anschließen.

»Besteht denn keine Möglichkeit, die Suche nach Crockett abzubrechen oder zumindest zu verzögern?«

»Nein. Inzwischen sind unsere Jagdpatrouillen bereits unterwegs. Sie können nicht zurückgerufen werden.«

»Dann müssen wir rasch reagieren. Schicken Sie das Video ins Büro der Senatorin.«

Nachdem er aufgelegt hatte, blieb Branch noch eine Weile im Halbdunkel sitzen. Er nahm seinen Eigengeruch wahr, den Geruch der plastizierten Haut, den Gestank seiner Zweifel. Er war hier völlig kaltgestellt. Genau das hatten sie beabsichtigt. Er sollte hier schön brav an der Oberfläche abwarten, während sie die Dinge in die Hand nahmen.

Die ClipGal-Videos für den Priester zu organisieren, mochte in gewisser Hinsicht sinnvoll sein. Doch selbst wenn der Arzt mit dem Finger auf den Schuldigen zeigte, war es längst zu spät, Sandwells Entscheidung zurückzunehmen. Die meisten Spähtrupps befanden sich inzwischen jenseits einer direkten Verbindung. Jede Stunde führte sie tiefer in das Gestein.

Branch erhob sich. Kein Zaudern mehr. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Für sich. Für Ike, der nicht einmal ahnen konnte, was sie gegen ihn im Schilde führten.

Branch zog die Uniform aus. Es war, als entledigte er sich der eigenen Haut. Nach dem, was er vorhatte, würde er sie nie wieder anziehen können.

Er betrachtete sich nackt im Spiegel. Ein dunkler Fleck auf dem dunklen Glas. Seine zerstörte Haut glänzte wie ein narbiger Edelstein. Plötzlich tat es ihm Leid, dass er nie eine Frau und auch keine Kinder gehabt hatte. Jetzt wäre es schön, für jemanden einen Brief zurückzulassen, zumindest eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Er zog sich Zivilkleider an und nahm sein Gewehr.

Am nächsten Morgen wollte niemand Branchs unerlaubte Entfernung von der Truppe melden. Irgendwann aber erreichte die Nachricht General Sandwell. Er war außer sich und zögerte nicht, einen neuen Befehl auszugeben: Major Branch sei Teil der Verschwörung Crocketts. »Das sind beides Verräter. Sofort erschießen.«



Das war ein mächtig großer Fluß dort unten.


MARK TWAIN,

Huckleberry Finns Abenteuer


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