HIMALAYA-GEBIRGE, AUTONOME REGION TIBET 1988
Am Anfang war das Wort.
Sie ließen die Lampen ausgeschaltet. Die erschöpften Bergwanderer drängten sich in der dunklen Höhle eng aneinander und betrachteten die merkwürdige Inschrift. Sie musste mit einem Stock hingekritzelt worden sein, einem dünnen, in flüssiges Radium oder eine andere radioaktive Farbe getauchten Stock, denn die fluoreszierenden Piktogramme schienen in den dunklen Nischen und Winkeln zu schweben. Ike überließ die Gruppe dieser willkommenen Ablenkung. Keiner von ihnen schien in der Stimmung zu sein, sich auf das Unwetter zu konzentrieren, das draußen gegen den Berghang antobte.
Jetzt, da die Nacht über sie hereinbrach, Schnee und Wind ihren Pfad verweht hatten und die meuternden YakTreiber mit beinahe ihrer gesamten Ausrüstung und Verpflegung geflohen waren, war Ike froh, überhaupt einen Unterschlupf gefunden zu haben. Den Expeditionsteilnehmern gegenüber tat er immer noch so, als gehöre das alles zum Programm. In Wirklichkeit waren sie so gut wie verschollen. Er hatte noch nie zuvor von diesem abgelegenen Versteck gehört und auch die im Dunkeln leuchtenden Höhlenmalereien waren ihm völlig unbekannt.
»Runen«, flüsterte eine weibliche Stimme entzückt. »Heilige Runen, die ein Wandermönch hier zurückgelassen hat.«
Die fremdartige Kalligrafie glomm mit einem hellvioletten Schimmer in den kalten Eingeweiden der Höhle und erinnerte Ike an die Schwarzlichtposter in seiner alten Studentenbude. Es fehlte nur noch ein Peitschenschlag von Hendrix’ Gitarre und eine süßliche Wolke von hawaiianischem Hasch ... Was auch immer, wenn es nur das grässliche Heulen des Windes ausblenden würde. Outside in the colddistance, a wildcat didgrowl ...
»Das sind keine Runen«, sagte ein Mann. »Das ist Bonpo.« Der Brooklyn-Akzent war nicht zu überhören, es konnte also nur Owen sein. Ike war mit neun Kunden unterwegs, nur zwei davon Männer. Sie waren leicht im Zaum zu halten.
»Bonpo!«, blaffte eine der Frauen zurück. Dieser Hexenzirkel schien großes Vergnügen daran zu finden, Owen und Bernard, den zweiten Mann, immer wieder fertig zu machen. Bislang war Ike verschont geblieben. Sie behandelten ihn wie einen harmlosen Hinterwäldler. Damit konnte er gut leben.
»Aber die Bonpo waren präbuddhistisch!«, erläuterte die Frau.
Fast alle Frauen studierten Buddhismus an irgendeiner New Age-Universität. Solche Details waren ihnen überaus wichtig. Ihr gemeinsames Ziel war der Berg Kailas, ein pyramidenförmiger Riese gleich jenseits der Grenze zu Indien. Besser gesagt: Er war ihr Ziel gewesen. Ike hatte diese Bergwanderung als »Canterbury-Erzählung für Weltenpilger« angekündigt, als kor, eine Art tibetanischen Rundweg um den heiligsten Berg der Welt. Achttausend Dollar pro Kopf, Räucherstäbchen inklusive. Das einzige Problem bestand darin, dass er es fertig gebracht hatte, irgendwann unterwegs den Berg aus den Augen zu verlieren. Sie hatten sich verirrt. Seit Tagesanbruch hatte sich der Himmel von blau zu einem milchigen Grau verfärbt. Die Yak-Treiber hatten sich heimlich, still und leise mit den Packtieren aus dem Staub gemacht. Bislang hatte er den anderen noch nicht offenbart, dass sie sowohl ihre Zelte als auch die Verpflegung vergessen konnten. Erst vor einer Stunde hatten die ersten matschigen Schneeflocken ihre Goretex-Kapuzen geküsst, und Ike hatte diese Höhle als Unterschlupf gewählt. Es war eine gute Wahl. Bis jetzt war er der Einzige, der wusste, dass sie jetzt ein zünftiges Himalaya-Unwetter erleben würden.
Ike spürte, wie jemand an seinem Anorak zupfte. Wahrscheinlich wollte Kora mit ihm unter vier Augen sprechen.
»Wie schlimm ist es?«, flüsterte sie. Je nach Gelegenheit und Bedürfnislage war Kora seine Geliebte, seine rechte Hand im Basislager oder seine Geschäftspartnerin. In letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer einzuschätzen, was für sie an erster Stelle rangierte, das Geschäft mit dem Abenteuer oder die Abenteuer der Geschäftswelt. So oder so - ihre kleine Bergwanderfirma genügte ihr nicht mehr.
Ike sah keinen Sinn darin, die Sache allzu schwarz zu malen.
»Wir haben eine großartige Höhle gefunden«, sagte er.
»Na toll.«
»Zahlenmäßig gesehen sind wir immer noch im schwarzen Bereich.«
»Unser Zeitplan ist gestorben. Wir sind sowieso schon hinterhergehinkt.«
»Das haut schon hin. Wir knapsen eben an Siddhartas Geburtsstätte was ab.« Er ließ seine Stimme möglichst unbesorgt klingen, doch er wusste, dass ihn diesmal sein sechster Sinn im Stich gelassen hatte, und das ärgerte ihn. »Außerdem können sie hinterher prima damit angeben, wenn wir uns ein bisschen verlaufen haben.«
»Sie wollen nicht angeben. Sie wollen ihren Zeitplan einhalten. Du kennst diese Leute nicht. Das sind nicht deine Freunde. Wenn die am Neunzehnten ihren Rückflug mit der Thai Air nicht erwischen, verklagen sie uns.«
»Wir sind hier in den Bergen«, erwiderte Ike. »Sie werden das schon verstehen.« Hier oben war nicht einmal der nächste Atemzug selbstverständlich.
»Nein, Ike. Sie werden es nicht verstehen. Diese Leute haben Jobs. Verpflichtungen. Familien.« Da war es wieder. Kora wollte mehr vom Leben. Sie wollte mehr von ihm.
»Ich tue mein Bestes«, sagte Ike.
Draußen peitschte der Sturm ohne Unterlass gegen den Höhleneingang. Für Anfang Mai war das sehr ungewöhnlich. Eigentlich hätte Ike mehr als genug Zeit gehabt, diesen Haufen hier zum Kailas, um ihn herum und wieder zurückzubringen. Normalerweise reichte die Wucht des Monsuns, dem Schrecken der Bergsteiger, nicht so weit über die Gipfelkette nach Norden. Als ehemaliger Everester hätte Ike es jedoch besser wissen müssen und sich nicht auf Regenschatten oder Statistiken verlassen dürfen. Oder auf sein Glück. Diesmal hatte es sie erwischt. Der Schnee schnitt ihnen bis Ende August den Rückweg ab. Das bedeutete, dass er Plätze auf einem chinesischen Lastwagen kaufen und die Teilnehmer über Lhasa zurücktransportieren lassen musste, alles aus eigener Tasche. Er versuchte, die Kosten im Kopf zu überschlagen, wurde jedoch von einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen seinen Kunden abgelenkt.
»Du weißt ganz genau, was ich mit Bonpo meine«, sagte eine Frau. Selbst nach neunzehn gemeinsam unterwegs verbrachten Tagen brachte Ike ihre spirituellen Spitznamen nicht mit den Namen in ihren Pässen zusammen. Eine Frau, war es Ethel oder Winifred, wollte jetzt lieber Grüne Tara heißen, wie die tibetische Muttergottheit. Eine vorlaute Doris-Day-Kopie behauptete steif und fest, eine gute Freundin des Dalai Lama zu sein. Seit Wochen schon lauschte Ike ihren Hymnen auf das herrliche Leben der Höhlenbewohnerinnen. Na schön, Ladys, dachte er, da habt ihr eure Höhle. Viel Spaß.
Sie waren sich darüber einig, dass sein Name - Dwight David Crockett - genau wie die ihren reine Erfindung sei, und sie ließen sich nicht davon abbringen, dass er einer von ihnen war und ebenfalls in seinen früheren Leben herumstocherte. Einmal, abends am Lagerfeuer in Nordnepal, hatte er Geschichten von Andrew Jackson, dem Flusspiraten auf dem Mississippi und von seinem eigenen, legendären Tod im Alamo erzählt. Es war ein Witz gewesen, doch Kora war die Einzige, die das kapiert hatte.
»Eigentlich müsstest du wissen, dass es in Tibet vor dem fünften Jahrhundert überhaupt keine Schriftsprache gab«, fuhr die Frau fort.
»Keine uns bekannte Schriftsprache«, erwiderte Owen.
»Gleich wirst du behaupten, dass es eine Yeti-Sprache ist.«
So ging es schon seit Tagen. Eigentlich müsste ihnen inzwischen längst die Luft ausgegangen sein. Aber je höher sie stiegen, desto heftiger stritten sie sich.
»Das haben wir jetzt davon, dass wir uns an Zivilisten verhökern«, flüsterte Kora Ike zu. Zivilisten, das war Koras Sammelbegriff für Ökotouristen, pantheistische Scharlatane, gelangweilte Erben, selbst ernannte Spezialisten.
»So schlimm sind sie doch gar nicht«, beschwichtigte er. »Sie suchen einfach nur einen Weg ins Zauberland Oz. Genau wie wir.«
»Zivilisten.«
Ike seufzte. Bei solchen Gelegenheiten stellte er sein selbst auferlegtes Exil in Frage. Es war nicht einfach, außerhalb der Welt zu leben. Auch dieser Weg forderte seinen Tribut. Mal mehr, mal weniger. Er war schon lange nicht mehr der rotbackige junge Bursche, der mit dem Peace Corps hierher gekommen war. Zwar hatte er immer noch die ausgeprägten Wangenknochen, die kräftige Stirn und die struppige Mähne, doch auf einer seiner Touren hatte ihm ein Dermatologe geraten, sich von der Höhensonne fern zu halten, wenn er nicht wollte, dass sich seine Haut bald in Stiefelleder verwandelte. Ike hatte sich noch nie als Geschenk Gottes an die Frauen dieser Welt betrachtet, wollte es aber trotzdem nicht darauf anlegen, seine Trümpfe leichtsinnig zu verspielen. Zwei Backenzähne hatte er bereits dem Zahnärztemangel Nepals geopfert, einen anderen Zahn bei einem Steinschlag auf der Rückseite des Everest eingebüßt. Und vor nicht allzu langer Zeit, in den Tagen von Johnny Walker und filterlosen Camels, hatte er sich gründlich der Selbstzerstörung hingegeben und mit der tödlichen Westwand des Makalu geflirtet. Danach hatte er Knall auf Fall mit dem Rauchen und Trinken aufgehört. Der Makalu wartete immer noch darauf, von ihm besiegt zu werden, auch wenn Ike sich inzwischen manchmal fragte, ob das wirklich nötig war.
Selbstverständlich hatte ihn sein Exil weitaus tiefer als nur kosmetisch oder gesundheitlich verändert. Mit der Zeit kamen Selbstzweifel auf, Gedanken daran, wie es wohl gelaufen wäre, wenn er zu Hause in Jackson geblieben wäre. Ein Job auf einer Bohrinsel?
Als Trucker? Elektriker? Kleine Gaunereien? Schuften auf dem Bau? Vielleicht hätte er sein Geld mit Bergführungen durch die Tetons verdient oder Ausrüstung an Jäger verkauft. Keine Ahnung. Die letzten acht Jahre hatte er in Nepal und Tibet damit verbracht, sich dabei zuzusehen, wie er sich vom Goldjungen des Himalaya in ein vergessenes Überbleibsel des amerikanischen Imperiums verwandelte. Er war innerlich gealtert. Selbst heute gab es Tage, an denen sich Ike wie achtzig fühlte. Dabei wurde er in der kommenden Woche erst einunddreißig.
»Seht euch das mal an!«, rief eine Frau mit lauter Stimme. »Was ist denn das für ein Mandala? Die Linien sind total verworren!«
Ike betrachtete den Kreis, der wie ein leuchtender Mond an der Wand hing, genauer. Mandalas waren Meditationshilfen, Entwürfe für die Paläste der Götter. Normalerweise bestanden sie aus ineinander liegenden Kreisen, die wiederum rechteckige Linien umfingen. Blickte man längere Zeit konzentriert darauf, schien über der flachen Oberfläche des Mandalas vor dem Auge des Betrachters ein dreidimensionales Bild zu entstehen. Dieses hier sah jedoch eher wie durcheinander gequirlte Schlangen aus. Ike schaltete seine Lampe an. Ende der Vorstellung und des Mysteriums, beglückwünschte er sich.
Selbst er war von dem Anblick, der sich ihnen bot, wie gelähmt.
»Mein Gott«, sagte Kora.
Wo eben noch die fluoreszierenden Worte wie durch Zauberkraft in der Luft schwebten, stand jetzt ein aufrecht gegen die Höhlenwand gelehnter Leichnam auf einem Steinsockel. Die Worte waren nicht auf den Stein, sondern auf den toten Körper gemalt. Nur das Mandala war ein Stück weiter rechts auf den Stein gezeichnet.
Mehrere aufge schichtete Steinblöcke bildeten eine primitive Treppe zu dieser Bühne. Anscheinend hatten frühere Besucher katas, lange weiße Gebetsschals, in die Spalten der Felsnische gesteckt. Die katas wehten im Windzug sanft hin und her, wie aufgescheuchte Gespenster.
Die Mumifizierung ließ den Mann mit leicht vorstehenden Zähnen entrückt grinsen, und seine Augen waren zu kreidigen blauen Murmeln verkalkt. Ansonsten hatten ihn die extreme Kälte und die Höhe vorbildlich konserviert. Im Licht von Ikes Stirnlampe waren die Buchstaben blassrot auf den ausgemergelten Gliedern sowie auf Bauch und Brust zu lesen.
Es lag auf der Hand, dass es sich um einen Reisenden handelte. In dieser Region war jeder ein Pilger, Nomade, Salzhändler oder Flüchtling. Nach seinen Narben, dem metallenen Reifen um seinen Hals und dem gebrochenen, nur plump geschienten linken Arm zu schließen, hatte dieser Marco Polo eine Reise jenseits aller Vorstellungskraft hinter sich. Wenn das Fleisch die Erinnerung bewahrt, dann legte sein Körper beredtes Zeugnis einer langen Geschichte von Misshandlung und Sklaverei ab.
Sie standen unter dem Felsvorsprung und starrten auf das Bild des Leidens. Drei Frauen und Owen begannen zu weinen. Ike war der Einzige, der sich näher herantraute. Hier und dort mit dem Lichtstrahl in die Ritzen leuchtend, streckte er die Hand aus und stieß mit seiner Eisaxt gegen ein Schienbein. Es war hart - wie versteinertes Holz.
Unter den vielen Verstümmelungen des Mannes war seine teilweise Kastration die auffälligste. Einer der Hoden war abgerissen - nicht abgeschnitten, nicht einmal abgebissen, denn dazu waren die Ränder der Wunde zu zerfetzt - und die Wunde mit Feuer ausgebrannt. Die Brandwunden fächerten in einem haarlosen Narbenstern von seinen Lenden aus. Ike konnte den abgrundtiefen Sadismus, der dieser Tat zu Grunde lag, kaum fassen. Die empfindlichste Stelle des Mannes, erst verstümmelt und dann mit einer Fackel verarztet.
»Seht nur«, jammerte jemand. »Was haben sie bloß mit seiner Nase angestellt?«
Mitten in dem übel zugerichteten Gesicht steckte ein Ring, wie er noch nie einen gesehen hatte. Das war kein silbernes Body Piercing der Generation X. Der blutverkrustete Ring maß ungefähr drei Zoll im Durchmesser und war weit oben in die Nasenscheidewand getrieben worden, fast schon in den Schädelknochen hinein. Er hing, schwarz wie der Bart des Mannes, bis zur Unterlippe herunter. Durchaus zweckmäßig angebracht, dachte Ike, und groß genug, um ein Stück Vieh daran herumzuführen.
Als er näher heranging, wich sein Ekel einer anderen Empfindung. Der Ring war brutal. Blut, Rauch und Dreck hatten ihn geschwärzt, doch darunter sah Ike den stumpfen Schimmer massiven Goldes.
Als sich Ike zu seiner kleinen Schar umdrehte, blickten ihn zehn Augenpaare unter Kapuzen und Mützenschirmen flehentlich an. Inzwischen hatten alle ihre Lampen angeschaltet. Die Streitereien waren verstummt.
»Warum nur?«, schluchzte eine der Frauen.
Einige der anwesenden Buddhisten waren zum Christentum zurückgekehrt, auf die Knie gesunken und bekreuzigten sich. Owen wankte von einer Seite zur anderen und murmelte das Kaddisch vor sich hin.
Kora kam näher heran.
»Du kommst uns wie gerufen, du Ungeheuer«, kicherte sie. Ike sah sie verdutzt an. Sie redete mit der Leiche.
»Was soll das?«
»Wir sind gerettet. Jetzt kommt bestimmt keiner von denen mehr auf die Idee, uns auf Schadenersatz zu verklagen. Den heiligen Berg können wir getrost vergessen. Das hier ist um Längen besser.«
»Hör schon auf, Kora. Sei nicht so gemein. Schließlich sind sie keine Leichen fressenden Dämonen.«
»Nicht? Sieh dich doch um!«
Tatsächlich wurden hier und dort schon die ersten Kameras gezückt. Ein Blitzlicht flammte auf, dann noch eins. Der erste Schock war blanker Sensationsgier gewichen.
Innerhalb kürzester Zeit blitzte die gesamte Truppe mit ihren 800-Dollar-Autofocuskameras wie wild drauflos. Das leblose Fleisch zuckte in ihren künstlichen Gewittern. Ike bewegte sich aus dem Bild heraus und bedankte sich insgeheim bei seinem kalten Retter. Es war unglaublich. Ausgehungert, halb erfroren und verirrt wie sie waren, hätten sie nicht glücklicher sein können.
Eine der Frauen war die Stufen emporgeklettert und kniete jetzt mit leicht geneigtem Kopf neben dem nackten Toten. Dann drehte sie sich zu den anderen um und sagte: »Er ist einer von uns.«
»Was soll das denn heißen?«
»Einer von uns, einer wie du und ich. Ein Weißer.«
Ein anderer drückte es etwas feiner aus: »Einer aus unserer westlichen Zivilisation?«
»Das ist doch Schwachsinn!«, widersprach eine andere Stimme. »Hier? In diesem Niemandsland?«
Ike wusste, dass sie Recht hatte. Die weiße Haut, die Haare auf Unterarmen und Brust, die blauen Augen, die eindeutig nichtasiatischen Wangenknochen. Doch die Frau zeigte nicht auf die haarigen Arme, die blauen Augen oder die schmalen Wangenknochen. Sie zeigte auf die Hieroglyphen auf seinem Oberschenkel. Ike richtete den Strahl seiner Lampe auf den anderen Schenkel und erstarrte.
Der Text war in englischer Sprache geschrieben. Heutigem Englisch. Er stand lediglich auf dem Kopf.
Jetzt dämmerte es ihm. Der Körper war nicht nach dem Tod bemalt worden. Der Mann hatte sich noch vor seinem Tod selbst beschriftet. Er hatte seinen eigenen Körper als Unterlage benutzt. Er hatte seine Reisenotizen auf das einzige Pergament gekritzelt, das garantiert mit ihm reisen würde. Erst jetzt erkannte Ike, dass die Buchstaben nicht nur einfach aufgemalt, sondern grob eintätowiert waren.
Der Mann hatte an sämtlichen Stellen, die er erreichen konnte, sein Vermächtnis hinterlassen. Einzelne Passagen waren von Abschürfungen und Schmutz unkenntlich gemacht worden, insbesondere unterhalb der Knie und rings um die Knöchel. Den Rest hätte man leicht als zufälliges oder irres Gekritzel abtun können. Wörter, Zahlen und Sätze purzelten wild durcheinander, besonders an den äußeren Bereichen der Oberschenkel, die er offensichtlich für weitere Einträge vorgesehen hatte. Die deutlichste Passage zog sich quer über seinen Unterbauch.
»Dass alle Welt sich in die Nacht verliebt«, las Ike laut vor. »Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt.«
»Dummes Zeug«, blaffte Owen, offensichtlich bis ins Mark erschrocken.
»Bibelzeug«, pflichtete ihm Ike bei.
»Ist es nicht!«, meldete sich Kora. »Das stammt nicht aus der Bibel. Das ist aus Shakespeare. Romeo und Julia.«
Ike spürte den Widerwillen in der Gruppe. Warum sollte sich diese gemarterte Kreatur ausgerechnet die berühmteste Liebesgeschichte der Welt als Nachruf ausgesucht haben? Die Geschichte zweier verfeindeter Sippen. Ein Märchen, in dem die Liebe über die Gewalt obsiegt. Dieser arme Wicht war wohl vor Sauerstoffmangel und Einsamkeit durchgedreht. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in den am höchsten gelegenen Klöstern der Welt von den herrlichsten Erscheinungen berichtet wurde. Hier oben waren Halluzinationen an der Tagesordnung. Sogar der Dalai Lama machte seine Scherze darüber.
»Na schön«, sagte Ike. »Er ist also europäischer Abstammung. Er kannte Shakespeare. Also kann er nicht älter als zwei- oder dreihundert Jahre sein.«
Es wurde das reinste Gesellschaftsspiel. Ihre Angst schlug in morbides Entzücken um. Gerichtsmedizinische Vermutungen als Volkssport.
»Wer dieser Kerl nur sein mag?«, fragte sich eine Frau.
»Ein Sklave vielleicht?«
»Ein entlaufener Gefangener?«
Ike sagte nichts. Er stellte sich von Angesicht zu Angesicht vor das hagere Antlitz und suchte darin nach Hinweisen. Erzähl mir von deiner Reise, dachte er. Verrate mir, wie du geflohen bist. Wer hat dich in Gold geschlagen? Keine Antwort. Die Marmoraugen scherten sich nicht um seine Neugier.
Owen war zu ihnen auf den Vorsprung gestiegen und las von der anderen Schulter: »Raf.«
Tatsächlich wies der linke Deltamuskel eine Tätowierung mit dem Schriftzug RAF unter einem Adler auf. Sie war richtig herum geschrieben und zeugte von professioneller Qualität. Ike fasste den kalten Arm an.
»Royal Air Force«, übersetzte er.
Die Teile des Puzzles setzten sich allmählich zusammen. Sogar der Shakespeare war damit halbwegs erklärt, wenn auch nicht die Auswahl der Verse.
»War das ein Pilot?«, fragte ein Bubikopf aus Paris. Sie schien davon angetan zu sein.
»Pilot, Navigator, Bomberschütze.« Ike zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Wie ein Kryptograph, der versucht, einen geheimen Code zu knacken, beugte sich Ike über die Wörter und Zahlen, mit denen die Haut übersät war. Jeden Zusammenhang zwischen den Zeichen, jede mögliche Spur verfolgte er Zeile für Zeile. Hier und da verpasste er vollständig ausgeführten Gedanken mit seiner Fingerspitze einen Schlusspunkt. Die Bergwanderer wichen ein Stück zurück, damit er sämtliche Zeichen ungestört begutachten konnte. Er schien zu wissen, was er tat.
Ike fing wieder von vorne an und versuchte, die Zeichen von hinten aufzurollen, doch auch das ergab keinen Sinn. Er zog seine topographische Himalaya-Karte hervor, suchte eine geographische Länge und Breite, schnaubte jedoch spöttisch, als er ihren Kreuzungspunkt erkannte.
Das kann nicht sein, dachte er und ließ den Blick über den malträtierten Menschenkörper wandern. Dann blickte er wieder auf die Karte. Oder doch?
»Auch einen Schluck?« Der Geruch frisch gepressten französischen Gourmetkaffees ließ ihn erstaunt aufsehen. Eine Plastiktasse schob sich in sein Gesichtsfeld. Ike schaute in Koras blaue Augen, in denen sich Versöhnung spiegelte. Das wärmte ihn mehr auf als der Kaffee. Er murmelte einen Dank, nahm die Tasse und stellte plötzlich fest, dass er wahnsinnige Kopfschmerzen hatte. Stunden waren vergangen. In den tieferen Regionen der Höhle machten sich Schatten wie nasser Schlamm breit.
Ike sah eine kleine Gruppe, die wie die Neandertaler um einen kleinen Gaskocher hockte, Schnee schmolz und Kaffee braute. Der deutlichste Beweis für dieses Wunder war die Tatsache, dass Owen jetzt tatsächlich seinen Privatvorrat an Kaffee mit ihnen teilte. Eine der Frauen mahlte die Bohnen in einer Plastikmühle, eine andere drückte den Pressfilter herunter, und die dritte streute etwas Zimt auf den Inhalt jeder Tasse. Sie arbeiteten tatsächlich im Team. Zum ersten Mal seit einem Monat konnte sich Ike beinahe vorstellen, sie zu mögen.
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Kora.
»Mit mir?« Es kam ihm merkwürdig vor, dass sich jemand nach seinem Wohlbefinden erkundigte.
Als müsste er sich nicht ohnehin über genügend andere Dinge den Kopf zerbrechen, kam Ike plötzlich der Verdacht, Kora wolle ihn verlassen. Vor ihrer Abreise aus Katmandu hatte sie verkündet, dieses sei ihr letzter Trip für die Firma. Und da die Firma »Himalaya Hochgebirgstouren« nur aus ihr und ihm bestand, würde diese Ankündigung weitere Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Es hätte ihm weniger ausgemacht, wenn sie ihn wegen eines anderen Mannes, eines anderen Landes, eines besseren Einkommens oder höherer Risiken wegen verlassen hätte. Doch ihr Grund war einzig und allein er gewesen. Ike hatte ihr Herz gebrochen, weil er Ike war, voller Träume und jugendlicher Naivität. Einer, der sich auf dem Strom des Lebens nach Herzenslust treiben lässt. Ausgerechnet das, was sie früher am meisten fasziniert hatte, verärgerte sie jetzt: seine Einsam er-Wolf-Hochgebirgsmarotte. Ihrer Meinung nach hatte er keinen Schimmer, wie die Menschen wirklich funktionierten, und vielleicht hatte sie damit nicht ganz Unrecht. Er hatte gehofft, die Tour würde die Kluft zwischen ihnen irgendwie überbrücken, Kora wieder mit dem Zauber infizieren, der auch ihn immer wieder in seinen Bann schlug. Aber in den letzten beiden Jahren war sie dessen überdrüssig geworden. Unwetter und finanzielle Pleiten hatten für sie nichts Magisches mehr an sich.
»Ich habe mir dieses Mandala genauer angeschaut«, sagte sie und zeigte auf den gemalten Kreis mit den gekreuzten Linien. Im Dunkeln hatten die Farben geleuchtet, waren fast lebendig gewesen. Bei Licht wirkte die Zeichnung stumpf. »Ich habe schon Hunderte von Mandalas gesehen, aber aus dem hier werde ich nicht schlau. Diese Striche und Schnörkel sehen wie das reinste Chaos aus. Außerdem scheint es keinen Mittelpunkt zu haben.« Sie sah zu der Mumie auf, dann fiel ihr Blick auf Ikes Notizen. »Was denkst du? Hast du eine Idee?«
Er hatte eine Skizze gezeichnet, auf der sich einzelne Worte und zusammenhängender Text in Sprechblasen über den verschiedenen Körperteilen drängten und mit einem Wirrwarr aus Pfeilen und Linien miteinander verbunden waren.
Ike nahm einen Schluck Kaffee. Wo sollte er anfangen? Die Hautkritzeleien beschrieben ein Labyrinth, sowohl inhaltlich als auch in der Art und Weise, wie sie erzählten. Der Mann hatte Zeugnis von seinem Schicksal abgelegt, so wie es ihm widerfahren war, wozu auch gehörte, dass er sich verbesserte, widersprach und seine Weisheit mit ihm reifte. Er war wie ein schiffbrüchiger Tagebuchschreiber, der plötzlich zu Schreibzeug gekommen war und nicht mehr aufhören konnte, alte Details hinzuzufügen.
»Zunächst einmal«, fing Ike an, »war sein Name Isaak.«
»Isaak?«, ertönte Darlenes verwunderte Stimme aus dem Kreis der Kaffeebrauer. Sie hatten eine Pause eingelegt und hörten ihm aufmerksam zu.
Ike fuhr mit dem Finger von Brustwarze zu Brustwarze. Die Aussage war eindeutig. Zumindest teilweise. Ich bin Isaak, hieß es dort, gefolgt von: In meinem Exil / In meiner Agonie des Lichts.
»Und hier diese Zahlen«, sagte Ike. »Das müsste eine Seriennummer sein. Und 10/03/23 könnte sein Geburtsdatum sein, oder?«
»Neunzehnhundertdreiundzwanzig?«, fragte jemand. Sie wirkten so enttäuscht wie kleine Kinder, wenn der Zoobesuch ausfällt. Offensichtlich reichten fünfundsechzig Jahre nicht aus, um Isaak als echte Antiquität durchgehen zu lassen.
»Tut mir Leid«, sagte Ike und fuhr fort: »Seht ihr dieses andere Datum hier?« Er schob das, was von der Schambehaarung übrig war, zur Seite. »4/7/44. Der Tag, an dem er abgeschossen wurde. Vermute ich.«
»Abgeschossen?«
»Oder abgestürzt.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
Sie waren völlig aus dem Häuschen. Er fing noch einmal von vorne an und erzählte ihnen diesmal die Geschichte, die er nach und nach zusammengesetzt hatte. »Seht ihn euch an. Er ist einmal ein junger Bursche gewesen. Einundzwanzig Jahre alt. Der zweite Weltkrieg tobte. Er hat sich freiwillig gemeldet oder wurde eingezogen. Daher die RAF-Tätowierung. Er wurde nach Indien abkommandiert. Seine Aufgabe bestand darin, über den Buckel zu fliegen.«
»Über den Buckel?«, fragte Bernard fast flehentlich und hackte die Neuigkeiten wie wild in seinen Laptop.
»So hieß sie bei den Piloten, die Versorgungsgüter in die Lager in Tibet und China flogen«, antwortete Ike. »Die Himalaya-Kette.
Damals war diese ganze Region hier Teil einer orientalisch-westlichen Front. Ziemlich gefährliches Gebiet. Immer wieder stürzten Flugzeuge ab. Die Besatzung überlebte nur selten.«
»Ein gefallener Engel«, seufzte Owen, und er war mit seiner Meinung nicht allein. Jetzt waren alle wieder Feuer und Flamme für ihren Fund.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dir das aus ein paar Zahlen und Buchstaben zusammenreimen kannst«, sagte Bernard und zielte mit einem Stift auf Ikes letzte Zifferngruppe. »Für dich ist es der Tag, an dem er abgeschossen wurde, aber warum sollte es sich nicht um seinen Hochzeitstag handeln, oder den Tag seines Examens in Oxford, oder den Tag, an dem er seine Jungfräulichkeit verloren hat? Ich will nur darauf hinweisen, dass der dort kein junger Bursche mehr ist. Er sieht aus wie Vierzig. Meiner Meinung nach hat er sich irgendwann in den letzten paar Jahren bei einer wissenschaftlichen Expedition oder bei einer Klettertour verirrt. Jedenfalls ist er nicht 1944 im Alter von 21 Jahren gestorben, so viel dürfte klar sein.«
»Richtig«, nickte Ike, und Bernard sah aus, als hätte man ihm die Luft herausgelassen. »Hier steht auch etwas von Gefangenschaft. Ziemlich lange. Dunkelheit. Hunger. Schwerstarbeit.« Die geheiligte Tiefe.
»Ein Kriegsgefangener? Der Japaner?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Ike.
»Vielleicht chinesische Kommunisten?«
»Oder Russen?«, vermutete ein anderer.
»Nazis.«
»Drogenbarone.«
»Tibeter?«
Die Vermutungen waren alles andere als unbegründet. Tibet war schon lange ein Schachbrett des Großen Spiels.
»Wir haben gesehen, dass du auf die Karte geschaut hast. Was hast du gesucht?«
»Anhaltspunkte«, antwortete Ike. »Einen Ausgangspunkt.«
»Und?«
Ike zeigte auf eine weitere Zahlenfolge am Oberschenkel des Mannes. »Das hier sind Koordinaten.«
»Des Punktes, an dem er abgeschossen wurde. Nicht unsinnig.«
Bernard war wieder aufgesprungen. »Meinst du, sein Flugzeug liegt hier irgendwo in der Nähe?«
Der Berg Kailas war vergessen. Die Aussicht auf eine Absturzstelle versetzte sie in Begeisterung.
»Nicht ganz«, meinte Ike.
»Spuck’s schon aus, Mann! Wo ist er runter?«
»Östlich von hier«, sagte Ike ruhig.
»Wie weit östlich?« »Ein Stück nördlich von Burma.«
»Burma!« Bernard und Cleopatra bemerkten sofort, wie unwahrscheinlich das war. Die anderen hockten stumm da.
»Auf der Nordseite des Massivs«, sagte Ike, »ein kleines Stück nach Tibet hinein.«
»Aber das ist über fünfzehnhundert Kilometer entfernt.«
»Weiß ich.«
Es war weit nach Mitternacht, doch nach den vielen Milchkaffees und dem Adrenalinstoss war noch lange nicht an Schlaf zu denken. Sie saßen aufrecht oder standen in der Höhle, während sie sich allmählich über die weite Reise dieser Gestalt bewusst wurden.
»Wie ist er hierher gekommen?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du nicht gesagt, er sei ein Gefangener?«
Ike atmete bedächtig aus. »So was in der Art.«
»In der Art?«
»Tja.« Er räusperte sich leise. »Eher so etwas wie ein Haustier.«
»Was?«
»Ich weiß es auch nicht genau. Er benutzt ein ungewöhnliches Wort, genau hier: >cosset<. Das ist doch ein von Hand aufgezogenes Hauskalb, oder?«
»Mensch, Ike, hör schon auf! Wenn du es nicht weißt, brauchst du auch nichts erfinden ...«
Er zuckte die Achseln. Auch in seinen Ohren hörte es sich wie irres Gefasel an.
»Eigentlich ist es ein französischer Ausdruck«, warf eine Stimme ein. Cleo, die Bibliothekarin. »Cosset heißt Lämmchen, nicht Kälbchen. Aber sonst hat Ike Recht. Es bezeichnet ein Lieblingstier, das man hätschelt und sich zum Vergnügen hält.«
»Lämmchen?«, widersprach jemand in einem Ton, als hätte Cleo - oder der Tote, oder beide - ihre geballte Intelligenz beleidigt.
»Ganz recht«, antwortete Cleo. »Lämmchen. Lieblingstier. Ziemlich provokante Wortwahl, findet ihr nicht?«
Dem Schweigen der Gruppe nach zu schließen, hatte noch keiner von ihnen darüber nachgedacht.
»Das hier?«, fragte Kora und berührte den eiskalten Leichnam fast mit den Fingerspitzen. »Das soll ein Liebling sein? Bevorzugt vor welchen anderen? Und, vor allen Dingen, von wem? Wer ist sein Herr und Meister?«
»Du reimst dir was zusammen«, sagte eine Frau.
»Schön wär’s«, sagte Cleo. »Aber seht euch das an.«
Ike musste die Augen zusammenkneifen, um die verblassten Buchstaben, auf die sie zeigte, lesen zu können. Corvée hieß es da.
»Was bedeutet das?«
»Ungefähr das Gleiche«, antwortete sie. »Unterwerfung. Vielleicht war er wirklich ein Gefangener der Japaner. Hört sich ziemlich nach Die Brücke am Kwai oder so was an.«
»Abgesehen davon, dass ich noch nie davon gehört habe, dass die Japaner ihren Gefangenen Ringe durch die Nase bohren«, sagte Ike.
»Die Geschichte der Unterwerfung treibt seltsame Blüten.«
»Aber Nasenringe?«
»Alle möglichen unaussprechlichen Dinge sind geschehen.«
»Goldene Nasenringe?«, fragte Ike mit mehr Nachdruck.
»Gold?« Kora sah genauer hin, als er mit dem Lichtstrahl über den stumpfen Glanz strich.
»Du hast es selbst gesagt. Ein Lieblingslämmchen. Und du hast die Frage gestellt, wer diesem Lämmchen den Vorzug gab.«
»Weißt du es?«
»Sagen wir mal so: Er hier glaubte es jedenfalls zu wissen. Siehst du das?« Ike schob das eine kalte Bein zur Seite. Dort, auf dem linken Oberschenkelmuskel, beinahe unsichtbar, stand ein einziges Wort.
»Satan.« Ihre Lippen bildeten das Wort beinahe stumm.
»Und noch mehr«, sagte er, wobei er die Haut ein wenig drehte. Existiert, stand dort.
»Und auch das gehört dazu«, nickte er. Es stand wie ein Gebet oder ein Gedicht auf einem Stück Haut. Bein von meinem Bein / Fleisch von meinem Fleisch. »Aus der Genesis. Der Garten Eden.«
Er spürte förmlich, wie Kora verzweifelt versuchte, sich eine Gegenargumentation zusammenzubauen. »Er war ein Gefangener«, setzte sie an. »Er schrieb über den Teufel. Im Allgemeinen. Das besagt nichts. Er hasste seine Unterdrücker. Er nannte sie Satan. Belegte sie mit dem schlimmsten Namen, den er kannte.«
»Du tust das Gleiche, was ich auch getan habe«, sagte Ike. »Du kämpfst gegen das Offensichtliche an.«
»Das glaube ich nicht.«
»Was ihm widerfuhr, war sehr schlimm. Aber er hasste es nicht.«
»Selbstverständlich hasste er es.«
»Nein. Es gibt noch etwas anderes.«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Kora.
»Etwas zwischen den Worten. Ein Zwischenton. Spürst du es nicht?«
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, spürte es Kora, doch sie weigerte sich, es zuzugeben. Ihre Skepsis war nicht nur akademisch zu begründen.
»Ich habe keinerlei Warnungen gefunden«, sagte Ike. »Kein >Vorsicht!<. Kein >Hütet euch!<«
»Worauf willst du hinaus?«
»Gibt es dir nicht zu denken, dass er aus Romeo und Julia zitiert und zugleich vom Satan redet, so wie Adam über Eva sprach?«
Kora zuckte zusammen.
»Das Sklavendasein machte ihm nichts aus.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«, flüsterte sie.
»Er war sogar dankbar dafür.«
Sie schluckte. »Ich verstehe nicht, wie jemand, der so schrecklich .«
»Kora.« Sie sah ihn an. In einem Auge stand eine Träne. »Es steht über seinen ganzen Körper geschrieben.«
Sie schüttelte abwehrend den Kopf.
»Du weißt, dass es wahr ist.«
»Nein! Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«
»Doch, das weißt du«, erwiderte Ike. »Er war verliebt.«
Der Hüttenkoller setzte ein. Am zweiten Morgen fand Ike Schneewehen bis zur Höhe von Basketballkörben vor dem Höhleneingang aufgetürmt. Inzwischen hatte der tätowierte Leichnam seinen Sensationswert eingebüßt, und in der Gruppe machte sich gefährliche Langeweile breit. Ein Walkman nach dem anderen erstarb wegen Batterieschwäche und ließ sie verlassen zurück, ohne ihre Musik, ihre Engelszungen, den Worten von Drachen, Erdtrommeln und Seelenklempnern. Bald darauf ging dem Gaskocher der Saft aus, was zur Folge hatte, dass mehrere Süchtige unter Koffeinentzug zu leiden hatten. Die Situation verbesserte sich nicht unbedingt dadurch, dass kurz darauf das Toilettenpapier zur Neige ging.
Ike tat, was er konnte. Damals, höchstwahrscheinlich als einziges Kind in ganz Wyoming, das klassischen Flötenunterricht nahm, hatte er seine Mutter für ihre Prophezeiungen verspottet, er würde ihr dafür noch einmal auf Knien danken. Jetzt musste er ihr Recht geben. Er hatte eine Plastikblockflöte dabei, deren Töne sich in der Höhle sehr schön anhörten. Seine Kunden applaudierten, nachdem er einige Mozartstückchen zum Besten gegeben hatte, doch dann zogen sie sich rasch wieder in ihre Verdrossenheit zurück.
Am Morgen des dritten Tages war Owen verschwunden. Ike wunderte sich nicht darüber. Er hatte schon andere von Unwettern überraschte Hochgebirgsexpeditionen erlebt und wusste, dass sich die Gruppendynamik in völlig unerwartete Richtungen entwickeln konnte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war Owen nur deshalb wegspaziert, um genau die Aufmerksamkeit zu erlangen, die ihm nun zuteil wurde. Kora war der gleichen Meinung.
»Er spielt uns nur etwas vor«, sagte sie. Sie lagen beieinander in ihren gekoppelten Schlafsäcken. Selbst die Wochen voller Anstrengung und Schweiß hatten den Geruch ihres Kokosnuss-Shampoos nicht vertreiben können. Auf Ikes Empfehlung hin hatten sich auch die meisten anderen der Wärme wegen jeweils zu zweien zusammengelegt, sogar Bernard. Offensichtlich war Owen derjenige gewesen, der buchstäblich allein in der kalten Welt zurückgeblieben war.
»Er muss in Richtung Eingang marschiert sein«, brummte Ike. »Ich gehe mal nachsehen.« Widerwillig öffnete er den Reißverschluss und spürte, wie seine und Koras Körperwärme in die frostige Höhlenluft entwich.
Er sah sich in dem steinernen Gewölbe um. Es war dunkel und eiskalt. Der nackte Leichnam über ihnen ließ Ike an eine Gruft denken. Nachdem er auf den Beinen war und das Blut langsam wieder in seinen Füßen zu zirkulieren begann, wollte ihm der Anblick ganz und gar nicht behagen. Schneller als erwartet würden sie hier alle sterbend auf dem Boden liegen.
»Ich komme mit«, sagte Kora.
Sie brauchten drei Minuten bis zum Eingang.
»Ich höre keinen Wind mehr«, sagte Kora. »Vielleicht hat es aufgehört zu schneien.«
Doch der Zugang war von einer über drei Meter hohen Schneewehe versiegelt, an deren oberen Rand sich eine hässliche Wechte nach innen neigte. Weder Licht noch Geräusche drangen von der Außenwelt herein.
»Nicht zu fassen«, sagte Kora.
Ike rammte seine Stiefelkappen in die harte Kruste und kletterte so weit hinauf, bis er mit dem Kopf an die Decke stieß. Dann schlug er mit der Handkante ein kleines Guckloch in die vereiste Mauer. Draußen herrschte graues Zwielicht, und orkanartige Winde peitschten mit dem Gebrüll eines Güterzuges über die Berghänge. Noch während er hinausspähte, schloss sich seine kleine Öffnung wieder. Sie waren eingeschlossen. Er ließ sich wieder zum Fuß der Schnee wand herunterrutschen und hatte für einen Moment den fehlenden Kunden ganz vergessen.
»Was nun?«, fragte Kora hinter ihm. Ihr Vertrauen in ihn war ein Geschenk, das er dankbar annahm. Kora und die anderen brauchten ihn. Stark und entschlossen.
»Eins ist sicher«, sagte er. »Unser Ausreißer hat nicht diesen Weg eingeschlagen. Es sind nirgendwo Fußspuren zu sehen, und durch diesen Schnee hätte er es ohnehin nicht hinausgeschafft.«
»Wohin kann er sonst gegangen sein?«
»Vielleicht gibt es ja noch einen anderen Ausgang«, erwiderte Ike und fügte dann hinzu: »Könnten wir gut gebrauchen.«
Er war sich ohnehin fast sicher, dass ein zweiter Ausgang existierte. Ihr toter RAF-Pilot hatte geschrieben, er sei aus einem »mineralischen Schoß« wieder geboren worden und in eine »Agonie des Lichts« hinaufgestiegen. Andererseits konnte Isaak damit ebenso gut die Erfahrung jedes Asketen beim Wiedereintritt in die Wirklichkeit nach einer ausgedehnten Meditation beschrieben haben. Doch Ike hielt die Worte inzwischen für mehr als nur spirituelle Metaphern. Schließlich war Isaak Soldat gewesen, ein für Extremsituationen ausgebildeter Mann. Alles um ihn herum sprach von der nüchternen physischen Welt. Zumindest wollte Ike daran glauben, dass der Tote von einer unterirdischen Passage berichtete. Wenn er durch diesen Gang bis hierher hatte fliehen können, dann schafften sie es eventuell auf dem gleichen Weg bis dorthin, wo immer das auch sein mochte.
Wieder in der Haupthöhle angekommen, entfachte er neues Leben in der Gruppe. »Leute«, verkündete er, »wir brauchen Hilfe.«
Aus einem Wust aus Goretex und Fiberfill stieg das Ächzen einer der Frauen auf: »Sag bloß«, stieß sie mit rauer Stimme hervor, »wir müssen ihn jetzt auch noch retten.«
»Wenn er einen Weg hier heraus gefunden hat«, erwiderte Ike, »dann hat er uns gerettet. Aber zuerst müssen wir ihn finden.«
Murrend erhoben sie sich. Die Reißverschlüsse von Schlafsäcken ratschten, und im Lichtstrahl seiner Stirnlampe sah Ike ihre Körperwärme in dunstigen Fahnen wie verlorene Seelen davontreiben. Er führte sie in den hinteren Teil der Höhle, wo ein Dutzend Eingänge wie Bienenwaben in den Felswänden gähnten. Nur zwei davon waren etwa mannshoch. Mit aller Autorität, die er aufbringen konnte, bildete Ike zwei Teams: er ging allein und die anderen blieben zusammen.
»Auf diese Weise bewältigen wir die doppelte Wegstrecke«, erläuterte er.
»Du lässt uns im Stich«, jammerte Cleo verzweifelt. »Er will sich selbst retten.«
»Du kennst Ike nicht«, sagte Kora.
Ike blickte Cleo streng an. »Das würde ich nie tun.«
Die allgemeine Erleichterung zeigte sich in langen Fahnen ausgeatmeten Raureifs.
»Ihr müsst auf jeden Fall zusammenbleiben«, ermahnte er sie ernst. »Marschiert langsam. Bleibt immer in Lampenabstand. Geht kein Risiko ein. Ich habe keine Lust auf verknackste Knöchel. Wenn ihr müde werdet und euch eine Weile hinsetzen müsst, achtet darauf, dass immer noch einer bei euch bleibt. Noch Fragen? Nicht? Sehr gut. Uhrenvergleich ...«
Er gab der Gruppe drei so genannte Leuchtkerzen mit, sechs Zoll lange Chemiefackeln, die durch eine simple Drehung aktiviert wurden. Das grüne Leuchten strahlte nicht sehr viel Licht aus und hielt lediglich zwei bis drei Stunden an. Aber es konnte alle paar hundert Meter als Leuchtfeuer dienen: Krumen auf dem Waldboden.
»Lass mich mit dir gehen«, murmelte ihm Kora zu. Ihr Wunsch erstaunte ihn.
»Du bist die Einzige, der ich sie anvertrauen kann«, sagte er.
»Du nimmst den rechten Tunnel, ich den linken. In einer Stunde treffen wir uns wieder hier.« Er wandte sich um und wollte losgehen. Aber sie rührten sich nicht von der Stelle. Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie nicht nur ihn und Kora beobachteten, sondern auf seinen Segen warteten.
»Vaya con Dios«, sagte er schroff.
Und dann, vor aller Augen, küsste er Kora. Er gab ihr einen langen Kuss, einen richtigen atemberaubenden Dauerbrenner. Einen Augenblick klammerte sich Kora an ihm fest, und er wusste, dass alles zwischen ihnen wieder ins Lot kommen würde, dass sie eine Lösung finden würden.
Ike hatte sich noch nie viel aus Höhlenkletterei gemacht. Die Enge machte ihn klaustrophobisch. Trotzdem besaß er einen guten Instinkt dafür. Oberflächlich betrachtet, war das Bergsteigen das genaue Gegenteil eines Abstiegs in die Tiefen der Erde. Ein Berg gab einem Freiheiten, die im gleichen Maße erschreckend und befreiend sein konnten. Ikes Erfahrung nach beraubten einen Höhlen dieser Freiheit im gleichen Maße. Ihre Dunkelheit und ihre schiere Erdenschwere waren erdrückend. Sie beengten die Vorstellungskraft und deformierten den Geist. Trotzdem ging es bei Bergen genau wie bei Höhlen ums Klettern. Und wenn man es genau nahm, bestand zwischen Aufstieg und Abstieg kein Unterschied. Es war alles ein Kreislauf. Mit diesen Gedanken im Kopf kam er rasch voran.
Nach fünf Minuten Klettern hörte er ein Geräusch und blieb stehen. »Owen?«
Alle seine Sinne waren in Bewegung, nicht nur von Dunkelheit und Stille geschärft, sondern auch merkwürdig verändert. Es war schwer in Worte zu fassen. Der saubere, trockene Geruch vom Staub der Berge, die sich immer noch emporwölbten, die schuppige Berührung von Flechten, die noch nie Sonnenlicht gesehen hatten. Auf die Augen war kein unbedingter Verlass mehr. Man sah wie in sehr dunklen Nächten auf einem Berg, ein Tunnelblick auf die Welt, nur einen Lichtstrahl weit, eingeschränkt, beschnitten.
Eine gedämpfte Stimme drang an sein Ohr. Er wünschte, es sei Owen, damit die Suche ein Ende hatte und er zu Kora zurück konnte. Doch offensichtlich waren die beiden Tunnel nur durch eine dünne Wand getrennt. Ike lehnte den Kopf an den Stein. Er war kühl, aber nicht eiskalt. Jetzt hörte er Bernard nach Owen rufen.
Ein Stück weiter verengte sich Ikes Tunnel zu einem schulterhohen Durchlass. »Hallo?«, rief er in den Gang hinein. Er spürte, wie sich seine Instinkte sträubten. Es war, als stünde er am Eingang eines unergründlichen, dunklen Hinterhofs. Nichts war ungewöhnlich. Und doch schien die bloße Existenz der Felswände und des blanken Steins eine unheimliche Bedrohung auszustrahlen.
Ike leuchtete mit der Lampe in den Gang hinein und blickte in eine Röhre zerklüfteten Kalksteins, die sich in der Dunkelheit verlor. Nichts, wovor er sich fürchten musste. Trotzdem war die Luft so eigenartig. So gar nicht menschlich. Die Gerüche waren so schwach und unverfälscht, dass sie beinahe an Geruchlosigkeit grenzten, vollkommen, rein wie Wasser. Es war beinahe erfrischend. Und gerade das machte ihm noch mehr Angst.
Der Gang führte schnurgerade in die schwarze Finsternis hinein. Er schaute auf die Uhr: zweiunddreißig Minuten waren vergangen. Höchste Zeit, den Rückweg anzutreten und sich wieder mit der Gruppe zu treffen. So hatten sie es verabredet: eine Stunde, hin und zurück. Doch dann sah er am anderen Ende des Lichtstrahls etwas aufblinken.
Ike konnte nicht widerstehen. Das dort drinnen sah aus wie eine winzige Sternschnuppe. Wenn er sich beeilte, dauerte die ganze Übung nicht länger als eine Minute. Er fand einen Halt für den Fuß und zog sich in den Gang. Der Spalt war gerade groß genug, um sich mit den Füßen voran hindurchzuquetschen.
Auf der anderen Seite sah es genauso aus wie vor dem Durchbruch. Ikes Lampe entdeckte in der Ferne das gleiche Glitzern, das durch die Dunkelheit zu ihm herblinkte. Langsam stellte er die Lampe zu seinen Füßen ab. Neben seinem Stiefel fand er eine weitere Reflektion, die genau wie die in der Ferne glitzerte und das gleiche schwache Leuchten verströmte.
Es war eine Goldmünze. Misstrauisch beugte er sich hinunter. Das Blut pochte in seinen Adern. Eine leise Stimme warnte ihn davor, die Münze aufzuheben. Aber es gab keine andere Möglichkeit.
Das Alter der Münze war sinnlich spürbar. Ihre Prägung war schon vor langer Zeit abgerieben worden, und ihre Form war asymmetrisch, keinesfalls von einer Maschine ausgestanzt worden. Nur auf einer Seite zeugte eine konturlose, unkenntliche Büste von einem König oder einer Gottheit.
Ike richtete den Lichtstrahl weiter in den Tunnel hinein. Hinter der nächsten Münze sah er eine Dritte im Dunkeln aufblinken. War das denn möglich? War der nackte Isaak aus einem verborgenen unterirdischen Gehege entflohen und hatte unterwegs sein gestohlenes Vermögen verloren?
Die Münzen glitzerten wie die Augen wilder Tiere. Der felsige Schlund lag vor ihm, zu hell im Vordergrund und weiter hinten zu dunkel. Fein säuberlich reihte sich eine Münze an die andere. Und wenn die Münzen nicht verloren worden waren? Wenn sie dort hingelegt wurden? Der Gedanke durchfuhr ihn wie kalter Stahl. Als Köder!
Er ließ sich mit dem Rücken gegen den kalten Stein fallen. Die Münzen waren eine Falle. Er schluckte schwer und zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Die Münze in seiner Hand war eiskalt. Mit dem Fingernagel kratzte er einen Belag verkrusteten Gletscherstaubs ab. Sie musste schon jahrelang hier liegen, vielleicht sogar seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Je länger er darüber nachdachte, desto größer wurde sein Grauen.
Die Falle war nicht ihm persönlich gestellt worden. Sie wollte nicht ihn, Ike Crockett, in die Tiefe locken. Im Gegenteil, es handelte sich um einen auf gut Glück ausgelegten Köder. Zeit spielte dabei keine Rolle. Nicht einmal Geduld hatte etwas damit zu tun. So wie Restefischer den Fangabfall einsammelten, hatte es hier jemand auf in dieser Gegend verirrte Reisende abgesehen. Man streute ein paar Brocken aus, vielleicht biss etwas an, vielleicht auch nicht. Aber wer kam schon hierher? Das war nicht schwer zu erraten. Leute wie er: Mönche, Händler, verlorene Seelen. Aber warum sie tiefer in den Berg locken? Wohin?
Seine Köderanalogie entfaltete sich. Diese Methode war weniger wie Restefischen, sondern eher wie eine Bärenhatz. Ikes Vater hatte solche Jagden im Gebiet rings um den Wind River für reiche Texaner organisiert, die dafür gezahlt hatten, in einem Versteck zu hocken und von dort aus Braun- und Schwarzbären zu schießen. Alle Ausstatter in dieser Branche taten das, es war ein ganz normaler Job, so wie Viehzüchten. Man legte ungefähr zehn Reitminuten von den Hütten entfernt einen Müllhaufen an, damit sich die Bären an geregelte Futterzeiten gewöhnten, und wenn die Jagdsaison heraufzog, fing man an, kleine ausgesuchte Leckerbissen auszulegen. Um ihnen das Gefühl zu geben, ihr Scherflein beizutragen, wurden Ike und seine Schwester nach Ostern immer dazu aufgefordert, ihre Marshmallow-Häschen rauszurücken. Kurz vor seinem zehnten Geburtstag war es so weit, dass Ike seinen Vater begleiten durfte, und erst an diesem Tag sah er, wohin seine Süßigkeiten verschwanden.
Die Bilder überschlugen sich. Die rosafarbenen Leckereien eines Kindes einsam im schweigenden Wald zurückgelassen. Tote, im Herbstlicht aufgehängte Bären, Häute, die wie von Zauberhand gelöst schwer herabfielen, nachdem die Messer hier und dort präzise Schnitte angebracht hatten. Und darunter Körper fast wie Menschen, nass und glitschig wie Schwimmer.
Raus, dachte Ike. Nichts wie raus hier. Ohne es zu wagen, den Lichtstrahl vom Berginneren abzuwenden, schob sich Ike durch den Spalt zurück, verfluchte seine laut raschelnde Jacke, verfluchte die Steine, die unter seinen Sohlen wegrutschten, verfluchte seine Habgier. Er hörte Geräusche, von denen er wusste, dass sie nicht existierten. Schreckte vor Schatten zurück, die er selbst warf. Das Grauen wollte nicht mehr von ihm weichen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Flucht.
Atemlos erreichte er die Hauptkammer der Höhle. Noch immer standen ihm sämtliche Körperhaare zu Berge. Sein Rückweg konnte nicht länger als fünfzehn Minuten in Anspruch genommen haben. Ohne auf die Uhr zu sehen, schätzte er seinen gesamten Hm- und Rückweg auf weniger als eine Stunde.
In der Höhle war es stockfinster. Er war allein. Er lauschte angestrengt, während sich sein Herzschlag allmählich beruhigte, doch bis auf das dumpfe Pochen in seiner Brust war kein Geräusch, weder Scharren noch Schlurfen zu vernehmen. An der gegenüberliegenden Wand des Gewölbes sah er die sanft fluoreszierende Schrift, die sich wie eine zahme exotische Schlange um den dunklen Leichnam wand. Ike schaltete die Lampe an und richtete den Strahl quer durch den Felsendom auf den Leichnam. Der goldene Nasenring blinkte. Und noch etwas anderes. So wie man manchmal noch einmal zu einem Gedanken zurückkehrt, fuhr er ein zweites Mal mit dem Lichtstrahl über das Gesicht.
Der Tote lächelte.
Ike schwenkte die Lampe hin und her. Es musste eine optische Täuschung sein - oder er litt an Gedächtnisschwund. An eine starre Grimasse konnte er sich erinnern, aber nicht an dieses irre Lächeln. Dort, wo er zuvor lediglich die Spitzen einiger weniger Zähne gesehen hatte, spielte jetzt Freude, ja, ausgelassene Fröhlichkeit in seinem Lichtstrahl. Reiß dich zusammen, Crockett.
Sein Verstand wollte sich nicht beruhigen. Was, wenn die Leiche selbst ein Köder war? Plötzlich nahm der Text eine groteske Eindeutigkeit an. Ich bin Isaak. Der Sohn, der sich selbst als Opfer hingab. Um die Liebe des Vaters zu erlangen. Im Exil. In meiner Agonie des Lichts. Aber was hatte das alles zu bedeuten?
Ike hatte genug bitterernste Rettungsaktionen mitgemacht und wusste, was zu tun war. Wobei hier nicht allzu viele Möglichkeiten zur Auswahl standen. Ike schnappte sich seine 9-mm-Seilrolle, stopfte sich die letzten vier Batterien in die Tasche und blickte sich um. Was noch? Zwei Proteinriegel, eine Velcro-Fußklammer, der Erste-Hilfe-Kasten. Im Ernstfall wenig genug, aber ihre Ausrüstung gab kaum noch etwas her.
Kurz vor dem Verlassen der Haupthöhle ließ Ike den Lichtstrahl noch einmal durch den Raum wandern. Auf dem Boden lagen die Schlafsäcke wie verlassene Kokons verstreut. Er betrat den rechten Tunnel. Der Gang wand sich mit gleichmäßigem Gefalle nach unten, erst nach links, dann nach rechts, dann wurde er etwas steiler. Was für ein Fehler, sie wegzuschicken, auch wenn sie alle zusammen waren. Ike konnte nicht glauben, dass er seine kleine Herde tatsächlich einem derartigen Risiko ausgesetzt hatte. Ebenso unfassbar war es, dass sie es eingegangen waren. Aber schließlich wussten sie es nicht besser.
»Hallo!«, rief er. Bei jedem Meter, den er weiter nach unten schritt, wurde sein schlechtes Gewissen größer. War es sein Fehler, dass sie ihr Vertrauen in einen Glücksritter und Aussteiger gesetzt hatten?
Es ging langsamer voran. Wände und Decken waren von sich in Schichten abblätterndem Gestein aufgeraut. Ein falscher Griff, schon konnte die ganze Masse ins Rutschen kommen. Ike schwankte zwischen Bewunderung und Verachtung. Seine Pilger waren sehr mutig. Seine Pilger waren sehr leichtsinnig. Und jetzt war auch er in Gefahr.
Ohne Kora hätte er sich wohl rasch davon überzeugt, dass es Schwachsinn sei, noch weiter hinabzusteigen. In gewisser Hinsicht war sie der Sündenbock seines Mutes geworden. Er wollte umdrehen und fliehen. Die gleiche Vorahnung, die ihn im anderen Tunnel gelähmt hatte, befiel ihn auch hier. Seine Muskeln wollten ihm den Dienst verweigern, Glied für Glied und Gelenk für Gelenk rebellierte. Er zwang sich, weiter hinabzusteigen.
Schließlich kam er an einem steil abfallenden Schacht an und blieb stehen. Wie ein unsichtbarer Wasserfall strömte eine Säule frostiger Luft an ihm vorbei, eine Luft aus Regionen, die sein Lichtstrahl nicht mehr erreichte. Er streckte die Hand aus, und der kalte Strom floss durch seine Finger.
Unmittelbar am Rande des Abgrunds blickte Ike sich suchend um und fand zu seinen Füßen eine seiner chemischen Kerzen. Das grüne Leuchten war so schwach, dass er es beinahe übersehen hätte. Er hob die Plastikröhre an einem Ende hoch, schaltete seine Lampe aus und versuchte zu schätzen, wie lange es her sein mochte, dass sie die Mixtur aktiviert hatten. Vor mehr als drei Stunden, weniger als sechs. Die Zeit floss dahin, entzog sich seiner Kontrolle. Nur für alle Fälle roch er am Plastik. Es war zwar unmöglich, doch es schien ihm ein Hauch von Kokosnuss anzuhaften.
»Kora!«, brüllte er in den Luftschacht hinein.
Von dort, wo Felsvorsprünge dem Windstrom im Weg standen, antwortete ihm eine kleine Sinfonie aus Pfiffen, Sirenengesang und Vogelschreien, eine Musik aus Stein. Ike schob die Kerze in eine seiner Taschen.
Die Luft roch frisch, beinahe wie draußen in der Welt, Ike atmete mehrere Male tief durch. Unterschiedliche Gefühlseindrücke ballten sich zu einer Empfindung zusammen, die man nur als Kummer bezeichnen konnte. In diesem Augenblick sehnte er sich nach etwas, das er noch nie wirklich vermisst hatte. Er sehnte sich nach der Sonne.
Ike suchte die Ränder des Schachts mit seinem Lichtstrahl ab, suchte nach Anzeichen dafür, dass seine Gruppe diesen Weg eingeschlagen hatte. Zwar entdeckte er hier und dort einen möglichen Halt, einen winzigen Vorsprung, auf dem man sich hätte ausruhen können, aber eigentlich war niemand - nicht einmal Ike in seinen besten Zeiten - im Stande, dort mit heiler Haut hinunterzuklettern. Der Schwierigkeitsgrad des Schachtes überstieg sogar das Talent seiner Gruppe für blindes Vertrauen. Sie mussten umgekehrt sein und einen anderen Weg gewählt haben. Ike raffte sich auf.
Hundert Meter zurück fand er die Stelle, an der sie abgebogen waren. Auf seinem Weg nach unten war er dicht an der Öffnung vorbeigekommen. Jetzt, auf dem Rückweg, sprang einem das Loch direkt ins Auge ... insbesondere sein grünes Leuchten, das aus seinem abgewinkelten Schlund wehte. Um sich durch die schmale Öffnung zwängen zu können, musste er sein Gepäck abnehmen. Direkt dahinter lag die zweite Chemiekerze.
Anhand des Kerzenvergleichs - diese hier glomm noch viel heller - ließ sich die Route der Gruppe chronologisch festmachen. Seine Leute waren tatsächlich hier vom Hauptgang abgewichen. Er versuchte sich vorzustellen, welcher Pioniergeist die Gruppe dazu veranlasst haben mochte, in diesen Seitentunnel einzusteigen, und er wusste, dass dafür nur eine Person in Frage kam.
»Kora«, flüsterte er. Sie würde Owen ebenso wenig aufgeben wie er. Sie allein würde darauf bestehen, tiefer und tiefer in das Tunnelsystem vorzudringen.
Die Abzweigung führte zu weiteren Verästelungen. Ike folgte dem Seitentunnel bis zur ersten Gabelung, dann zur zweiten und dritten. Das Geflecht, das sich vor ihm auftat, erschreckte ihn. Unwissentlich hatte Kora sie alle in die Tiefen eines unterirdischen Labyrinths geführt. Zunächst hatte die Gruppe sich noch die Zeit genommen, ihren Weg zu markieren. Ein paar Gabelungen wurden mit einfachen, aus Steinen geformten Pfeilen angezeigt. Einige andere wiesen mit einem großen, an die Felswand gekratzten X den richtigen Weg. Doch bald schon suchte er diese Zeichen vergebens. Wahrscheinlich von ihrem raschen Voranschreiten ermutigt, hatte die Gruppe einfach aufgehört, ihren Pfad zu markieren. Bis auf einige abgeschabte Stellen an der Wand oder eine frische Bruchstelle, wo jemand sich festgehalten und ein Stück Stein herausgerissen hatte, fand Ike nur noch wenige Anhaltspunkte.
Seine Überlegungen, welchen Weg sie wohl genommen haben mochten, verschlangen viel Zeit. Ike sah auf die Uhr. Inzwischen war es schon weit nach Mitternacht. Das bedeutete, dass er Kora und die anderen schon seit über neun Stunden verfolgte. Und das wiederum hieß, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatten.
Sein Kopf schmerzte. Er war müde. Das Adrenalin war längst aufgebraucht. Die Luft roch schon lange nicht mehr nach Berggipfeln. Hier roch es nach dem Erdinneren, nach den Lungen des Berges. Das war der Geruch der Dunkelheit.
Er kam zu einem ehemaligen Vulkanschlot, einem gewaltigen Hohlraum mitten im Berg. Sogar in seinem erschöpften Zustand wurde er von Ehrfurcht ergriffen. Gigantische Säulen aus Kalkstein hingen von der gewölbten Decke herab. An eine Wand war ein übergroßes OM-Symbol gemalt. Und Dutzende, vielleicht sogar Hunderte uralter mongolischer Rüstungen hingen an Lederriemen, die an Buckeln und Vorsprüngen im Stein festgeknotet waren. Der Anblick ließ an eine komplette Geisterarmee denken. Eine besiegte Armee.
Der helle Kalkstein sah im Licht seiner Taschenlampe wunderschön aus. Die Rüstungen schaukelten im leichten Luftzug und warfen den Strahl millionenfach gebrochen zurück. Ike bewunderte die an den Wänden aufgespannten Thangka-Gemälde auf weichem Leder. Erst als er eine ausgefranste Ecke anfasste, erkannte er, dass die Fransen eigentlich Menschenfinger waren. Entsetzt ließ er sie los. Bei dem Leder handelte es sich um Menschenhaut. Er wich zurück und zählte die Thangkas. Es waren mindestens fünfzig. Hatten sie einst dieser mongolischen Horde gehört?
Er sah nach unten. Seine Stiefel waren zur Hälfte über ein weiteres Mandala gelaufen. Dieses hier maß gut sieben Meter im Durchmesser und war aus farbigem Sand gefertigt. Er hatte solche Mandalas schon in tibetischen Klöstern gesehen, aber niemals so groß. Wie dasjenige in der Höhle neben Isaak enthielt es Details, die weniger geometrisch als organisch wirkten: Wie Würmer, dachte er. Seine Spuren waren nicht die einzigen, die das Kunstwerk ruiniert hatten. Andere waren darüber hinweggetrampelt, vor noch nicht allzu langer Zeit. Kora war mit ihrer Truppe hier entlanggekommen.
An der nächsten Weggabelung waren keinerlei Hinweise mehr zu entdecken. Ike stand vor dem sich immer weiter verzweigenden Tunnelsystem, und eine Erinnerung aus seiner Kindheit übermittelte ihm die Antwort auf alle Labyrinthe: Gehe entweder nach links oder nach rechts, aber bleibe dann dabei. Da sie sich in Tibet befanden, dem Land, in dem man im Uhrzeigersinn um heilige Tempel und Berge ging, entschied er sich für links.
Ike ging durch eine Kalksteinhöhle, deren weiße, glatte Oberfläche die Dunkelheit förmlich zu verschlucken schien. Die Wände bogen sich ohne Winkel. Der Fels wies weder Risse noch Vorsprünge auf, nur Runzeln und sanfte Wölbungen. Nirgendwo verfing sich der Lichtstrahl, nichts warf einen Schatten. Das Ergebnis war reines, unverfälschtes Licht. Ganz gleich, wohin Ike seine Lampe richtete, er war immer von einem milchigen Strahlen umgeben.
Dann sah er Cleo. Ike kam um eine Biegung und ihr Licht vereinigte sich mit seinem. Sie saß in der Lotusposition mitten auf dem leuchtenden Weg. Mit den zehn vor ihr liegenden Goldmünzen erinnerte sie fast an einen Bettler.
»Bist du verletzt?«, fragte Ike.
»Nur mein Knöchel.« Cleo lächelte. Ihre Augen strahlten diesen heiligen Glanz aus, nach dem sie alle trachteten, teils Weisheit, teils Seelenheil. Ike ließ sich nicht beirren.
»Los, komm!«, befahl er.
»Geh du vor«, hauchte Cleo mit Engelsstimme. »Ich bleibe noch ein Weilchen.«
Manche Leute kommen mit der Einsamkeit klar. Manche glauben nur, sie könnten es. Ike hatte die Opfer der Einsamkeit in den Bergen und in Klöstern gesehen, und einmal sogar im Gefängnis. Manchmal brachte sie die Isolation zur Strecke. Manchmal waren es Kälte oder Hunger oder auch nur unprofessionelle Meditation. Bei Cleo war es von allem ein bisschen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr morgens. »Was ist mit den anderen? Wo sind sie hin?«
»Nur ein Stückchen weiter«, sagte sie. Das war eine gute Nachricht. Dann kam die schlechte Nachricht. »Sie wollten dich suchen.«
»Mich suchen?«
»Du hast immer wieder um Hilfe gerufen. Wir wollten dich nicht allein lassen.«
»Ich habe überhaupt nicht um Hilfe gerufen.«
Sie tätschelte ihm nachsichtig das Bein.
»Einer für alle, alle für einen«, versicherte sie ihm.
Ike hob eine der Münzen auf. »Wo hast du die gefunden?«
»Überall«, antwortete sie. »Es wurden immer mehr, je tiefer wir hineingingen. Ist das nicht wunderbar?«
»Ich suche die anderen. Dann kommen wir alle zurück und nehmen dich mit«, sagte Ike und wechselte dabei die ersterbenden Batterien in seiner Stirnlampe aus. »Versprich mir, dich nicht von hier wegzurühren.«
»Mir gefällt es sehr gut hier.«
Er ließ Cleo in einem Meer alabasterfarbenen Glanzes zurück.
Die Kalksteinröhre trieb ihn tiefer in den Berg. Sie senkte sich gleichmäßig, und er fand überall bequemen Halt für seine Sohlen. Überzeugt davon, dass er die anderen bald einholen würde, verfiel er in einen leichten Trab. Die Luft nahm einen kupferhaltigen Beigeschmack an, unbestimmt und doch irgendwie vertraut. Nur ein Stückchen weiter, hatte Cleo gesagt.
Die ersten Blutspuren sah er um drei Uhr siebenundvierzig.
Da sie zuerst als hellrote Handabdrücke auf dem weißen Stein auftauchten, und weil der Stein so porös war, dass er die Flüssigkeit praktisch aufsaugte, hielt Ike sie zunächst für primitive Kunst und verlangsamte seinen Gang. Der malerische Effekt wirkte in seiner verspielten Zufälligkeit direkt ansprechend. Ike gefiel die Vorstellung, dass sich hier unbekümmerte Höhlenmenschen verewigt hatten.
Dann trat er in eine Pfütze, die der Stein noch nicht völlig absorbiert hatte. Die dunkle Flüssigkeit spritzte auf und klatschte in leuchtenden Streifen an die Wand, rot auf weiß. Blut, erkannte er.
»O Gott!«, entfuhr es ihm, und er sprang reflexartig zur Seite. Ein weiterer Schritt auf Zehenspitzen, dann berührte die gleiche blutige Sohle den Boden und rutschte seitlich weg. Im Fall schlug er mit dem Gesicht an die Felswand. Die Lampe flog ihm aus der Hand, das Licht verlosch. Tastend hielt er sich am kalten Kalkstein fest und blieb stehen. Es war, als hätte man ihn beinahe bewusstlos geschlagen. Die undurchdringliche Dunkelheit brachte alles zum Stillstand. Sogar sein Atem stoppte. So sehr er sich nach einer gnädigen Ohnmacht sehnte, er blieb doch hellwach.
Mit einem Mal wurde der Gedanke, sich einfach nicht mehr zu bewegen, unerträglich. Er rollte sich von der Wand weg, ließ sich von der Schwerkraft geleitet auf alle viere nieder und tastete mit bloßen Händen, zwischen Ekel und Grauen hin und her gerissen, in immer größer werdenden Kreisen in dem klebrigen Schlamm nach der Lampe. Er konnte das Zeug sogar auf seinen Zähnen schmecken. Er presste die Lippen zusammen, doch es roch weiterhin nach Wild, dabei gab es hier drinnen gar kein Wild. Nur Kora und seine Gruppe. Ein geradezu monströser Gedanke.
Endlich erwischte er das Verbindungskabel der Lampe, ging in die Hocke und fingerte am Schalter herum. Ein Geräusch ertönte. Ob von nah oder fern, wusste er nicht zu sagen.
»He?«, rief er auffordernd, verstummte dann aber sofort wieder, lauschte, hörte aber nichts.
Gegen die eigene Panik ankämpfend schaltete Ike den Schalter an und aus und wieder an. Es war, als wollte man ein Feuer entfachen, während die Wölfe näher und näher kamen. Wieder dieses Geräusch. Diesmal konnte er es besser lokalisieren. Waren das Fingernägel, die über den Fels kratzten? Ratten? Der Blutgeruch wurde intensiver. Was ging hier vor?
Murmelnd verfluchte er die erloschene Lampe, fuhr mit den Fingerspitzen über das Glas und suchte nach Sprüngen. Vorsichtig schüttelte er sie, in banger Erwartung des Klirrens der zersplitterten Birne. Nichts.
Was blind, but now I see ... Die Worte wirbelten durch seinen Kopf, und er war nicht sicher, ob er das Lied wirklich hörte, oder nur die Erinnerung daran in seinem Schädel widerhallte. Der Klang wurde lauter: Twas grace that taught my heart to fear. Es wehte von ganz ferne herbei, die kräftige Stimme einer Frau, die »Amazing Grace« sang. In diesen zuversichtlichen Silben lag etwas, das weniger an einen Choral als an eine trotzige Hymne erinnerte. Die Hymne vor dem letzten Gefecht.
Es war Koras Stimme. Für ihn hatte sie nie gesungen. Und doch war es eindeutig sie, die da anscheinend für sie alle sang. Ihre Anwesenheit, wenn auch in weiter entfernten Tiefen dieses Labyrinths, beruhigte ihn.
»Kora!«, rief er. Mit in der Dunkelheit weit aufgerissenen Augen und auf allen vieren kriechend, rief sich Ike zur Ordnung. Wenn es nicht am Schalter oder an der Birne lag, dann vielleicht am Kabel. Es saß an beiden Enden fest, war auch nirgendwo durchgerissen. Er öffnete das Batteriefach, wischte sich die Finger sauber und trocken und zog leise zählend eine schlanke Batterie nach der anderen heraus: »Eins, zwei, drei, vier.« Bei einer nach der anderen säuberte er die Enden an seinem Unterhemd, wischte auch die Kontakte im Fach selbst ab und schob die Batterien wieder hinein. Links herum, rechts herum, links, rechts. Die Dinge hatten ihre bestimmte Ordnung. Er gehorchte ihr. Dann ließ er den Deckel über dem Fach einrasten, zog vorsichtig am Draht, nahm die Lampe in die Hand - und schaltete sie ein. Nichts. Das Kratzgeräusch wurde lauter, kam ihm schon ziemlich nah vor. Er wollte weglaufen, irgendwohin, egal um welchen Preis, einfach fliehen.
»Hiergeblieben!«, befahl er sich selbst. Er sagte es laut. Es war so etwas wie ein Mantra, sein eigenes Mantra, etwas, das er immer dann vor sich hm murmelte, wenn der Fels zu steil, die Vorsprünge zu schmal oder die Windböen zu stürmisch wurden.
Ike biss die Zähne zusammen und atmete flach. Noch einmal nahm er die Batterien heraus. Diesmal tauschte er sie gegen den Satz beinahe leerer Batterien in seiner Tasche aus. Er schaltete ein.
Licht. Herrliches Licht.
Er atmete es ein. In einem Schlachthaus aus weißem Stein.
Das Bild des Gemetzels stand einen Augenblick vor ihm, dann ging das Licht mit einem kurzen Flackern aus.
»Nein!«, brüllte er in die Dunkelheit und schüttelte die Lampe. Das Licht ging noch einmal an, wenn auch sehr schwach. Die Birne glomm in einem Rostorange, wurde noch schwächer und dann wieder ein wenig heller. Sie gab kaum noch ein Viertel ihrer Leuchtkraft her. Mehr als genug. Ike löste den Blick von der kleinen Birne und wagte es, sich noch einmal umzuschauen.
Der Tunnelabschnitt war der reinste Horror. Ike erhob sich in seinem kleinen Kreis gelben Lichts und bewegte sich dabei sehr vorsichtig. Die Wände ringsum waren mit hellroten Zebrastreifen übersät. Die Leichen lagen nebeneinander aufgereiht.
Wer sich mehrere Jahre in Asien aufhält, bekommt auch seinen Anteil an Toten mit. Wie oft hatte Ike in Pashaputanath vor den brennenden ghats gesessen und zugesehen, wie die Flammen das Fleisch von den Knochen schälten. Und heutzutage durchkletterte niemand das Südjoch des Everest, ohne an einem toten südafrikanischen Träumer vorbeizukommen, oder an der Nordseite an einem französischen Herrn, der in 7000 Metern Höhe schweigend am Wegesrand sitzt. Oder damals, als die Königliche Armee das Feuer auf die in den Straßen von Katmandu revoltierenden Sozialdemokraten eröffnet hatte und Ike zur Identifizierung eines Kameramannes der BBC ins Krankenhaus von Bir gegangen war und dort die eilig auf dem Fliesenboden nebeneinander aufgereihten Leichen gesehen hatte. Jener Anblick erinnerte ihn an das Bild, das er jetzt vor Augen hatte.
Auch das Schweigen der Vögel stieg wieder in seiner Erinnerung auf. Und wie die Hunde der Splitter aus geborstenen Fensterscheiben wegen noch tagelang durch die Straßen gehumpelt waren. Und vor allem die Erkenntnis, dass ein menschlicher Körper, wenn man ihn über den Boden schleifte, unweigerlich entkleidet wurde.
Da lagen sie vor ihm, seine Leute. Lebendig waren sie in seinen Augen Narren gewesen. Im Tod, so halb nackt und hilflos, wirkten sie nur noch erbärmlich. Nicht närrisch. Einfach nur schrecklich erbärmlich. Der Geruch aufgerissener Därme und rohen Fleisches hätte ihn beinah in Panik versetzt.
Ihre Wunden ... Zuerst konnte Ike nichts anderes als diese schrecklichen Wunden sehen. Er konzentrierte sich auf ihre Nacktheit. Er schämte sich für diese armen Leute und für sich selbst. Es kam ihm wie die Sünde selbst vor, diese Vielfalt an Schambehaarung, entblößter Schenkel und wahllos dargebotener Brüste vor sich zu sehen. Bäuche, die nicht mehr eingezogen, Brustkörbe, die nicht mehr gereckt werden konnten.
Schockiert stand Ike vor ihnen und ließ die Einzelheiten auf sich einwirken: da eine matte Rosentätowierung, dort die Narbe eines Kaiserschnitts, die Spuren von Chirurgen und Unfällen, die Ränder von Bikinibräune. Einiges davon war nicht für fremde Augen bestimmt, nicht mal denen der Geliebten, anderes war gelegentlichem Entblößen vorbehalten. Nichts davon sollte auf diese Art und Weise gesehen werden.
Ike zwang sich, die Sache hinter sich zu bringen. Fünf Leichen lagen vor ihm, eine davon männlich - Bernard. Dann fing er an, die Frauen zu identifizieren, doch in einem Anfall von Erschöpfung wollte ihm kein einziger Name mehr einfallen. Momentan gab es nur eine, die wirklich zählte, und die war nicht dabei.
Die zersplitterten Enden sehr weißer Knochen staken aus Wunden, die aussahen, als hätte sie ein Rasenmäher verursacht. Unterleibshöhlen klafften auf. Einige Finger waren verdreht, andere gleich an der Wurzel herausgerissen. Oder abgebissen? Der Kopf einer Frau war völlig eingeschlagen. Sogar ihr Haar war unter dem geronnenen Blut nicht zu erkennen, doch Gott sei Dank war dieses arme Geschöpf nicht Kora.
Jetzt setzte die Vertrautheit ein, die man als Betrachter auch mit Opfern eingeht. Ike legte eine Hand an den stechenden Schmerz hinter seinen Augen und machte sich abermals an die Arbeit. Sein Licht wurde schwächer. Er fand keine Erklärung für das Massaker. Was auch immer ihnen zugestoßen sein mochte, konnte jederzeit auch ihm zustoßen.
»Hiergeblieben, Crockett!«, befahl er. Eins nach dem anderen. Er zählte sie an den Fingern ab: sechs hier, Cleo weiter oben im Tunnel, Kora irgendwo anders. Also fehlte Owen immer noch.
Ike trat zwischen die Leichen und suchte nach Hinweisen. Mit derart extremen Wunden hatte er nur sehr wenig Erfahrung, doch ein paar Dinge ließen sich von ihnen immerhin ablesen. Den Blutspuren nach zu schließen, musste es sich um einen Hinterhalt gehandelt haben. Und der Kampf hatte sich ohne Schusswaffengebrauch abgespielt. Es gab keine Schusswunden. Auch gebräuchliche Messer kamen nicht in Frage. Die Fleischwunden waren zu tief und so eigenartig verteilt -da quer über den Oberkörper, dort an der Hinterseite der Beine -, dass Ike sich nur eine mit Macheten bewaffnete Bande vorstellen konnte. Dabei sah es eher wie der Angriff wilder Tiere aus, insbesondere die grauenhafte Verletzung, bei der ein Schenkel fast ganz vom Knochen gerissen war.
Aber welche Tiere lebten kilometertief im Inneren der Berge? Welches Tier legte seine Opfer ordentlich in Reih und Glied? Welches Tier legte eine so unbeherrschte Wildheit und zugleich ein derart methodisches Vorgehen an den Tag? Eine so systematisch durchgeführte Raserei? Die Extreme deuteten auf einen psychotischen Zustand hin. Und das wiederum war sehr menschlich.
Vielleicht gab es ja Menschen, die so etwas anrichten konnten. Aber Owen? Er war kleiner als die meisten dieser Frauen. Und langsamer. Trotzdem waren diese bedauernswerten Leute wenige Meter voneinander entfernt überfallen und niedergemetzelt worden. Ike versuchte, sich in die Lage des Mörders zu versetzen, sich die Geschwindigkeit und die Kraft vorzustellen, deren es bedurfte, um eine solche Tat zu begehen.
Es gab noch mehr Geheimnisse. Erst jetzt fielen Ike die wie Konfetti um die Toten verstreut herumliegenden Goldmünzen auf. Es sah beinahe wie eine Abrechnung aus, dachte er, ein Entgelt dafür, dass man sie ihres Eigentums beraubt hatte. Denn den Toten fehlten Ringe, Armbänder, Halsketten und Uhren. Alles weg. Handgelenke, Finger und Hälse waren nackt. Ohrringe waren aus den Läppchen gerupft, Bernards Augenbrauenring einfach abgerissen worden.
Bei diesen Schmucksachen hatte es sich um wenig mehr als Glasperlen, Modeschmuck und anderen Nippes gehandelt, denn Ike hatte seine Leute ausdrücklich darauf hingewiesen, ihre Wertsachen zu Hause in den Vereinigten Staaten oder wenigstens im Hotelsafe zurückzulassen. Trotzdem hatte sich jemand die Mühe gemacht, das ganze Zeug mitgehen zu lassen - und anschließend als Bezahlung echte Goldmünzen zurückgelassen, die tausendmal mehr wert waren als das, was gestohlen worden war.
Das ergab keinen Sinn. Noch sinnloser war es, hier herumzustehen und zu versuchen, dem Ganzen einen Sinn zu verleihen. Normalerweise war Ike nicht der Typ, der nicht wusste, was zu tun war, weshalb ihn seine Ratlosigkeit umso heftiger traf. Sein moralischer Kodex schrieb ihm vor, an Ort und Stelle auszuharren, das Verbrechen zu untersuchen und, wenn schon nicht seine Weggefährten, so doch wenigstens einen lückenlosen Bericht von ihrem Ableben zurückzubringen. Die Ökonomie der Angst gebot ihm, schleunigst das Weite zu suchen und zu retten, was noch zu retten war. Aber wohin sollte er fliehen, welches Leben gab es noch zu retten? Das war die Qual der Wahl: In einer Richtung wartete Cleopatra in Lotosposition im weißen Licht, in der anderen wartete, nicht ganz so sicher, Kora. Aber hatte er sie nicht eben noch singen gehört?
Sein Lichtkegel trübte sich braun ein. Ike zwang sich, die Taschen seiner toten Schutzbefohlenen zu durchwühlen. Ganz bestimmt hatte einer von ihnen noch Batterien oder eine zweite Taschenlampe oder etwas zu essen. Doch sämtliche Taschen waren aufgeschlitzt und geleert worden. Der Wahnsinn dieses Gedankens traf ihn mit voller Wucht. Warum die Taschen und sogar das Fleisch darunter zerfetzen? Das war kein gewöhnlicher Raubüberfall. Ike kämpfte seinen Ekel nieder und versuchte, die Einzelheiten zu bündeln: den Verstümmelungen nach zu urteilen, ein im Rausch der Raserei begangenes Verbrechen, zog man jedoch den Diebstahl in Betracht, ein irrsinniges Beschaffungsdelikt. Es ergab immer noch keinen Sinn.
Mit einem letzten Flackern erlosch seine Lampe.
Dunkelheit umfing ihn. Das Gewicht des Berges schien ihn niederzudrücken. Ein Windhauch, den Ike zuvor nicht wahrgenommen hatte, ließ an eine gewaltige mineralische Atmung denken, als erwachte ein Moloch zum Leben. Der Atem führte einen feinen Gasgeruch mit sich, nicht unangenehm, aber er schien von sehr, sehr weit herzukommen.
Mit einem Mal musste er sich nicht mehr auf seine Vorstellungskraft verlassen. Dieses kratzende Geräusch von Fingernägeln auf Stein meldete sich zurück. Diesmal gab es an seiner Wirklichkeit nichts zu deuten. Es kam aus dem oberen Tunnel auf ihn zu. Und diesmal war Koras Stimme ein Teil des Geräuschs.
Sie hörte sich an wie in Ekstase, wie kurz vor dem Orgasmus. Oder wie seine Schwester damals, in dem Augenblick, in dem ihre kleine Tochter aus ihrem Schoß ins Licht der Welt drängte. Entweder das oder es handelte sich um den Ausdruck abgrundtiefer, namenloser Todesqualen. Das Stöhnen oder Brüllen oder Gewinsel bettelte um ein Ende.
Beinahe hätte er sie gerufen. Doch dieses andere Geräusch schnürte ihm die Kehle zu. Der Kletterer in ihm hatte es als absichtlich kratzende Fingernägel identifiziert, wobei das zerrissene Fleisch, das dort in der Dunkelheit lag, eher die Vorstellung von Krallen und Klauen hervorrief. Erst sträubte er sich gegen die Logik, nahm sie dann jedoch rasch an. Na schön. Klauen. Ein wildes Tier. Ein Yeti. Das musste es sein. Was jetzt?
Das grauenhafte Duett aus Frauenstimme und wildem Tier kam näher. Kämpfen oder flüchten? Weder noch. Beides war aussichtslos. Er tat das, was er tun musste, besann sich auf den Trick der Überlebenskünstler: Er versteckte sich am Ort des Geschehens. Wie ein Gebirgsbewohner, der in den warmen Bauch des toten Büffels kriecht, legte sich Ike zwischen die Leichen auf den kalten Boden und zog die Toten über sich.
Es war abscheulich, die reinste Sünde. Während er sich in absoluter Dunkelheit zwischen die Leichname drängte, einen glatten weichen Schenkel über sein Bein und einen kalten Arm über seine Brust legte, spürte Ike die Last der Verdammnis. Indem er sich tot stellte, ließ er einen Teil seiner Seele fahren. Im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte gab er alle Aspekte seines Lebens auf, um es zu erhalten. Der einzige Anhaltspunkt für die Gewissheit, dass ihm das hier tatsächlich widerfuhr, war die Tatsache, dass er es nicht glauben wollte.
»Lieber Gott«, flüsterte er.
Die Geräusche wurden lauter. Jetzt galt es nur noch eine letzte Wahl zu treffen: die Augen zu schließen oder sie für ohnehin nicht zu sehende Anblicke zu öffnen. Er schloss sie.
Mit dem unterirdischen Hauch wehte Koras Geruch über ihn hinweg. Er hörte sie stöhnen. Ike hielt den Atem an. Noch nie zuvor hatte er so viel Angst gehabt. Seine Feigheit war wie eine Offenbarung.
Sie - Kora und ihr Peiniger - kamen um die Ecke. Ihre Atmung klang gequält. Sie lag im Sterben. Ihre Qual war unermesslich, jenseits aller Worte.
Ike spürte Tränen über sein Gesicht rinnen. Er weinte um sie. Weinte um ihre Qual. Er weinte auch um seinen verlorenen Mut. Dass er einfach nur still dalag und ihr nicht half. Er war keinen Deut besser als jene Bergsteiger, die ihn einmal auf einem Grat zurückgelassen hatten, weil sie ihn für tot hielten. Noch während er dem hämmernden Pochen seines Herzens lauschte und spürte, wie ihm die Toten in ihrer Umarmung näher kamen, gab er Kora für sein eigenes Leben auf. Mit jeder vergehenden Sekunde gab er sie mehr auf. Er war verdammt.
Ike blinzelte seine Tränen weg, verachtete sie, schämte sich seines Selbstmitleids. Dann öffnete er die Augen, um sich der Situation wie ein Mann zu stellen. Vor Überraschung hätte er sich beinahe verschluckt.
Es war immer noch dunkel, aber nicht mehr so pechschwarz. In der Dunkelheit standen Worte geschrieben. Sie leuchteten und wanden sich wie Schlangen.
Er war es.
Isaak war auferstanden.
Haben Sie sich je in dichtem Nebel auf See befunden,
der einen wie eine greifbare,
weiße Finsternis einzuschließen scheint,
während das große Schiff seinen Kurs längs
der Küste verfolgt und man mit klopfendem Herzen
irgendein Ereignis erwartet?
HELEN KELLER Mein Weg aus dem Dunkel