19 Kontakt

UNTER DER MAGELLAN-SCHWELLE,

176 GRAD WEST, 8 GRAD NORD

Ali lag schlafend auf dem Boden, als das Lager von heftigen Erdstößen erschüttert wurde. Sie spürte das Beben tief in ihrem Körper. Es schien alle ihre Knochen zu erfassen. Einige Wissenschaftler krümmten sich wie Föten zu einer Kugel zusammen, andere griffen nach der Hand des Nachbarn oder umarmten einander. In einem schrecklichen Schweigen befangen, warteten sie darauf, dass sich die Tunnelwände zusammenschoben oder der Boden unter ihnen wegbrach.

Schließlich rief irgendein Witzbold: »Alles klar. Das war bloß dieser verflixte Shoat! Ständig am Wichsen, der Halunke!« Alle lachten nervös. Es folgten zwar keine weiteren Erdstöße mehr, aber sie waren daran erinnert worden, wie nichtig sie hier unten waren.

Als der Morgen weiter vorangeschritten war, konnten mehrere Frauen aus der Gruppe, mit der sie auf einem Floß saß, in dem feinen Staub, der über dem Fluss hing, riechen, was von dem Erdbeben geblieben war. Pia, eine Planetologin, sagte, der Geruch erinnere sie an den Hof eines Steinmetzes unweit ihres Elternhauses, dort habe es immer genauso gerochen, wenn die Grabsteine poliert und die Namen der Toten sandgestrahlt wurden.

»Grabsteine? Sehr tröstlicher Gedanke«, sagte eine der anderen Frauen.

Um das Gefühl einer Vorahnung zu zerstreuen, sagte Ali: »Seht ihr, wie weiß der Staub ist? Habt ihr schon mal frischen Marmor gerochen, kurz nachdem er mit dem Meißel bearbeitet wurde?« Sie beschrieb ihnen das Bildhauerstudio, das sie einmal in Norditalien besucht hatte. Der Meister war gerade nicht sonderlich erfolgreich mit einem weiblichen Akt beschäftigt und bat Ali, für ihn Modell zu stehen, ihm dabei zu helfen, die Gestalt aus dem Steinquader zu befreien.

»Er wollte, dass du dich nackt vor ihn hinstellst?« Pia war entzückt. »Wusste er denn nicht, dass du Nonne bist?«

»Das war ziemlich deutlich zu sehen.«

»Und? Hast du es getan?«

Plötzlich erfasste Ali ein Gefühl von Traurigkeit. »Natürlich nicht.«

Das Leben in diesen finsteren Gängen und Stollen hatte sie verändert. Sie war darauf gedrillt worden, ihre Identität zu verleugnen, damit Gott seine Signatur auf ihr hinterlassen konnte. Jetzt verlangte es sie mit aller Verzweiflung danach, in Erinnerung zu bleiben, wenn auch nur als kaltes Stück bearbeiteter Marmor.

Die Unterwelt hinterließ auch bei den anderen ihre Spuren. Als Anthropologin beobachtete Ali die Metamorphose der Gruppe mit beruflicher Neugier. Das Aufspüren der jeweiligen Eigenheiten war, als sähe man einem Garten beim Wuchern zu. Die Teilnehmer nahmen seltsame Gewohnheiten an, etwa eine besondere Methode, sich die Haare zu kämmen oder ihre Rettungsanzüge bis zum Knie oder zur Schulter aufzurollen. Viele Männer hatten sich angewöhnt, mit nacktem Oberkörper herumzulaufen und die obere Hälfte ihrer Anzüge wie eine abgestreifte Haut um die Hüfte baumeln zu lassen. Deodorant war ein Gerücht aus der Vergangenheit, doch man nahm die Körpergerüche, bis auf die einiger bedauernswerter Teilnehmer, kaum mehr wahr. Besonders Shoat war für die Ausdünstungen seiner Füße bekannt. Einige Frauen flochten sich Perlen oder Muscheln ins Haar. Es sei nur zum Spaß, sagten sie, doch ihre Kreationen wurden von Woche zu Woche ausgefallener.

Manche der Soldaten verfielen in einen bestimmten Banden-Slang, wenn Walker nicht in der Nähe war, und ihre Waffen waren mit einem Mal mit wilden Schnitzereien überzogen. Sie kratzten Tiere, Bibelzitate oder die Namen ihrer Freundinnen in Plastikgriffe und -kolben. Sogar Walker hatte sich den Bart zu einem langen mosaischen Busch stehen lassen, der für die Höhlenläuse, die sie beständig peinigten, der reinste Garten Eden sein musste.

Ike unterschied sich nicht mehr allzu sehr von ihnen. Nach dem letzten Zwischenfall hatte er sich noch rarer gemacht. An vielen Abenden bekamen sie ihn überhaupt nicht zu Gesicht, nur seinen kleinen Dreifuß mit den grünen Leuchtkerzen, die einen guten Lagerplatz markierten. Wenn er auftauchte, dann nur für ein paar Stunden. Er zog sich in sich zurück, und Ali wusste nicht, wie sie an ihn herankommen sollte. Aber es machte ihr viel aus. Vielleicht lag es daran, dass derjenige aus der Gruppe, der am meisten der Versöhnung bedurfte, sich ihr auch am heftigsten widersetzte. Die andere Möglichkeit war die, dass sie sich verliebt hatte. Aber das wäre, wie sie fand, höchst unvernünftig.

Als Ike wieder einmal über Nacht im Lager blieb, brachte Ali ihm einen Teller Essen ans Flussufer und setzte sich neben ihn.

»Was träumst du?«, fragte sie. Als er die Augenbraue runzelte, fügte sie rasch hinzu: »Du musst es mir nicht sagen.«

»Hast du dich mit den Psychofritzen unterhalten?«, fragte er. »Sie wollten nämlich das Gleiche von mir wissen. Soll wohl sowas wie ein Gradmesser für meine Verlässlichkeit sein, oder? Ob ich auf Hadalisch träume.«

Sie war unentschlossen. Jeder beanspruchte ein Stück von diesem Mann. »Ja, es ist ein Gradmesser. Und nein, ich habe mit niemandem über dich geredet.«

»Was willst du also?«

»Ich will wissen, wovon du träumst. Aber du musst es ja nicht sagen.«

»Gut.«

Sie lauschten dem Wasser. Nach einer Weile überlegte sie es sich anders.

»Doch, du musst es mir sagen!« Sie machte es ihm leicht.

»Ali«, sagte er. »Das willst du bestimmt nicht hören.«

»Mach schon«, redete sie ihm zu.

»Ali«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Ist es so schlimm?«

Plötzlich stand er auf und ging zum Kajak hinüber.

»Wo willst du hm?« Es war alles so merkwürdig. »Hör doch, vergiss die Sache einfach. Ich war zu neugierig, tut mir Leid.«

»Es ist nicht dein Fehler«, sagte er und zog das Boot ins Wasser.

Erst als sich das Boot schon wie ein Pfeil durchs Wasser schob, dämmerte es ihr. Ike träumte von ihr.

Am 28. September erreichten sie das dritte Proviantlager. Seit zwei Tagen hatten sie stärker werdende Signale aufgefangen. Da Walker nicht wusste, welche Überraschungen Helios diesmal für sie bereithielt, und weil er immer noch nicht ganz schlau aus dem Attentatsversuch geworden war, wies er Ike an, sich im Hintergrund zu halten und schickte seine Soldaten voraus. Ike hatte keinerlei Einwände und lenkte sein Kajak zwischen die Flöße der Wissenschaftler.

Dort, wo das Proviantlager sein sollte, rauschte ein gewaltiger Wasserfall. Walker und seine Söldner hatten unweit seines Fußes angelegt und suchten den unteren Teil der Höhlenwände mit ihren starken Bootsscheinwerfern ab. Der Wasserfall ergoss sich aus einer Höhe, die sich sowohl ihren Blicken als auch den Lichtstrahlen entzog, über eine olivgrüne Felswand herab und wirbelte dabei eine Gischtwolke auf, in deren feinem Nebel die Scheinwerfer Regenbogen hervorzauberten. Die Wissenschaftler brachten ihre Flöße ebenfalls ans Ufer und stiegen aus. Irgendeine Besonderheit in der Akustik dieser Sackgasse verwandelte das Tosen des Wasserfalls in ein gleichmäßiges Hintergrundrauschen.

Walker kam herüber. »Der Entfernungsmesser zeigt Null an«, berichtete er. »Das heißt, die Zylinder müssen hier irgendwo sein. Aber außer dem Wasserfall haben wir nichts gefunden.«

Ali schmeckte eine Spur von Meersalz in dem Sprühnebel und blickte in den riesigen Schlund des Schachts hinauf, der sich über ihr in der Dunkelheit auflöste. Inzwischen hatten sie zwei Drittel ihrer Wegstrecke unterhalb des Pazifiksystems zurückgelegt und hielten sich knapp zehn Kilometer unterhalb des Meeresspiegels auf. Über ihnen war nichts als Wasser, und dieses Wasser hier leckte anscheinend durch den Meeresboden.

»Es muss hier irgendwo sein!«, polterte Shoat.

»Sie haben doch ein eigenes Peilgerät dabei«, erwiderte Walker. »Vielleicht funktioniert das ja besser.«

Shoat trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf den flachen Lederbeutel, der um seinen Hals hing. »Das funktioniert nicht bei solchen Sachen«, sagte er. »Es ist speziell für die Transistorenempfänger, die ich unterwegs aussetze, entworfen. Nur für den Notfall.«

»Vielleicht sind die Zylinder auf einem Vorsprang hängen geblieben«, schlug jemand vor.

»Wir sehen nach«, sagte Walker. »Aber unsere Such-geräte sind präzise eingestellt. Die Zylinder müssten hier in einem Radius von sechzig Metern liegen, aber bisher haben wir nicht das Geringste gefunden. Keine Kabel, keine Bohrspuren, nichts.«

»Eins dürfte klar sein«, meinte Spurner. »Ohne den Nachschub gehen wir nirgendwohin.«

Ike fuhr ein Stück weiter flussabwärts, um einige der kleineren Buchten abzusuchen. »Wenn Sie die Dinger finden, lassen Sie die Finger davon. Kommen Sie zurück und sagen Sie uns, wo sie liegen«, wies ihn Walker an. »Jemand hat Sie im Visier, und ich möchte nicht, dass Sie sich in der Nähe befinden, wenn die auf den Knopf drücken.«

Die Expedition teilte sich in mehrere Suchtrupps auf, fand jedoch nichts. Frustriert befahl Walker einigen seiner Soldaten, im groben Ufersand zu graben. Vielleicht waren die Behälter ja überspült und mit Sand bedeckt worden.

Nichts. Die Stimmung wurde gereizter. Als jemand anfing, Berechnungen hinsichtlich der Rationierung ihrer spärlichen Reserven anzustellen, wollte keiner so recht zuhören. Das nächste Proviantlager würden sie erst in fünf Wochen erreichen.

Sie unterbrachen die Suche, um etwas zu essen und ihre Aussichten neu zu überdenken. Ali saß mit einigen anderen an die Flöße gelehnt, den Blick auf den Wasserfall gerichtet. Plötzlich sagte Ethan Troy: »Vielleicht sind sie dort!«

Er zeigte auf den Wasserfall.

»Im Wasser?«, fragte Ali.

»Sonst haben wir ja schon überall gesucht.«

Sie ließen ihr Essen stehen und gingen zum Ufer des Seitenarms, der sich vom Bassin unterhalb des Wasserfalls zum eigentlichen Flussbett erstreckte. Durch die Gischt und das herabstürzende Wasser war nichts zu sehen. Troys Vermutung hatte sich rasch herumgesprochen, und andere schlossen sich ihnen an.

»Jemand muss da durchgehen«, sagte Spurner.

Inzwischen war auch Walker bei ihnen eingetroffen.

»Ab jetzt übernehmen wieder wir«, kommandierte er.

Es dauerte noch eine weitere Viertelstunde, bis Walker einen »Freiwilligen« ausgesucht hatte. Es war ein Riese aus San Antonio, der sich seit einiger Zeit damit beschäftigte, sich Glyphen der Hadal in die Haut zu tätowieren. Ali hatte gehört, wie ihn der Colonel einmal wegen Gotteslästerung zur Schnecke gemacht hatte -vermutlich sollte dieser Erkundungsgang eine Strafe sein. Als sie ihm das Ende eines Seiles umbanden, konnte man sehen, dass er Angst hatte. »Wasserfälle sind nicht mein Ding«, sagte er immer wieder. »El Cap soll das machen.«

»Crockett ist nicht hier«, rief Walker in den Lärm. »Halte dich einfach immer an der Wand.«

Der Soldat zog sich die Haube seines Rettungsanzugs über den Kopf, setzte eine Nachtsichtbrille auf, die er eher als Taucherbrille als der Lichtverstärkung wegen benutzte, und watete langsam ins Wasser, bis er sich kaum wahrnehmbar im Nebel aufgelöst hatte. Sie gaben immer mehr Seil in den Wasserfall, doch nach einigen Minuten ließ die Spannung plötzlich nach. Das Seil wurde schlaff.

Sie zogen am Seil und holten die ganzen fünfzig Meter wieder ein. Walker hielt das Ende in der Hand. »Er hat sich losgebunden«, sagte er und brüllte nach einem zweiten »Freiwilligen«. »Das heißt, hinter dem Wasserfall ist ein Hohlraum. Diesmal aber nicht losbinden! Zieh dreimal kurz am Seil, wenn du die Grotte erreicht hast, und mach es dann an einem Stein oder sonst wo fest. Damit haben wir so etwas wie einen Handlauf, kapiert?«

Der zweite Soldat watete ein wenig zuversichtlicher durch den Wasserfall. Das Seil schlängelte sich hinein, tiefer als beim ersten Mal.

»Wohin geht er bloß da drin?«, wunderte sich Walker.

Das Seil spannte sich und wurde fester angezogen. Der Mann am Ufer wollte sich gerade beschweren, als ihm das Seil aus der Hand gerissen wurde und das Ende zuckend in der Gischt verschwand.

»Wir spielen hier nicht Tauziehen«, belehrte Walker seinen dritten Kundschafter. »Ein paar Mal Rucken reicht völlig aus.« Im Hintergrund witzelten einige Söldner. Ihre Kameraden im Wasserfall hatten sich auf Kosten des Colonel einen kleinen Scherz erlaubt. Die Anspannung ließ deutlich nach.

Walkers dritter Mann marschierte durch den Dunstvorhang, und kurz darauf hatten sie ihn aus den Augen verloren. Doch er tauchte wieder auf. Er war zwar noch auf den Beinen, taumelte jedoch wie ein Betrunkener und schlug wie wahnsinnig mit den Armen um sich. Seine Arme droschen kreiselnd auf ein unsichtbares Gewicht vor ihm ein, etwas, das ihn offensichtlich fest hielt. Der Schwung ließ ihn mitten in seine Zuschauer stürzen. Er landete direkt zwischen ihnen, drehte sich auf den Bauch, krümmte sich und stemmte sich vom Boden weg und stieß ein gurgelndes Grollen aus. Es kam tief aus seinem Inneren, eine Entladung seiner Eingeweide. Dann sackte er zusammen und fiel mit dem Gesicht in den Sand, wo er heftig zuckend liegen blieb.

»Tommy?«, rief einer seiner Kameraden.

Tommy richtete sich noch einmal auf, jedenfalls das, was von ihm noch übrig war, und sie sahen, dass sein Gesicht und sein Rumpf in Fetzen gerissen waren. Dann kippte der Körper nach hinten um.

Erst jetzt erblickten sie den Hadal. Er hockte dort im Sand, wohin Tommy ihn getragen hatte. Im Licht der Scheinwerfer glänzten Maul, Hände und Krallen vom Blut. Der Hadal war geblendet, der Körper so weiß wie ein Tiefseefisch. Ali sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Die Menge wich mit einem Aufschrei von der Kreatur zurück. Ali wurde zu Boden geschleudert. Rings um sie herum fuchtelten Soldaten mit ihren Waffen herum. Neben ihrem Kopf glänzte ein Stiefel. Weiter vorne brach Walker durch die aufgescheuchte Herde. In den wild durcheinander zuckenden Lichtstrahlen sah er mehr wie ein Schatten als ein Mensch aus. Seine Pistole blitzte mehrmals auf.

Der Hadal vollführte einen unmöglichen Sprung auf den olivfarbenen Felsvorsprung. Alle Scheinwerfer richteten sich auf ihn. Er war geisterhaft weiß und, wie es aussah, mit Schuppen oder Schmutz überkrustet.

Walker rannte an der Felswand entlang und feuerte ununterbrochen auf das davonhastende Wesen. Es hielt auf den Wasserfall zu. Doch entweder waren die Steine dort von der Gischt glitschig, oder eine von Walkers Kugeln hatte ihr Ziel getroffen. Der Hadal stürzte. Walker und seine Männer waren sofort da, und dann sah Ali nur noch das Aufblitzen von Mündungsfeuer.

Benommen rappelte sich Ali langsam auf und ging auf die Gruppe aufgeregter Soldaten zu. Ihrem Jubel nach musste es der erste lebendige Hadal sein, den sie jemals gesehen, geschweige denn besiegt hatten. Walkers Spezialistenteam war mit dem Feind keinen Deut besser vertraut als diejenigen, die sie schützen sollten.

»Zurück zu den Booten«, sagte Walker zu ihr.

»Was haben Sie vor?«

»Sie haben unsere Zylinder geklaut«, sagte er.

»Wollen Sie da etwa rein?«

»Erst wenn wir den Wasserfall im Griff haben.«

Sie sah, dass einige Soldaten die größeren Maschinengewehre, mit denen ihre Flöße bestückt waren, in Stellung brachten. Sie waren so eifrig und verbissen bei der Arbeit, dass Ali vor ihrem Enthusiasmus erschrak. Von ihren Aufenthalten in afrikanischen Bürgerkriegsgegenden wusste sie nur zu gut, dass das Ungeheuer, war es erst einmal losgelassen, nicht mehr zurückzurufen war. Das alles passierte viel zu schnell. Sie wollte Ike um sich haben, jemanden, der das Territorium kannte und den Vergeltungsschlag des Colonels verhindern konnte. »Aber zwei von Ihren Leuten sind noch da drin.«

»Gute Frau«, antwortete Walker, »mischen Sie sich nicht in militärische Angelegenheiten.« Auf eine knappe Handbewegung hin führte sie einer der Söldner am Arm zu der Stelle, an der die letzten Wissenschaftler gerade ihre Flöße bestiegen. Ali kletterte an Bord, dann legten sie ab und betrachteten das Spektakel aus sicherer Entfernung.

Walker ließ sämtliche Scheinwerfer auf den Wasserfall richten. Die hohe Wassersäule war jetzt so hell erleuchtet, dass sie wie ein gläserner Drache aussah, der sich heftig atmend am Fels festgekrallt hatte. Walker wies seine Leute an, direkt in den Wasserfall zu feuern.

Ali fühlte sich an den König erinnert, der versucht hatte, den Meereswogen Einhalt zu gebieten. Das Wasser verschlang die Geschosse. Das mächtige Rauschen schluckte die Geräusche fast vollständig, verwandelte das Geschützfeuer in patschendes Feuerwerksgeknatter. Sie verstärkten das Feuer, rissen hier und dort aufplatzende Löcher ins Wasser, die sich jedoch sofort wieder schlossen. Einige der speziell angefertigten Lucifer-Geschosse trafen mit ihren Uraniumköpfen auf den nackten Fels und rissen große Steinsplitter heraus. Ein Soldat feuerte eine Rakete in den Schlund hinter dem Wasserfall, woraufhin sich die flüssige Säule nach außen stülpte und für einen kurzen Moment eine verschwommene Lücke dahinter freigab. Fast im gleichen Augenblick schloss sich die Lücke wieder unter den unablässig herabrauschenden Wassermassen.

Und dann fing der Wasserfall an zu bluten. Im Strahl der mächtigen Scheinwerfer färbte sich das Wasser rot. Kurz darauf war auch der kleine Seitenarm blutrot, die Färbung ergoss sich in den Hauptstrom und wurde flussabwärts mitgerissen. Ali dachte, dass die Farbe Ike zurückrufen müsste, wenn er schon nicht durch den Lärm der Schüsse alarmiert worden war. Das Ausmaß der Aktion, die Walker befohlen hatte, jagte ihr Angst ein. Die mörderischen Hadal niederzuschießen war eine Sache, aber wie es aussah, hatte er soeben die Schlagadern einer gewaltigen Naturkraft aufgerissen. Sie spürte ganz deutlich, dass er etwas Grauenhaftes entfesselt hatte.

»Was in Gottes Namen war dort drin?«, keuchte jemand.

Auf Walkers Signale hin schwärmten seine Soldaten aus. In ihren geschmeidigen Rettungsanzügen wateten sie vorwärts und stellten sich links und rechts vom Wasserfall auf. Dann trat die Hälfte von Walkers Kontingent von beiden Seiten her in den wirbelnden Nebel, während die andere Hälfte direkt von vorne auf die herab stürzende Wasserwand zurobbte, bereit, jederzeit weitere Salven hineinzupumpen. Die Wissenschaftler sahen mit angehaltenem Atem auf ihren schaukelnden Flößen zu.

Mehrere Minuten vergingen. Dann kehrte einer der Männer in seinem glänzenden Neopren-Amphibienanzug zurück und rief:

»Alles klar!«

»Was ist mit den Zylindern?«, schrie ihm Walker zu.

»Sind hier drin«, antwortete der Soldat. Walker und die verbliebenen Männer erhoben sich und gingen ohne ein Wort an die Zurückbleibenden in den Wasserfall.

Schließlich paddelten die Wissenschaftler ans Ufer zurück. Einige hatten Angst davor, dass noch mehr Hadal sich auf sie stürzen könnten. Eine kleine Gruppe, der sich auch Ali anschloss, ging zu dem getöteten Hadal, um ihn sich näher anzusehen. Viel war von dem Wesen nicht mehr übrig. Die Kugeln hatten es praktisch von innen nach außen gewendet.

Zusammen mit den anderen ging Ali dann durch den Wasserfall. Ali knipste ihre Stirnlampe an und schob sich zwischen Wasser und Fels vorwärts. Schließlich erreichten sie eine kugelförmige Grotte.

Die vermissten Zylinder lagen alle drei gleich am Eingang, bedeckt von einem Gewirr dicker Kabel. Vollbeladen wog jeder Zylinder über vier Tonnen - wie hatten die Hadal sie nur in dieses Versteck schleppen können? Zwei der Kabel liefen nach oben in den Wasserfall, was die Vermutung nahe legte, dass ihre Verbindung zur Oberfläche noch intakt war.

Seitlich auf einem Zylinder schimmerten unter der fast gänzlich abgeschliffenen Inschrift HELIOS die Buchstaben NASA geisterhaft durch. Die Außenhülle war von Gewehrkugeln und Granattreffern eingedellt und zerschrammt, sonst aber unversehrt. Die Hadal hatten versucht, den Zylinder mit Steinen und Eisenstäben zu knacken, doch es war ihnen lediglich gelungen, einige der dicken Bolzen abzubrechen. Die Luken waren nach wie vor fest verschlossen. Ali kletterte um einen Haufen Seile und Kabel herum und erkannte in dem ersten Leichnam, den sie entdeckte, Walkers ersten Freiwilligen, den hünenhaften Teenager aus San Antonio. Sie hatten ihm mit bloßen Händen die Kehle herausgerissen.

Weiter drinnen hatten Walkers Leute chemische Fackeln auf Vorsprünge gelegt oder in Felsspalten geklemmt, von wo aus sie jetzt im gesamten Gewölbe einen grünen Schimmer verbreiteten. Der Rauch von den Explosionen hing wie nasser Nebel in der Luft. Die Soldaten umkreisten die Toten. Ali warf einen raschen Blick auf die großen Haufen aus Fleisch und Knochen, hob den Kopf jedoch sofort wieder, um die aufkommende Übelkeit zu ersticken. Die Wände schienen in dem grünen Licht Feuchtigkeit auszuschwitzen, doch was da schimmerte, war Blut. Es war überall.

Einige Soldaten starrten Ali mit großen Augen an. Von ihrem früheren Übereifer war nicht viel übrig geblieben.

»Das sind alles Frauen«, murmelte ein Soldat.

»Und kleine Kinder.«

Ali musste genauer hinsehen, als ihr lieb war, hinter die tätowierte Haut und die Gesichter mit den buschigen Augenbrauen. Sie musste nach ihren Geschlechtsorganen und nach ihrer Zartheit suchen, doch dann sah sie, dass die Worte des Soldaten der Wahrheit entsprachen.

»Säue und Ferkel«, scherzte einer in dem Versuch, die Schmach ein wenig herunterzuspielen. Aber niemand lachte. So etwas gefiel ihnen nicht: Keine Waffen, kein einziger Mann. Sie hatten Unschuldige abgeschlachtet.

Über ihnen tauchte ein Soldat in der Öffnung einer Seitenhöhle auf, brüllte etwas herunter und wedelte mit den Armen. Beim Rauschen des Wasserfalls war er unmöglich zu verstehen, doch Ali bekam das Gespräch aus einem Walkie-Talkie gleich neben ihr mit.

»Sierra Victor, hier Fox Eins. Colonel«, berichtete eine aufgeregte Stimme, »wir haben hier Überlebende gefunden. Was sollen wir mit ihnen tun?«

Ali sah, wie Walker sich zwischen den Toten erhob und die Hände nach seinem eigenen Walkie-Talkie ausstreckte, und sie ahnte, welchen Befehl er geben würde. Er würde den Soldaten einfach befehlen, ihren Job zu beenden. Walker hob das Walkie-Talkie an den Mund.

»Warten Sie!«, schrie Ali und rannte auf ihn zu.

Sie sah, dass er genau wusste, was sie von ihm wollte.

»Hallo Schwester!«, begrüßte er sie.

»Tun Sie es nicht!«, erwiderte sie.

»Sie sollten mit den anderen wieder hinausgehen«, lautete seine Antwort.

»Nein.«

In diesem Augenblick brüllte ein Mann aus Richtung Eingang, und alle drehten sich zu ihm um. Es war Ike.

Vom tosenden Wasser eingerahmt stand er auf den Zylindern. »Was haben Sie bloß angerichtet?«

Er hob ungläubig die Hände und stieg von den Zylindern herab. Sie sahen zu, wie er auf eine Leiche zuging und vor ihr niederkniete. Er legte seine Flinte neben sich auf den Boden, zog die Leiche einer Frau an den Schultern hoch. Ihr Kopf fiel zur Seite, weißes Haar kräuselte sich um die Hörner, die Zähne waren gebleckt. Sie waren zu nadelscharfen Spitzen gefeilt. Ike ging fast zärtlich mit ihr um. Er richtete den Kopf wieder auf, blickte in das Gesicht, roch hinter ihrem Ohr und legte sie wieder auf den Boden. Direkt neben ihr lag ein kleiner Hadal. Ike wiegte ihn so behutsam in den Armen, als wäre er noch am Leben.

»Ihr habt keine Ahnung, was ihr da angerichtet habt«, sagte er mit hohler Stimme.

»Hier Sierra Victor, Fox Eins«, murmelte Walker in sein Walkie-Talkie. Er hielt die Hand vor Mund und Sprechmuschel, doch Ali konnte ihn trotzdem hören. »Feuer frei.«

»Was tun Sie da!«, schrie Ali, riss dem Colonel das Funkgerät aus der Hand und fingerte an der Sendetaste herum. »Auf keinen Fall schießen!«, stieß sie hervor und fügte rasch hinzu: »Verdammt noch mal!«

Sie ließ die Sendetaste los, und sofort war eine unsichere, verwirrte Stimme zu hören: »Colonel? Bitte wiederholen Sie, Colonel.«

Walker machte keine Anstalten, das Walkie-Talkie wieder an sich zu nehmen.

»Das konnten wir doch nicht wissen«, sagte einer der Soldaten zu Ike.

»Du warst nicht hier, Mann«, sagte ein anderer. »Du hast nicht gesehen, was sie mit Tommy gemacht haben!« »Was habt ihr denn erwartet?«, fuhr Ike sie grollend an. Sie verstummten sofort. Ali hatte ihn noch nie so aufgeregt gesehen. Und woher kam diese Stimme bloß?

»Ihre kleinen Kinder!«, polterte Ike.

Sie wichen ängstlich vor ihm zurück.

»Es waren Hadal«, sagte Walker.

»Genau«, erwiderte Ike. Er hielt das zerschmetterte Kind auf Armeslänge von sich und untersuchte das kleine Gesicht, dann drückte er den Körper an sein Herz. Er nahm sein Gewehr und erhob sich.

»Das sind wilde Tiere, Crockett.« Walker sprach so laut, dass alle ihn hören konnten. »Sie haben uns drei Mann gekostet. Sie haben unsere Zylinder gestohlen und hätten sie aufgebrochen. Hätten wir sie nicht angegriffen, hätten sie unsere Vorräte geplündert - und das wiederum hätte unseren Tod bedeutet.«

»Das hier«, entgegnete Ike und streckte ihm das tote Kind entgegen, »das ist euer Tod!«

»Wir sind ...«, hob Walker an.

»Damit habt ihr euch selbst umgebracht«, sagte Ike jetzt etwas ruhiger.

»Das reicht, Crockett. Schließen Sie sich der menschlichen Rasse an. Oder gehen Sie zu denen zurück!«

Das Walkie-Talkie in Alis Hand fing wieder zu quäken an. Sie hielt es hoch, damit Ike die Worte auch verstehen konnte. »Sie fangen an herumzulaufen. Bitte um Bestätigung. Sollen wir das Feuer eröffnen oder nicht?«

Walker entriss ihr das Gerät, doch Ike war ebenso schnell. Ohne zu zögern richtete er die Mündung seiner abgesägten Flinte auf das Gesicht des Colonels. Walkers Mund zuckte.

»Gib mir das Kind«, sagte Ali zu Ike und nahm ihm den kleinen Jungen ab. »Wir haben etwas anderes zu tun, finden Sie nicht, Colonel?«

Walker blickte sie mit vor Zorn aufgerissenen Augen an. »Nicht schießen«, schnarrte er in das Walkie-Talkie. »Wir sehen uns die Sache an.«

Der Steinboden unter ihren Füßen war uneben, und sie mussten tiefen Löchern ausweichen. Sie kletterten eine glitschige Schräge zu der höher gelegenen zweiten Grotte hinauf. Der tödliche Geschosshagel war, mit Ausnahme einiger Querschläger, die genug Unheil angerichtet hatten, nicht bis hier vorgedrungen. Bevor sie die obere Ebene erreicht hatten, kamen sie an weiteren Leichen vorbei.

Die Überlebenden drängten sich in einer Nische aneinander. Es sah aus, als spürten sie die Lichtstrahlen auf der Haut. Ali zählte insgesamt sieben Hadal, zwei davon waren noch sehr jung. Sie waren stumm und bewegten sich nur dann, wenn jemand seine Stirnlampe zu lange auf sie richtete.

»Mehr nicht?«, fragte Ike die Soldaten, die den ängstlichen Haufen bewachten.

»Noch die dort drüben. Die wollten abhauen.« Der Mann zeigte auf elf oder zwölf Leute, die in der Nähe einer Tunnelmündung auf dem Boden lagen.

Die Hadal hielten die Gesichter vom Licht abgewandt, die Mütter schützten ihre Kinder. Ihre Haut leuchtete. Wenn sich die Muskeln bewegten, setzten sich die Tätowierungen und Narben wellenförmig in Bewegung.

»Sind die alle so schrecklich fett, oder was?«, fragte ein Söldner Walker.

Mehrere der Weibchen waren tatsächlich fettleibig. Genauer ausgedrückt waren sie steatopygisch, mit gewaltigen Fettreserven in Hinterbacken und Brüsten. In Alis Augen sahen sie genauso aus wie die in Stein gekratzten oder auf Felswände gemalten steinzeitlichen Venusfiguren. So dick und verziert und mit dem eingefetteten Haar sahen sie wahrhaftig prächtig aus.

»Diese Frauen sind heilig«, sagte Ike. »Sie sind geweiht.«

»Aus Ihrem Mund hört es sich an, als wären es vestalische Jungfrauen«, höhnte Walker.

»Ganz im Gegenteil. Das hier ist eine Art Brutstätte. Hier leben die Schwangeren und die Mütter, die gerade entbunden haben, die Säuglinge und die kleinen Kinder. Die Hadal wissen, dass ihre Rasse vom Aussterben bedroht ist. Deshalb werden die schwangeren Frauen an solche geschützten Orte wie diesen gebracht. Sie leben hier ungefähr so wie in einem Harem.« Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Oder in einem Kloster.«

»Was wollen Sie uns mit all dem sagen?«

»Hadal sind Nomaden. Sie gehen je nach Jahreszeit auf Wanderschaft. Solange sie unterwegs sind, hält jeder Stamm seine Frauen, um sie besser schützen zu können, immer in der Mitte der Karawane.«

»Schöner Schutz«, meldete sich ein Soldat zu Wort. »Wir haben soeben ihre nächste Generation in Hackfleisch verwandelt.«

Ike antwortete nicht.

»Moment mal«, meinte Walker. »Heißt das, wir haben ihre Kette genau in der Mitte erwischt?«

Ike nickte.

»Das heißt, vor und hinter uns befinden sich die Männchen?«

»Pech«, sagte Ike. »Richtiges Pech. Ich glaube, wenn sie hier eintreffen, sollten wir verschwunden sein.«

»Na schön«, nickte Walker. »So, jetzt haben wir uns alles angesehen. Bringen wir die Sache hinter uns.«

Sofort stellte sich Ike zwischen die Hadal. Ali konnte seine Worte nicht deutlich genug hören, erkannte jedoch das Auf und Ab in seinem Tonfall, unterbrochen von gelegentlichem Zungenschnalzen. Die Frauen antworteten überrascht, und ebenso verdutzt richteten die Soldaten ihre Waffen auf sie. Walker warf Ali einen raschen Blick zu, und mit einem Mal hatte sie Angst um Ikes Leben.

»Wenn auch nur eine von ihnen versucht wegzulaufen, eröffnet ihr das Feuer auf die ganze Bande«, befahl Walker seinen Leuten.

»Aber El Cap ist noch da drin«, gab ein junger Bursche zu bedenken.

»Und zwar Dauerfeuer«, fuhr ihn Walker zornig an.

Ali löste sich von Walkers Seite, ging zu Ike hinüber und stellte sich ebenfalls in die Schusslime.

»Geh zurück«, flüsterte Ike.

»Ich tue es nicht für dich«, log Ali, »sondern für sie.«

Hände reckten sich, um Ike und sie zu berühren. Die Handflächen waren rau, die Fingernägel abgebrochen und verkrustet. Ike hockte sich zwischen sie, und Ali erlaubte Einzelnen, ihre Hände zu ergreifen und an ihr zu riechen. Sein Stammeszeichen erregte besonderes Interesse. Eine Greisin mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen klammerte sich an seinen Arm. Sie streichelte über die vernarbten Knoten und fragte ihn etwas. Als Ike ihr antwortete, hatte es den Anschein, als weiche sie angewidert zurück. Sie flüsterte mit den anderen, die sofort versuchten, hastig von ihm wegzukommen. Ike, der immer noch in der Hocke saß, senkte den Kopf. Er versuchte es mit einigen anderen Sätzen, doch sie bekamen nur noch mehr Angst.

»Was machst du da?«, erkundigte sich Ali. »Was hast du ihnen gesagt?«

»Ich habe ihnen meinen Hadal-Namen genannt«, sagte Ike.

»Aber du sagtest doch, es sei verboten, ihn laut auszusprechen.«

»Das war es auch. Bis ich ihr Volk verließ. Ich wollte herausfinden, wie schlimm es wirklich um mich steht.«

»Kennen sie dich denn?«

»Sie wissen einiges über mich.«

Der Reaktion der Hadal nach zu urteilen, war sein Ruf nicht der Beste. Sogar die Kinder hatten Angst vor ihm.

Das Walkie-Talkie verkündete, dass zwei der Zylinder geöffnet seien und Shoat eine Verbindung nach oben hergestellt hatte. Ali konnte es Walker vom Gesicht ablesen, dass er von dem Hin und Her genug hatte.

»Das reicht jetzt«, sagte er.

»Lassen Sie sie einfach in Ruhe«, rief ihm Ali zu.

»Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht«, erwiderte Walker. »Ihr Freund Crockett hat doch selbst die Parole ausgegeben, keine Gefangenen zu machen.«

»Colonel«, sagte Ike, »die Hadal zu töten, ist eine Sache, aber ich habe hier einen Menschen bei mir. Wenn Sie sie abknallen, haben Sie einen Mord am Hals.«

Ali nahm an, dass er von ihr redete. Doch er griff zwischen die Hadal und packte eine der Kreaturen, die sich hinter den anderen versteckt gehalten hatte. Sie kreischte auf und biss ihn, doch Ike hielt ihre Arme fest und zog sie heraus. Ali hatte keine Gelegenheit, sie zu sehen. Die anderen klammerten sich an ihre Beine und ließen erst von ihr ab, als Ike nach ihnen trat. »Los«, sagte er zu Ali. »Lauf, solange wir noch können.«

Die Hadal stießen ein durchdringendes Geheul aus. Ali war sicher, dass sie jeden Moment hinter Ike und dem Wesen, das er aus ihrer Mitte gerissen hatte, herstürmen würden.

»Lauf!«, rief Ike und sie rannte in Richtung der Soldaten, die eine Lücke für sie, Ike und seine Beute bildeten. Sie stolperte und fiel hin. Ike stürzte quer über sie.

»Im Namen des Vaters«, intonierte Walker. »Fackelt sie ab.«

Die Soldaten eröffneten das Feuer auf die Überlebenden. Der Lärm war in der kleinen Grotte ohrenbetäubend. Ali hielt sich beide Ohren zu. Das Morden dauerte weniger als zwölf Sekunden. Der ganze Raum stank nach den Ausdünstungen der Waffen, und Ali hörte immer noch eine Frau schreien.

»Hier entlang.« Ein Soldat packte sie am Arm.

»Aber Ike ...«

»Der Colonel sagte sofort«, antwortete er. Ali sah aus dem Augenwinkel, dass an der Höhlenwand ein Handgemenge stattfand, Ike mittendrin. In der anderen Ecke lagen die Reste ihres Massakers. Warum nur, dachte sie und ließ sich von dem Soldaten wegbringen, zurück auf den Boden der ersten Höhle und durch den Wasserfall.

Die nächsten paar Stunden verbrachte Ali wartend in der Nähe der Gischt. Jedes Mal, wenn ein Soldat herauskam, fragte sie nach Ike. Die Leute wichen ihrem Blick aus und gaben keine Antwort.

Endlich tauchte Walker auf. Hinter ihm, von Söldnern geführt, ging das von Ike gerettete Mädchen. Sie hatten die Arme der Frau mit Stricken gefesselt und ihr den Mund mit Klebeband zugeklebt. Auch die Hände waren mit Klebeband aneinander gebunden, außerdem trug sie eine Drahtschlinge wie eine Hundeleine um den Hals, und die Füße waren mit einem Stück Kabel in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Ihre mit geronnenem Blut verschmierte Haut wies Schnitte und Kratzer auf. Trotzdem schritt sie wie eine Königin einher, nackt wie Eva im Paradies.

Ali erkannte, dass sie keine Hadal war. Vom Hals abwärts waren die meisten Vertreter der Spezies Homo in den letzten hunderttausend Jahren einander ziemlich ähnlich geblieben. Ali wusste das und konzentrierte sich auf die Schädelform. Sie war schmal und sehr sapiens. Abgesehen davon erinnerte jedoch wenig an die menschliche Herkunft des Mädchens. Ihre Tätowierungen stellten selbst Ike in den Schatten. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes blendend. Vor lauter Details war der Körper kaum zu sehen. Die Pigmente, die in ihre Haut appliziert worden waren, hatten ihre natürliche braune Hautfarbe so gut wie getilgt. Ihr Bauch war rund, ihre Brüste geschwollen. Sie war von Kopf bis Fuß tätowiert, mit Edelsteinen geschmückt und bemalt. An jeder Zehe trug sie einen dünnen Eisenring. Ali schätzte sie auf nicht älter als vierzehn.

»Unser Kundschafter hat uns davon überzeugt«, sagte Walker, »dass dieses Kind hier womöglich weiß, was uns bevorsteht. Wir brechen auf. Sofort.«

Bis auf den Verlust der drei Soldaten sah es ganz so aus, als seien sie ohne größeren Schaden entkommen. Sie hatten für weitere sechs Wochen Lebensmittel und Batterien erhalten und Helios in einer kurzen Botschaft an die Oberfläche mitgeteilt, dass sie noch am Leben waren. Von einer Verfolgung war nichts zu bemerken, abgesehen davon, dass Ike sie dreißig Stunden ohne Nachtlager weitertrieb. Er machte ihnen Angst.

»Wir werden gejagt«, warnte er immer wieder.

Am 2. Oktober blieben zwei Söldner, die die Nachhut bildeten, spurlos verschwunden. Ihr Fehlen wurde erst zwölf Stunden später bemerkt. Walker war davon überzeugt, dass die Männer ein Floß entwendet und sich auf eigene Faust auf den Rückweg gemacht hatten. Er schickte fünf Soldaten los, die sie verfolgen und zurückbringen sollten. Ike riet ihm davon ab. Kurze Zeit später änderte der Colonel seine Meinung, aber nicht auf Grund von Ikes Warnungen, sondern weil eine Nachricht über das Walkie-Talkie kam. Alle im Lager verstummten, denn man war sicher, dass die beiden Vermissten sich melden und Bericht erstatten würden.

»Vielleicht haben sie sich nur verlaufen«, mutmaßte einer der Wissenschaftler.

Die Nachricht war von vielen Gesteinsschichten verzerrt, doch es war eindeutig eine männliche Stimme mit britischem Akzent, die da aus dem Gerät zu hören war. »Jemand hat einen schlimmen Fehler begangen«, sagte die Stimme. »Ihr habt mir meine Tochter genommen.«

»Wer spricht da?«, wollte Walker wissen.

Ali wusste es. Es war Mollys nächtlicher Liebhaber.

Auch Ike wusste es. Die Stimme gehörte demjenigen, der ihn einst in die Dunkelheit geführt hatte.

Isaak war zurückgekehrt.



Jeder Löwe kommt aus seiner Höhle,

Alle Schlangen beißen;

Lauernde Dunkelheit, schweigende Erde,

Ruhend ihre Schöpfer im Lichtland.


»Die Große Hymne an Aten«, 1350 v. Chr.

Загрузка...