22 Üble Winde

IN DEN DOLOMITEN

Seit dem Abend, an dem sie zum ersten Mal zusammengekommen waren, hatten die Gelehrten auf diesen Tag zugearbeitet. Monatelang hatten sie ihre Reisen wie eine Hand voll Würfel über die Weltkarte geworfen. Endlich saßen sie wieder beisammen, beim Essen in de l’Ormes Burg auf einem Schwindel erregend hohen Kalksteinfelsen.

»Ist es nicht herrlich hier?«, sagte de l’Orme. Er hatte ihnen bereits von den Ursprüngen der Burg berichtet: Ein deutscher Kreuzritter war vor den Mauern von Jerusalem verrückt geworden und auf diese Felsen hier verbannt worden. Es war eine vergleichsweise kleine Burg. Das beinahe perfekte, direkt an den Rand des Felssturzes gebaute Rund erinnerte ein wenig an einen Leuchtturm. Der Esssaal war kahl, die Wände nackt, nicht einmal ein Gobelin oder ein Keilerkopf hingen dort. De l’Orme hatte keinen Bedarf an Dekor.

De l’Orme schlug vor, auf ihre großzügigen Herzen und ihren sogar noch großzügigeren Appetit zu trinken. Er war zwar der Gastgeber, doch es war nicht direkt seine Party. Thomas hatte das Treffen einberufen, nur wusste bislang niemand so recht, warum. Seit seiner Ankunft hatte sich Thomas in brütendes Schweigen gehüllt. Doch zunächst widmeten sie sich der Mahlzeit.

Eine heiße Suppe und der Wein erweckten ihre Lebensgeister wieder, und sie erfreuten sich an der Gesellschaft ihrer Gefährten. Die meisten waren einander zu Beginn ihrer gemeinsamen Aufgabe noch fremd gewesen, und seitdem Thomas sie in alle Winde zerstreut hatte, waren sich nur einige von ihnen zwischendurch wieder begegnet. Doch mittlerweile fühlten sie sich ihrer gemeinsamen Aufgabe so stark verpflichtet, dass sie ebenso gut Brüder und Schwestern hätten sein können. Aufmerksam lauschten alle den Erzählungen der anderen.

January berichtete von der letzten Stunde mit Desmond Lynch am Flughafen von Phnom Penh. Er war auf der Suche nach dem Warlord, der behauptete, sich mit Satan getroffen zu haben. Seither hatte niemand etwas von ihm gehört.

Sie warteten darauf, dass auch Thomas etwas erzählte, aber er war abwesend und melancholisch. Er war spät eingetroffen, hatte eine rechteckige Schachtel mitgebracht und gab sich unnahbar.

»Und wo ist Santos?«, erkundigte sich Mustafah bei de l’Orme. »Ich bekomme allmählich den Eindruck, er kann uns nicht leiden.«

»Er ist nach Johannesburg geflogen«, antwortete de l’Orme. »Es scheint, als habe sich dort eine weitere Gruppe von Hadal ergeben - und zwar einer Hand voll unbewaffneter Minenarbeiter!«

»Das ist schon die Dritte in diesem Monat«, sagte Parsifal. »Eine im Ural, die Zweite bei Yucatan.«

»Fangen wir an«, sagte Thomas abrupt.

Sie hatten lange damit gewartet, ihre Informationen zusammenzutragen. Endlich ging es los. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Austausch in einen allgemeinen gleichberechtigten Ideentausch umschlug. Sie psycho-analysierten Satan wie wissenshungrige Erstsemester. Die Spuren führten in viele Richtungen zugleich. Obwohl sie es besser wussten, übertrafen sie einander genüsslich mit immer wilderen Theorien.

»Ich bin so erleichtert«, gab Mustafah zu. »Ich dachte schon, ich sei der Einzige, der zu derart außergewöhnlichen Schlussfolgerungen gekommen ist.«

»Wir sollten uns an das halten, was wir bestimmt wissen«, erinnerte ihn Foley prüde.

»In Ordnung«, sagte Vera. Doch es wurde nur noch wilder.

Sie kamen darin überein, dass es sich um einen »er« handele. Mit Ausnahme der viertausend Jahre alten sumerischen Sage von Königin Ereschkigal - in Assyrien auch Allatu genannt -, wurde der Herrscher der Unterwelt stets als männliche Erscheinung dargestellt. Selbst wenn der zeitgenössische Satan sich als ganze Führungsclique herausstellen sollte, wurde sie höchstwahrscheinlich von einer männlichen Sensibilität dominiert, einem Drang zum Herrschen und der Bereitschaft, dafür Blut zu vergießen.

Sie extrapolierten aus vorherrschenden Ansichten über das Verhalten Von Alpha-Männchen im Tierreich, über Territorialansprüche und reproduktive Tyrannei. Bei solchen Charakteren war Diplomatie eine unsichere Bank. Eine geballte Faust oder eine leere Drohung stachelten ihn womöglich erst recht an.

Seine Anonymität war eine Fertigkeit, eine Kunst, aber nicht unfehlbar. Er war noch nie gefasst worden. Aber man hatte ihn gesichtet. Niemand wusste genau, wie er aussah, was bedeutete, dass er nie so auftrat, wie man es erwartete. Höchstwahrscheinlich hatte er weder rote Hörner noch gespaltene Hufe noch einen Schwanz mit einem Stachel an der Spitze. Dass er gelegentlich grotesk und animalisch, dann wiederum verführerisch, lüstern und sogar gut aussehend sein konnte, ließ auf Masken, mehrere Statthalter oder Spione schließen. Oder auf eine Folge satanischer Persönlichkeiten.

Die inzwischen nachgewiesene Fähigkeit, Erinnerung von einem Bewusstsein zum anderen zu transferieren, war, laut Mustafah, bezeichnend. Durch Wiedergeburt war eine der Theokratie der Dalai Lamas ähnliche »Dynastie« möglich.

»Vielleicht täte Satan besser daran, einfach auszusterben und sich mit einem Dasein als bloßes Konzept zufrieden zu geben«, meinte de l’Orme respektlos, »als ständig darum zu kämpfen, Wirklichkeit zu werden. Durch die permanente Herumschnüffelei im Lager der Menschheit ist der Löwe zur Hyäne degeneriert. Der Sturm ist zu einem Hauch übler Winde geworden, zu einem Furz in der Nacht.«

»Je mehr ich über die hadalische Kultur erfahre«, sagte Mustafah, »desto überzeugter bin ich davon, dass es sich um eine Kultur im Niedergang handelt. Es kommt mir vor, als sei eine kollektive Intelligenz an Alzheimer erkrankt und verlöre jetzt nach und nach komplett die Orientierung.«

»Ich denke eher an Autismus, nicht Alzheimer«, sagte Vera. »Das Unvermögen, die äußere Welt zu erkennen, und damit auch die Unfähigkeit, etwas zu schaffen. Seht euch nur die Kunstgegenstände an, die von den Hadal aus dem Subplaneten heraufkommen. In den vergangenen drei- bis fünftausend Jahren sind diese Produkte den von Menschenhand geschaffenen immer ähnlicher geworden: Münzen, Waffen, Höhlenkunst, Werkzeuge. Vergleicht das doch mal mit dem Massensterben der hadalischen Bevölkerung! Irgendetwas ist da unten schief gelaufen. Sie haben sich nicht weiterentwickelt. Sie sind bestenfalls Packratten geworden, die von Menschen entwendeten Krimskrams in ihren Stammesnestern horten und immer weniger wissen, wer sie überhaupt sind.«

»Vera und ich haben auch darüber diskutiert«, sagte Mustafah. »Wenn man in den fossilen Dokumenten hunderttausend Jahre zurückgeht, dann sieht es ganz so aus, als hätten die Hadal damals Werkzeuge und sogar Kunstgegenstände aus Metalllegierungen hergestellt, lange bevor die Menschen auf der Erdoberfläche dazu in der Lage waren. Wer weiß, vielleicht haben die Menschen das Feuer überhaupt nicht entdeckt. Vielleicht hat man uns beigebracht, wie man es entfacht! Und jetzt sind diese grotesken Kreaturen in die Barbarei zurückgefallen und ziehen sich in die tiefsten Löcher zurück. Eine traurige Angelegenheit.«

»Die Frage ist nur«, sagte Vera, »ist dieser allgemeine Niedergang für alle Hadal charakteristisch?«

»Und vor allen Dingen«, nickte January, »inwieweit betrifft das alles Satan?«

»Zwischen einem Volk und seinem Anführer besteht immer ein gewisses Wechselspiel«, sagte Mustafah. »Er ist ein Spiegelbild seines Volkes, eine Art umgekehrter Gott.«

»Willst du damit sagen, dass der Anführer sie gar nicht anführt? Dass er vielmehr seinem umnachteten Volk nachfolgt?«

»So ungefähr«, erwiderte Mustafah. »Selbst der isolierteste Despot spiegelt sein Volk wider. Ansonsten wäre er nur ein einsamer Verrückter.«

»Vielleicht ist er ja genau das«, sagte Vera. »Isoliert. Durch sein Genie abgesondert. Deshalb durchwandert er die Welt und versucht, von den Seinen abgeschnitten, sich auch bei uns einzumischen.«

»Sind wir denn so attraktiv für sie?«, fragte sich January.

»Warum nicht? Vielleicht sehen sie ja unsere Zivilisation, unsere intellektuelle wie körperliche Gesundheit sozusagen als ihre Erlösung an? Was, wenn wir für sie - oder für ihn - das Paradies darstellen, so wie ihre Dunkelheit, Barbarei und Unwissenheit für uns immer die Hölle symbolisierte?«

»Und Satan hat genug davon, Satan zu sein?«, fragte Mustafah.

»Genau!«, sagte Parsifal. »Was könnte besser zu ihm passen, dem größten Judas aller Zeiten? Dieser Ratte, die das sinkende Schiff verlässt?«

January öffnete ihnen ihre Handflächen wie rosafarbene Früchte. »Warum so abstrakt?«, fragte sie. »Die Theorie funktioniert auch mit einer ganz simplen Erklärung. Was, wenn Satan heraufgekommen wäre, um mit uns ein Geschäft zu machen? Um Wissen, Information, um das Überleben einzuhandeln. Was, wenn er ebenso fieberhaft nach jemandem sucht, wie wir versuchen, ihn ausfindig zu machen?«

Foleys Bleistift wirbelte wie ein gelber Fächer hin und her. »Genau daran habe ich auch gedacht«, sagte er. »Nur bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass er uns bereits gefunden hat.«

»Was?«, entfuhr es allen Anwesenden gleichzeitig. Nur Thomas blickte mit gerunzelter Stirn in die Runde.

»Wenn es eins gibt, das ich als Unternehmer gelernt habe, dann das, dass neue Ideen immer in Wellen auftreten. Warum sollte es bei der Idee des Friedens anders sein? Warum sollte unser Satan nicht ebenso wie wir an ein Gipfeltreffen oder einen Waffenstillstand gedacht haben?«

»Aber du vermutest, dass er uns bereits gefunden hat.«

»Warum nicht? Wir sind nicht unsichtbar. Das Projekt Beowulf ist bereits seit anderthalb Jahren auf der ganzen Welt aktiv. Wenn Satan auch nur halb so intelligent ist, wie wir annehmen, dann hat er garantiert von uns gehört. Und uns ausfindig gemacht. Vielleicht hat er uns sogar bereits infiltriert.«

»Absurd!«, riefen alle. Aber sie wollten mehr über seine Theorie erfahren.

»Wie steht es denn mit Beweisen?«, fragte Thomas.

»Ja, die Beweise«, sagte Foley. »Es sind deine eigenen Beweise, Thomas. Hast du nicht selbst die Idee ins Spiel gebracht, Satan wolle womöglich mit einem Anführer in Kontakt treten, der so verzweifelt ist wie er selbst? Mit einem Anführer wie beispielsweise diesem Warlord, den Desmond Lynch im Dschungel aufsuchen wollte. Du hast sogar vermutet, dass Satan vielleicht eine Kolonie auf der Oberfläche gründen wolle! Vor aller Augen, in einem Land wie Burma oder Ruanda, an Orten also, die so abgelegen sind, dass sich niemand traut, einen Fuß über ihre Grenze zu setzen.«

»Willst du damit etwa andeuten, ich sei Satan?«, fragte Thomas ironisch.

»Nein. Überhaupt nicht.«

»Da bin ich ja erleichtert. Wer dann?«

Foley setzte alles auf eine Karte: »Desmond Lynch.«

»Was redest du da?«, protestierte January. »Der arme Mann ist verschwunden. Vielleicht haben ihn die Tiger gefressen.«

»Vielleicht. Wenn er sich nun aber in unsere Mitte eingeschlichen hatte? Um unsere Gedanken zu belauschen? Um auf eine Gelegenheit wie diese zu warten, einen Pakt mit einem Warlord zu schließen?«

»Absurd.«

Foley legte den gelben Bleistift ordentlich neben seinen Notizblock. »Wir hatten uns doch auf bestimmte Dinge geeinigt. Dass Satan ein gerissener Betrüger ist. Ein Meister der Verkleidung. Und dass er es womöglich darauf angelegt hat, ein Abkommen zu schließen, um Frieden oder zumindest ein sicheres Versteck zu bekommen, ganz egal. Ich weiß nur, dass Desmond Lynch zuletzt lebend gesehen wurde, als er kurz davor war, in einen Dschungel zu reisen, den niemand zu betreten wagt.«

»Ist dir bewusst, was du da sagst?«, fragte Thomas. »Ich habe den Mann selbst ausgewählt. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten.«

»Satan ist geduldig. Er verfügt über Unmengen von Zeit.«

»Du behauptest, Lynch habe uns von Anfang an etwas vorgemacht? Uns benutzt?«

»Genau.«

Thomas sah traurig aus. Traurig und entschlossen.

»Dann klage ihn selbst an«, sagte er. Mit diesen Worten stellte er seine Schachtel auf den Tisch, mitten zwischen Käse und Obst. Unter den verschiedenen Postaufklebern kamen diplomatische Siegel aus zerbrochenem Wachs zum Vorschein. »Das hier wurde mir vor drei Tagen zugestellt«, sagte Thomas. »Es kam über Rangun und Peking. Es ist auch der Grund dafür, dass ich euch alle hier zusammengerufen habe.«

Lynchs Kopf war in Schellack getaucht worden. Er wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, was diese Behandlung mit seinem dichten, schottischen Haarschopf angestellt hatte, der normalerweise an der rechten Schläfe gescheitelt war. Hinter den leicht geöffneten Lidern konnten sie runde Kieselsteine erkennen.

»Sie haben seine Augen ausgekratzt und Steine eingesetzt«, sagte Thomas. »Womöglich bei lebendigem Leibe. Vermutlich war er auch noch am Leben, als sie ihm das hier antaten.« Er zog eine Halskette aus Menschenzähnen hervor.

»Warum zeigst du uns das?«, flüsterte January.

Mustafah senkte den Blick auf seinen Teller. Foleys Arme lagen schlaff auf den Stuhllehnen. Parsifal war wie vor den Kopf geschlagen.

»Noch etwas«, fuhr Thomas fort. »In seinem Mund fand man Genitalien. Die Genitalien eines Affen.«

»Wie kannst du es wagen«, flüsterte de l’Orme. Er witterte den Tod im Schweigen der anderen. »Hier, in meinem Haus, an meinem Tisch?«

»Ja, ich habe das hier in dein Haus gebracht, an deinen Tisch. Damit ihr nie wieder an mir zweifelt.« Thomas stand da, die großen Knöchel flach auf der Eichenplatte, den misshandelten Kopf vor sich. »Meine Freunde«, sagte er, »- wir sind am Ende angekommen.«

Seine Worte entsetzten sie nicht weniger, als hätte er noch einen zweiten Kopf auf den Tisch gelegt.

»Am Ende?«

»Wir haben versagt.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, widersprach ihm Vera. »Nach allem, was wir erreicht haben?«

»Seht ihr denn nicht den armen Lynch?«, sagte Thomas und hielt den Kopf in die Höhe. »Könnt ihr denn eure eigenen Worte nicht hören? Ist das hier Satan?«

Sie antworteten nicht, und er legte das grauenhafte Beweisstück zurück in die Schachtel.

»Ich bin ebenso dafür verantwortlich wie ihr«, sagte Thomas.

»Ja, ich habe die Möglichkeit in Betracht gezogen, Satan habe Kontakt zu einem irgendwo versteckten Despoten aufgenommen, und das hat euch auf eine falsche Fährte geführt. Aber ist es nicht ebenso wahrscheinlich, dass sich Satan mit einer anderen Sorte von Tyrann in Verbindung gesetzt hat, zum Beispiel mit dem Oberhaupt von Helios? Oder heißt das jetzt, dass ein anderer von uns Satan sein muss? Vielleicht sogar du, Brian? Nein, das glaube ich nicht.«

»Na schön, ich habe mich hinreißen lassen«, warf Foley ein. »Trotzdem sollten wir unsere Suche nicht wegen einer überstürzten Schlussfolgerung anfechten.«

»Der ganze Beowulf-Kreis ist eine überstürzte Schlussfolgerung«, erwiderte Thomas. »Wir haben uns von unserem eigenen Wissen in die Irre führen lassen. Wir kennen Satan keinen Deut besser als zu Beginn unserer Suche. Wir sind am Ende.«

»Ganz bestimmt nicht«, warf Mustafah ein. »Es gibt noch so vieles, was wir herausfinden müssen.«

Alle Gesichter drückten die gleiche Empfindung aus.

»Ich kann die Entbehrungen und die Gefahren nicht mehr rechtfertigen«, sagte Thomas.

»Du musst auch nichts rechtfertigen«, gab Vera trotzig zurück. »Wir alle haben von Anfang an aus eigenen Stücken mitgemacht. Sieh uns an.«

Trotz der schweren Prüfungen und der schweren gesundheitlichen Belastungen waren sie nicht mehr die geisterhaften Gestalten, die Thomas im Metropolitan Museum of Art zusammengerufen hatte, um das Unternehmen aus der Taufe zu heben. Ihre Gesichter waren von südländischer Sonne gebräunt, ihre Haut von Wind und Kälte gegerbt, ihre Augen funkelten vor Abenteuerlust. Sie hatten auf den Tod gewartet, und sein Ruf hatte ihnen das Leben zurückgegeben.

»Die Gruppe möchte eindeutig weitermachen«, sagte Mustafah.

»Außerdem wurde eine weitere Geisterübertragung aus der Erde aufgefangen«, sagte Parsifal. »Von der HeliosExpedition. Der Datumcode nennt den 8. August. Das ist schon fast vier Monate her, ich weiß. Aber immerhin ganze vier Wochen aktueller, als alles andere, was wir bis jetzt empfangen haben. Die digitale Folge muss noch entsprechend verstärkt werden, und es ist auch nur ein Teil einer Nachricht, irgendetwas über einen Fluss. Aber sie sind am Leben. Waren es jedenfalls. Noch vor wenigen Wochen. Wir können uns nicht einfach von ihnen lossagen, Thomas. Sie sind von uns abhängig.«

Parsifals Bemerkung war nicht grausam gemeint, doch sie ließ Thomas’ Kinn auf die Brust sinken. Woche um Woche war sein Gesicht mehr eingefallen. Es war, als würde er von dem, was er da in Gang gesetzt hatte, heimgesucht.

»Nein«, sagte Thomas, »wir haben Lynch an den Dschungel verloren, Rau an den Wahnsinn. Und Branch an seine Besessenheit. Wir haben eine junge Frau tief unter die Erde in den sicheren Tod geschickt. Ich habe euch euren Familien entrissen. Jeder weitere Tag bringt neue Gefahren.«

»Aber Thomas«, sagte Vera. »Wir sind doch freiwillig dabei.«

»Nein«, erwiderte er. »Ich kann das nicht länger gutheißen.«

»Dann hörst du eben auf«, ließ sich de l’Ormes Stimme vernehmen. Hinter seinem Kopf, auf der anderen Seite der Fensterscheibe, ballten sich dunkle Gewitterwolken zu einem spätnachmittäglichen Unwetter zusammen. De l’Ormes Gesicht strahlte zuversichtlich im Widerschein des Kammfeuers. Sein Ton war ernst.

»Wenn du möchtest, kannst du die Fackel weiterreichen«, sagte er zu Thomas, »aber du darfst sie nicht auslöschen.«

»Wir sind so verdammt nahe dran, Thomas«, sagte January.

»Woran?«, fragte Thomas. »Zusammengerechnet verfügen wir über fünfhundert Jahre an Wissen und Erfahrung. Und wohin hat uns das nach anderthalb Jahren intensiver Suche geführt?« Er ließ die Kette mit Lynchs Zähnen wie einen Rosenkranz in die Kiste gleiten. »Zu der Annahme, dass einer von uns Satan sein muss. Meine Freunde, wir haben so lange ins dunkle Wasser gestarrt, dass es sich inzwischen in einen Spiegel verwandelt hat.«

In nicht allzu weiter Entfernung zuckte ein Blitz zwischen zwei Kalksteinnadeln auf. Der Donner ließ den Raum erbeben.

»Du kannst uns nicht aufhalten, Thomas«, sagte de l’Orme. »Wir haben unsere eigenen Mittel. Wir folgen unseren eigenen Geboten. Wir folgen dem Pfad, den du uns gewiesen hast, wohin er uns auch führen mag.«

Thomas setzte den Deckel auf die Schachtel und legte die Hände auf den Pappdeckel. »Dann folgt ihm«, sagte er. »Es schmerzt mich sehr, so etwas sagen zu müssen, aber von diesem Tag an folgt ihr eurem Pfad ohne mich. Meine Freunde, mir fehlt eure Kraft, und mir fehlt eure Überzeugung. Vergebt mir meinen Zweifel. Gott schütze euch.« Er nahm die Schachtel in die Hand.

»Geh nicht«, flüsterte January.

»Auf Wiedersehen«, sagte er und trat in das tobende Gewitter hinaus.


Und mit einem Mal war es kein

unbeschriebener Ort köstlicher

Geheimnisse mehr ...


JOSEPH CONRAD,

Herz der Finsternis

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