13 Das Grabtuch

VENEDIG

»Ali ist inzwischen noch tiefer unten«, berichtete January, während die Gruppe im Tresorgewölbe auf Bud Parsifal und de l’Orme wartete, die sie hierhergebeten hatten. Die energische Frau hatte beträchtlich an Gewicht verloren, und ihre Nackensehnen waren gespannt wie Fäden, die ihren Kopf aufrecht auf den Schultern hielten. Sie saß auf einem Stuhl und trank Mineralwasser. Branch kauerte neben ihr und blätterte schweigend in einem Venedigführer von Baedecker.

Es war seit mehreren Monaten die erste Zusammenkunft des Projekts Beowulf. Einige Mitglieder hatten sich die ganze Zeit über in Bibliotheken oder Museen vergraben, andere waren draußen in der Welt mit der Befragung von Journalisten, Soldaten, Missionaren und allen möglichen anderen Leuten, die Erfahrung mit der Unterwelt hatten, beschäftigt gewesen. Ihre Suche hatte sie alle völlig in Anspruch genommen.

Jetzt waren sie entzückt, sich in dieser Stadt aufzuhalten.

Die verschlungenen Kanäle Venedigs führten zu tausend geheimen Orten, und auf den sonnendurchfluteten Plätzen spukte noch immer der heitere Geist der Renaissance. Es war blanke Ironie, dass sie an einem vor Licht und Kirchenglocken nur so vibrierenden Sonntag ausgerechnet im Tresorraum einer Bank zusammengekommen waren.

Die meisten von ihnen sahen jünger aus, sonnengebräunt, lockerer und energischer. In ihren Augen loderte wieder der Funke der Neugier. Jeder brannte darauf, den anderen seine Ergebnisse mitzuteilen. January machte den Anfang.

Alis Brief war ihr erst einen Tag zuvor von einem der Wissenschaftler, der die Expedition verlassen hatte und schließlich von Punkt Z-3 freigelassen worden war, überbracht worden. Der Bericht des Forschers und Alis Mitteilungen waren verstörend. Nachdem Shoat mit seiner Expedition aufgebrochen war, hatten die Dissidenten wochenlang inmitten gewalttätiger Außenseiter festgesessen. Frauen wie Männer waren verprügelt, vergewaltigt und bestohlen worden. Schließlich hatte sie der Zug nach Nazca City zurückgebracht. Nachdem sie die Oberfläche erreicht hatten, mussten sie sich alle einer Behandlung hinsichtlich exotischer lithosphärischer Pilze und unterschiedlicher Geschlechtskrankheiten unterziehen, dazu waren die gewöhnlichen Probleme mit dem Druckausgleich gekommen. Doch ihr Missgeschick verblasste im Vergleich mit den sensationellen Nachrichten, die sie mitbrachten.

January gab eine Zusammenfassung der Kriegslist von Helios. Ergänzt durch Absätze aus Alis Brief, skizzierte sie den Plan, den Pazifischen Ozean zu unterqueren und irgendwo in Asien herauszukommen. »Ali ist mitgegangen«, stöhnte sie. »Und das nur meinetwegen. Was habe ich nur getan?«

»Sie können sich nicht dafür verantwortlich machen.« Desmond Lynch stieß seinen Gehstock auf den gefliesten Boden. »Sie ist in die Sache reingerutscht. Wie wir alle.«

»Vielen Dank für den Trost, Desmond.«

»Was hinter dieser Sache bloß steckt?«, fragte jemand. »Die Kosten müssen gewaltig sein, selbst für Helios.«

»Ich kenne C. C. Cooper«, sagte January, »und deshalb befürchte ich das Schlimmste. Es sieht so aus, als buddele er sich dort unten einen eigenen Staat zusammen.« Sie hielt kurz inne. »Ich habe meine Leute ein wenig nachforschen lassen. Sie haben herausgefunden, dass Helios sich tatsächlich auf eine umfassende Inbesitznahme des gesamten Terrains vorbereitet.«

»Aber ... ein eigenes Land?«, staunte Thomas.

»Vergiss nicht«, antwortete January, »dass es sich um den Mann handelt, der fest davon überzeugt ist, dass man ihm das Präsidentenamt mittels einer Verschwörung vorenthalten hat. Er scheint sich dazu entschlossen zu haben, an ganz anderer Stelle noch einmal anzusetzen. An einem Ort, an dem er die Regeln bestimmt. Und zwar alle.«

»Aber das kann er nicht tun. Damit verletzt er internationales Recht, und bestimmt ...«

»Besitz ist alles«, konterte January. »Rufen Sie sich die Konquistadoren in der Neuen Welt in Erinnerung. Sobald sie zwischen sich und ihrem König einen Ozean wussten, hatten sie nichts besseres vor, als sich selbst auf den Thron ihres kleinen Königreichs zu schwingen. Diese Provokationen brachten stets das gesamte Gleichgewicht der Mächte ins Schwanken.«

Thomas machte ein grimmiges Gesicht. »Major Branch, gewiss können Sie die Expedition abfangen. Nehmen Sie Ihre Soldaten, und zwingen Sie diese Invasoren zur Rückkehr, bevor sie einen weiteren Krieg entfachen.«

Branch klappte seinen Reiseführer zu. »Ich fürchte, dazu habe ich keinerlei Ermächtigung, Pater.«

Thomas wandte sich an January: »Er ist dein Soldat. Gib ihm den Befehl dazu. Verleihe ihm die Ermächtigung!«

»So funktioniert das nicht, Thomas. Elias ist nicht mein Soldat. Er ist ein Freund. Und was die Ermächtigung angeht, so habe ich bereits mit dem Befehlshaber der Einsatzgruppen gesprochen, mit General Sandwell. Die Expedition hat die Grenze unseres militärischen Machtbereichs überschritten. Außerdem möchte er, wie du bereits erwähntest, keinesfalls einen neuen Krieg provozieren.«

»Wozu sind all Ihre Kommandotruppen und Spezialisten eigentlich gut? Helios darf seine Söldner in die Wildnis schicken, aber die U.S. Army nicht?«

Branch nickte. »Die Multis laufen dort unten Amok, aber wir müssen streng nach den Regeln spielen. Im Gegensatz zu ihnen.«

»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Thomas. »Dieses Unternehmen kann verheerende Folgen haben.«

»Selbst wenn wir grünes Licht hätten, wäre es wahrscheinlich schon zu spät«, meinte January. »Sie haben zwei Monate Vorsprung, und seit ihrer Abreise haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Wir wissen nicht mal genau, wo sie überhaupt sind. Helios rückt keinerlei Information heraus. Ich bin schon ganz krank vor Sorge. Ali könnte in großer Gefahr sein. Womöglich marschieren sie den Hadal direkt in die Arme.«

Daraufhin brach eine Diskussion darüber aus, wo sich die Hadal versteckten, wie viele von ihnen noch am Leben seien und welche Gefahr eigentlich von ihnen ausgehe. Desmond Lynchs Meinung nach lebten die ohnehin wenigen Hadal weit verstreut und waren bereits in der dritten oder vierten Generation vom Aussterben bedroht. Er schätzte ihre Anzahl weltweit auf nicht mehr als einhunderttausend, eher weniger.

»Sie sind eine gefährdete Spezies«, behauptete er.

»Vielleicht haben sie sich nur zurückgezogen«, mutmaßte Mustafah, der Ägypter.

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Thomas. »Was wäre, wenn ihr Ziel darin bestünde, heraufzukommen? Sich ihren Platz am Licht zu suchen?«

»Glauben Sie, Satan wartet auf eine Einladung?«, fragte Mustafah. »Ich kann mir keine Gemeinde vorstellen, in der man mit solchen Nachbarn Tür an Tür wohnen wollte.«

»Es müsste natürlich ein Ort sein, den sonst niemand will, ein Ort, an den sich niemand traut. Vielleicht eine Wüste. Oder ein Dschungel. Ein Ort ohne Wert.«

»Thomas und ich haben uns bereits darüber unterhalten«, sagte Lynch. »Wo kann sich ein Flüchtiger ab einem gewissen Zeitpunkt verstecken - nur noch ganz offen, unter aller Augen. Und vielleicht gibt es dafür ja bereits hinreichend Beweise.«

Branch hörte aufmerksam zu.

»Wir haben von einem Kriegsherrn der Karen im Süden Burmas gehört, nicht allzu weit vom Territorium der Roten Khmer entfernt«, sagte Lynch. »Man sagt, er habe Besuch vom Teufel gehabt. Womöglich hat er mit unserem flüchtigen Satan gesprochen.«

»Oder aber es handelt sich bei den Gerüchten um nichts anderes als Dschungellegenden«, schwächte Thomas ab. »Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass Satan auf der Suche nach einer neuen Zuflucht ist.«

»Wenn das stimmt, wäre es zu schön, um wahr zu sein«, sagte Mustafah. »Satan führt seine Stämme aus der Unterwelt wie Moses sein Volk nach Israel.«

»Wie können wir mehr darüber in Erfahrung bringen?«, erkundigte sich January.

»Wie du dir ausmalen kannst, kommt der Kriegsherr nicht aus seinem Dschungel heraus, um uns ein Interview zu geben«, sagte Thomas. »Es gibt auch weder telegrafische noch telefonische Verbindungen dorthin. Das gesamte Gebiet ist von Kriegsgräueln und Hungersnöten völlig zerstört. Es ist eine dieser Völkermordzonen, apokalyptisch. Vermutlich hat unser Kriegsherr die Uhr auf das Jahr Null zurückgedreht.«

»Dann bringt uns diese Information überhaupt nichts.«

»Mitnichten«, widersprach Lynch. »Ich habe mich dazu entschlossen, in den Dschungel zu reisen.«

»Das darfst du nicht, Desmond!«, stießen January, Mustafah und Rau, der Unberührbare, wie aus einem Munde hervor. »Das ist viel zu gefährlich!«

Wenn Lynchs Vorhaben zu einem Teil aus Erkenntnisgewinn bestand, so bestand der andere eindeutig aus Abenteuerlust.

»Mein Entschluss steht fest«, erklärte er, wobei er sich in der Fürsorge seiner Kollegen sonnte.

Sie befanden sich in einer Art Käfig mit einer massiven Stahltür und glänzenden Gitterstäben. Dahinter erkannte Thomas ganze Wände mit Tresorfächern und noch mehr Türen mit komplizierten Schließmechanismen. Sie warteten und diskutierten weiter.

»Er muss so eine Art Kublai Khan oder Attila sein«, behauptete Mustafah. »Ein Kriegerkönig wie Richard I., der die gesamte Christenheit zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen aufrief. Eine Gestalt von ungeheurem Ehrgeiz, ein Alexander, Mao oder Cäsar.«

»Dem muss ich widersprechen«, sagte Lynch. »Warum ein kriegerischer Imperator? Bisher haben wir fast ausschließlich Abwehrstrategien und Guerillataktik kennen gelernt. Ich würde sagen, unser Satan ist eher ein Geronimo als ein Mao.«

»Wohl eher Lon Chaney als Geronimo, meiner Meinung nach«, meldete sich eine Stimme. »Eine Figur mit vielen Masken.« Es war de l’Orme, der unbemerkt in den hinteren Tresorraum getreten war.

Im Gegensatz zu den anderen hatte sich de l’Orme noch nicht von den Strapazen seiner monatelangen Detektivarbeit erholt. Der Krebs brannte wie ein Feuer in ihm, leckte an seinem Fleisch und seinen Knochen. Die linke Seite seines Gesichts schmolz buchstäblich dahin, die Augenhöhle versank hinter dunklem Brillenglas. Er gehörte eigentlich in ein Krankenhausbett. Doch obwohl er zwischen diesen Marmorsäulen und Stahlgittern schwach aussah, wirkte er um vieles stärker als beim letzten Treffen, ein Samson mit nur einer Lunge und einer Niere.

Neben ihm standen Bud Parsifal und zwei Dominikanermönche, flankiert von fünf mit Karabinern und Maschinenpistolen ausgerüsteten carabinieri. »Bitte hier entlang«, sagte Parsifal. »Wir haben nicht viel Zeit. Uns bleibt nur eine Stunde, uns das Bild anzusehen.«

Die beiden Dominikaner fingen aufgeregt miteinander zu flüstern an, offensichtlich wegen Branch. Einer der carabinieri stellte sein Gewehr ab und sperrte eine Gittertür auf. Als die Gruppe hindurchging, sagte einer der Dominikaner etwas zu dem carabiniere, woraufhin beide Branch den Eingang versperrten.

»Dieser Mann gehört zu uns«, sagte January zu dem Dominikaner.

»Verzeihung, aber wir sind die Hüter einer heiligen Reliquie«, sagte der Mönch. »Und er sieht nicht wie ein Mensch aus.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass er ein rechtschaffener Mensch ist«, mischte sich Thomas ein.

»Bitte verstehen Sie doch«, erwiderte der Mönch. »Wir leben in bewegten Zeiten. Wir müssen besonders wachsam sein.«

»Ihr habt mein Wort«, wiederholte Thomas.

Der Dominikaner bedachte die Worte des Jesuiten. Zwei konkurrierende Orden. Er lächelte und spielte seine Macht genießerisch aus. Dann wies er die carabinieri mit einem Nicken an, Branch durchzulassen.

Die Gruppe ging im Gänsemarsch tiefer in das Gewölbe hinein und folgte Parsifal und den beiden Mönchen in einen sogar noch größeren Raum. Der Raum blieb abgedunkelt, bis alle eingetreten waren. Dann gingen grelle Lichter an.

Das Grabtuch hing vor ihnen, fast fünf. Meter hoch. So aus der Dunkelheit in gleißende Helligkeit gerissen, machte es einen dramatischen ersten Eindruck. Trotzdem wirkte die Reliquie mehr wie ein langes, ungewaschenes Tischtuch, das allzu vielen Abendessen als Unterlage gedient hatte.

Die Ränder waren angesengt, vergilbt und von Brandflecken und Flicken übersät. Die Mitte nahm, wie eine längliche Ansammlung von Resten verkleckerten Essens das blasse Abbild eines Körpers ein. Das Abbild war wie in der Mitte aufgeklappt, genau am Scheitel des Mannes, und zeigte so seine Vorder- und Rückseite. Er war bärtig und nackt.

Einer der carabinieri konnte sich nicht zurückhalten. Er reichte seine Waffe einem mitfühlenden Kameraden und kniete vor dem Tuch nieder. Ein anderer schlug sich auf die Brust und murmelte mehrere mea culpas.

»Wie Sie wissen«, hob der ältere Dominikaner an, »erlitt die Kathedrale zu Turin bei dem Brand im Jahr des Herrn 1997 großen Schaden. Nur durch heldenmütigen Einsatz konnte das geheiligte Stück selbst vor der Vernichtung bewahrt werden. Bis zum Abschluss der Renovierungsarbeiten in der Kathedrale verbleibt das heilige Tuch an diesem Ort.«

»Aber warum hier, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Thomas unverfänglich. Boshaft. »Warum wurde es aus dem Tempel ausgerechnet in eine Bank gebracht? An einen Ort der Händler und Wucherer?«

Der ältere Dominikaner ließ sich nicht ködern. »Traurigerweise schrecken unsere Mafiosi und Terroristen vor nichts zurück, auch nicht davor, Kirchenrelikte zu entwenden und dafür Lösegeld zu fordern. Der Brand in der Turiner Kathedrale war letztendlich ein Anschlag auf dieses Objekt. Wir kamen überein, dass der Tresor einer Bank der sicherste Ort dafür sei.«

»Nicht der Vatikan?«, hakte Thomas nach.

Der Dominikaner verriet seine Verstimmung nur damit, dass er die Daumenspitzen kaum merklich gegeneinander schlug. Einer Antwort enthielt er sich.

Bud Parsifal blickte von den Dominikanern zu Thomas und wieder zurück. Er hielt sich für den Zeremonienmeister des heutigen Tages und wollte einfach nur, dass alles zur Zufriedenheit aller Anwesenden ablief.

»Worauf zielen Sie ab, Thomas?«, fragte Vera, ebenso verdutzt.

De l’Orme beschloss, darauf eine Antwort zu geben. »Die Kirche hat ihren Schutz verweigert«, erläuterte er. »Aus einem bestimmten Grund. Das Grabtuch ist ein interessantes Kunstwerk. Aber nicht mehr unbedingt glaubhaft.«

Parsifal war empört. Als amtierender Präsident der STURP - dem halbwissenschaftlichen Forschungsprojekt Turiner Grabtuch, Inc. - hatte er seinen ganzen Einfluss geltend gemacht, um diese Führung zu arrangieren. »Was wollen Sie damit sagen, de l’Orme?«

»Dass es eine Fälschung ist.«

Parsifal sah aus wie der Mann, der plötzlich nackt auf der Opernbühne erwischt wird. »Aber warum haben Sie mich um diesen Besuch hier unten gebeten, wenn Sie nicht daran glauben? Was tun wir denn hier? Ich dachte ...«

»Oh, ich glaube sehr wohl daran«, versicherte ihm de l’Orme. »Aber an das, was es ist, nicht an das, als was Sie es gerne sehen würden.«

»Aber es ist ein Wunder«, platzte es aus dem jüngeren Dominikaner heraus. Er bekreuzigte sich fassungslos vor einer derartigen Blasphemie.

»Ein Wunder, das schon«, sagte de l’Orme. »Ein Wunder der Wissenschaft und der Kunst des 14. Jahrhunderts.«

»Die Geschichte besagt, das Abbild sei ein achieropoietos, nicht von Menschenhand geschaffen. Es ist das heilige Grabtuch.« Der Dominikaner zitierte: »>Und Joseph nahm den Leichnam, legte ihn in ein sauberes Leintuch und legte ihn in ein neues Grab.<«

»Ist das Ihr ganzer Beweis, eine Stelle aus der Heiligen Schrift?«

»Beweis?«, warf Parsifal dazwischen. Auch mit fast siebzig steckte noch so einiges von dem ehemaligen amerikanischen Supersportler in ihm. Man konnte ihn fast sehen, wie er durch die gegnerische Reihe brach und das

Spiel nach vorne trieb. »Welchen Beweis brauchen Sie denn? Ich komme schon seit vielen Jahren hierher. Das Forschungsprojekt Turiner Grabtuch hat dieses Stück Dutzenden von Tests unterworfen, Hunderttausende von Stunden und Millionen von Dollar sind auf seine Untersuchung verwandt worden. Viele Wissenschaftler, darunter auch meine Wenigkeit, haben es auf alle möglichen Eventualitäten hin untersucht.«

»Aber ich dachte, Ihre Radiokarbonbestimmung habe ergeben, dass das Leinen zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert hergestellt wurde?«

»Warum stellen Sie mich auf die Probe? Ich habe Ihnen doch bereits von meiner Blitztheorie berichtet«, erwiderte Parsifal.

»Dass eine Explosion nuklearer Energie den Leichnam Christi verklärt und dieses Abbild hinterlassen hat? Selbstverständlich ohne den Stoff in Asche zu verwandeln.«

»Ein gemäßigter Strahlenausbruch«, sagte Parsifal. »Was nebenbei auch zufällig die unterschiedliche Radiokarbondatierung erklärt.«

»Ein gemäßigter Ausbruch radioaktiver Strahlung, der ein Negativbild mit detaillierten Abdrücken von Gesicht und Körper hervorruft? Wie ist das möglich? Bestenfalls könnte so etwas eine Silhouette oder die Ahnung einer Gestalt ergeben. Eher einen großen dunklen Fleck.«

Es waren altbekannte Argumente, die Parsifal mit Standardantworten parierte. De l’Orme sprach andere Schwierigkeiten an, Parsifal gab kompliziertere Erklärungen ab.

»Ich sage doch nichts anderes«, beteuerte de l’Orme schließlich, »als dass man, bevor man niederkniet, sich sehr genau vergewissern sollte, wovor man niederkniet.« Er stellte sich direkt neben das Tuch. »Zu wissen, wer der Grabtuchmann nicht ist, ist eine Sache. Aber heute haben wir die Möglichkeit zu erfahren, wer er ist. Aus diesem Grund habe ich um diesen Besichtigungstermin gebeten.« De l’Orme lächelte.

»Der Sohn Gottes in seiner menschlichen Gestalt«, sagte der jüngere Dominikaner beinahe automatisch.

Der Ältere warf einen raschen Blick auf die Reliquie. Plötzlich weitete sich sein Gesicht vor Erstaunen, seine schmalen Lippen formten ein kleines, fast lautloses O.

Jetzt sah es auch Parsifal. Und mit ihm alle anderen. Thomas wollte seinen Augen nicht trauen.

»Was haben Sie getan?«, stieß Parsifal entsetzt aus.

Der Mann im Grabtuch war kein anderer als de l’Orme.

»Das sind Sie!«, lachte Mustafah. Er war entzückt.

De l’Ormes Abbild war nackt, die Hände waren keusch über den Genitalien verschränkt, die Augen geschlossen, und er trug eine Perücke und einen falschen Bart. Aber zweifelsfrei, der Mann und sein Ebenbild auf dem Tuch hatten die gleiche Größe, die gleiche kurze Nase, die gleichen koboldhaften Schultern.

»Jesus Christus im Himmel!«, jaulte der jüngere Mönch auf.

»Ein jesuitischer Trick!« zischte der andere. »Schwindler!«

»De l’Orme ...«, sagte Foley ungläubig, »was in aller Welt .«

Die carabinieri, von dem plötzlichen Tumult aufgescheucht, verglichen den Mann mit dem Bild und zählten eins und eins zusammen. Vier von ihnen fielen prompt vor de l’Orme auf die Knie, einer drückte sogar die Stirn auf die Schuhe des blinden Mannes. Der fünfte Soldat aber zog sich bis zur Wand zurück.

»Richtig, das auf dem Tuch bin ich«, sagte de l’Orme. »Und ganz richtig, es handelt sich um einen Trick. Aber nicht um einen jesuitischen. Sondern um einen wissenschaftlichen. Alchimie, wenn Sie so wollen.«

»Ergreifen Sie diesen Mann«, rief der ältere Dominikaner.

»Keine Panik«, beruhigte de l’Orme die aufgeregten Dominikaner, »Ihr Original befindet sich im angrenzenden Raum in absoluter Sicherheit. Ich habe es nur zu Demonstrationszwecken gegen das hier ausgetauscht. Ihre Reaktion zeigt mir, dass die Ähnlichkeit meine geheimen Hoffnungen mehr als erfüllt.«

Der ältere Dominikaner ließ seinen zornigen Blick im ganzen Raum umherschweifen und blieb mit dem Ausdruck eines Torquemada an dem fünften carabiniere haften, der immer noch unglücklich an der Wand stand.

»Du!«, sagte er.

Der carabiniere zitterte vor Angst. Also hatte de l’Orme den Soldaten dafür bezahlt, bei diesem kleinen Streich mitzuspielen, dachte Thomas. Der Mann hatte allen Grund dazu, Angst zu haben. Er hatte gerade einen ganzen Orden bloßgestellt.

»Suchen Sie die Schuld nicht bei ihm«, sagte de l’Orme. »Fassen Sie sich an der eigenen Nase, denn Sie selbst sind daran herumgeführt worden. Ich habe Sie auf die gleiche Weise getäuscht, wie das Tuch schon so viele andere getäuscht hat.«

»Wo ist es?«, fragte der Dominikaner erbost.

»Hier entlang, bitte«, erwiderte de l’Orme.

Sie marschierten einer nach dem anderen in den nächsten Raum. Das Grabtuch glich de l’Ormes Fälschung aufs Haar - bis auf das Bild. Der Mann auf diesem Tuch war größer und jünger. Seine Nase war länger. Seine Wangenknochen waren ausgeprägt. Die Dominikaner eilten auf ihre Reliquie zu und wussten nicht, ob sie es zuerst auf Beschädigungen untersuchen oder vor dem blinden Ganoven in Schutz nehmen sollten.

De l’Orme wurde jetzt ganz offiziell. »Ich bin überzeugt davon«, sprach er zu seinem Publikum, »dass Sie mit mir übereinstimmen, dass beide Abbilder durch den gleichen Prozess hervorgerufen wurden.«

»Sie haben das Geheimnis seiner Entstehung gelöst?«, stieß jemand hervor. »Was haben Sie genommen, Farbe?«

»Säure«, schlug ein anderer vor. »Das habe ich schon immer vermutet. Eine schwache Lösung. Gerade genug, um die Fasern anzuätzen.«

De l’Orme war sich ihrer Aufmerksamkeit sicher. »Ich habe mir sämtliche Berichte von Buds STURP wieder und wieder vorlesen lassen. Mir wurde klar, dass der Streich nicht mit Farbe funktionierte. Es gibt so gut wie keine Pigmentspuren. Die wenigen, die festgestellt wurden, stammen wahrscheinlich von Ölbildern, die an das Tuch gedrückt wurden, um von ihm gesegnet zu werden. Es war aber auch keine Säure, da in diesem Fall eine andere Färbung entstanden wäre. Nein, es war etwas völlig anderes.« An dieser Stelle machte er eine dramatische Pause. »Fotografie.«

»Unsinn«, entgegnete Parsifal. »Wir sind dieser Theorie nachgegangen. Ist Ihnen bewusst, wie avanciert dieser Prozess ist? Die dafür benötigten Chemikalien? Die einzelnen Schritte, um eine Oberfläche vorzubereiten, ein Bild zu fokussieren, eine Belichtung zu berechnen und das Endprodukt zu fixieren? Selbst wenn es sich hierbei um ein mittelalterliches Lügengeflecht handelte, welcher Kopf hätte schon vor so langer Zeit die Prinzipien der Fotografie vorwegnehmen können?«

»Jedenfalls kein durchschnittlicher Kopf, das kann ich Ihnen versichern.«

»Sie wissen, dass Sie nicht der Erste sind«, sagte Parsifal. »Es gab vor einigen Jahren schon einmal ein paar Schwachköpfe, die mit dem Einfall kamen, es handele sich um einen Scherz von Leonardo da Vinci. Wir haben ihre verrückte Idee vom Tisch gefegt. Amateure!«

»Ich verfolge einen ganz anderen Ansatz«, konterte de l’Orme. »Eigentlich müssten Sie mir dankbar sein, Bud. Es ist eher eine Bestätigung Ihrer eigenen Theorie.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Ihre Blitztheorie«, antwortete de l’Orme. »Nur dass sie sogar ohne Blitz auskommt. Ihr genügt ein langsames Strahlungsbad.«

»Strahlung?«, wunderte sich Parsifal. »Wahrscheinlich erzählen Sie uns gleich, dass Leonardo Madame Curie zuvorgekommen ist.«

»Es geht hier nicht um Leonardo«, sagte de l’Orme.

»Nicht? Um wen dann? Michelangelo? Picasso?«

»Immer ruhig, Bud«, unterbrach ihn Vera sanft. »Auch wenn Sie es schon kennen, wir anderen würden es sehr gerne erfahren.«

Parsifal schäumte vor Wut. Doch jetzt war es zu spät, das Bild wieder zusammenzurollen und alle hinauszuwerfen.

»Wir haben hier das Abbild eines echten Mannes vor uns«, sagte de l’Orme. »Eines Gekreuzigten. Er ist anatomisch absolut korrekt dargestellt und keine Erfindung eines Künstlers. Beachten Sie die Verkürzung seiner Beine und die Exaktheit dieser Blutspuren, wie sie sich an den Falten in der Stirn verzweigen. Und das Nagelloch im Handgelenk. Diese Wunde ist höchst interessant. Studien zufolge, die an Leichnamen vorgenommen wurden, kann man einen Menschen nicht kreuzigen, indem man seine Handflächen ans Holz nagelt. Das Körpergewicht würde einem das Fleisch aus der Hand reißen.«

Vera, die Ärztin, nickte. Rau, der Vegetarier, schüttelte sich vor Abscheu. Diese Totenkulte gaben ihm immer wieder Rätsel auf.

»Die einzige Stelle, an der man einen Nagel in den Arm eines Menschen treiben und mit diesem Gewicht aufhängen kann, ist hier.« Er drückte einen Finger in die Mitte des eigenen Handgelenks. »Die Destotsche Lücke, ein natürliches Loch zwischen den Handgelenksknochen. Erst vor kurzem haben Gerichtsanthropologen Nagelspuren an dieser Stelle bei bekannten Kreuzigungsopfern bestätigt. Das ist ein entscheidendes Detail. Betrachtet man mittelalterliche Gemälde aus der Zeit, in der dieses Tuch geschaffen wurde, sieht man, dass die Europäer diese Praxis völlig vergessen hatten. Auf ihren Darstellungen ist Christus immer durch die Handflächen festgenagelt. Die historische Korrektheit dieser Wunde gilt oft als Beweis dafür, dass kein mittelalterlicher Fälscher dieses Tuch gefälscht haben kann.«

»Na also!«, entfuhr es Parsifal.

»Es gibt zwei Erklärungen dafür«, fuhr de l’Orme fort. »Der Vater der Gerichtsanthropologie und der Anatomie war tatsächlich da Vinci. Er hätte mehr als genug Zeit -und Anschauungsmaterial - gehabt, um mit den Techniken der Kreuzigung zu experimentieren.«

»Lächerlich«, sagte Parsifal.

»Die andere Erklärung wäre, dass wir hier die Abbildung eines tatsächlich Gekreuzigten vor uns haben.« Er hielt kurz inne. »Der aber zu der Zeit, als das Grabtuch gefertigt wurde, noch lebte.«

»Was?«, staunte Mustafah.

»Genau«, sagte de l’Orme. »Mit Hilfe von Veras medizinischer Sachkenntnis ist es mir gelungen, diese eigenartige Tatsache herauszufinden. Wir haben hier keinerlei Anzeichen nekrotischen Verfalls. Im Gegenteil: Vera machte mich darauf aufmerksam, dass bestimmte Stellen am Brustkorb verschwommen sind. Wegen der Atmung.«

»Ketzerei«, zischte der jüngere Dominikaner.

»Es ist keinesfalls Ketzerei«, konterte de l’Orme. »Wenn man davon ausgeht, dass es sich hierbei nicht um Jesus Christus handelt.«

»Aber er ist es.«

»Dann sind Sie der Ketzer, mein guter Pater. Denn Sie haben einen Riesen angebetet.«

Der Dominikaner hatte wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch keinen Blinden geschlagen, aber an seinen mahlenden Wangenmuskeln konnte man deutlich sehen, wie dicht davor er stand.

»Vera hat ihn gemessen. Zweimal. Der Mann auf dem Tuch misst zwei Meter fünf«, fuhr de l’Orme fort.

»Seht ihn euch an. Das ist wirklich ein riesengroßer Kerl«, bemerkte Rau. »Wie ist das möglich?«

»Gute Frage«, sagte de l’Orme. »Die Evangelien hätten doch bestimmt etwas von Christi enormer Körpergröße erwähnt.«

Der ältere Dominikaner fauchte ihm etwas zu.

»Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, den Ungeduldigen unser Geheimnis zu offenbaren«, sagte de l’Orme zu Vera. Er legte eine Hand auf den Rollstuhl, und sie führte ihn zu einem nahen Tisch. Dort hielt sie eine Pappschachtel fest, aus der er eine kleine Plastikstatue der Venus von Milo herauszog. Sie wäre ihm beinahe aus den Fingern geglitten.

»Kann ich helfen?«, fragte Branch.

»Nein danke. Es ist besser für Sie, wenn Sie ein Stück zurückbleiben.«

Sie kamen sich vor, als schauten sie zwei Jugendlichen beim Aufbau eines Jugend-forscht-Projekts zu. Als Nächstes zog de l’Orme einen Glaskrug und einen Pinsel hervor. Vera glättete ein Stück Tuch auf dem Tisch und zog ein Paar Gummihandschuhe an.

»Was treiben Sie da?«, wollte der ältere Dominikaner wissen.

»Nichts, was Ihrem Tuch schaden könnte«, antwortete de l’Orme.

Vera schraubte das Glas auf und tauchte den Pinsel ein. »Unsere >Farbe<«, sagte sie.

Das Glas enthielt Staub, fein gemahlen, mattgrau. De l’Orme hielt die Venus am Kopf fest, und Vera bepuderte die Figur vorsichtig mit dem Staub.

»Und jetzt«, sagte de l’Orme, wobei er die Venus ansah, »sag: Cheese.«

Vera nahm die Statue an der Taille und hielt sie waagerecht über das Tuch. »Es dauert einen Moment«, erklärte sie.

»Sag mir bitte, wann es losgeht«, bat sie de l’Orme.

»Da!«, sagte Mustafah. Das Bild der Venus zeichnete sich auf der Leinwand ab. Als Negativ. Ein Detail nach dem anderen trat deutlich zu Tage.

»Wenn das nicht alles schlägt«, raunte Foley.

Parsifal weigerte sich, seinen Augen zu glauben. Er stand einfach nur da und schüttelte den Kopf.

»Die Strahlung erhitzt und schwächt die Leinwand auf einer Seite, erschafft dadurch ein Bild. Wenn ich meine Statue lange genug so halte, wird der Stoff ganz dunkel. Halte ich sie höher, wird das Bild größer. Halte ich sie hoch genug, wird aus meiner Miniaturvenus eine Riesin. Womit wir unseren riesenhaften Christus erklärt hätten.«

»Unsere Farbe ist ein schwach strahlendes Isotop, Newtonium«, sagte Vera. »Es kommt in der Natur vor.«

»Und ... Sie haben sich selbst damit eingepinselt, um ... um diese Fälschung dort draußen herzustellen?«, fragte Foley.

»Genau«, bestätigte de l’Orme. »Mit Veras Hilfe. Und ich muss sagen, sie kennt sich wirklich aus in der männlichen Anatomie.«

Der ältere Dominikaner sah aus, als würde er jeden Augenblick den Schmelz von seinen Zähnen saugen.

»Aber es ist doch radioaktiv!«, sagte Mustafah.

»Alles im Namen der Wahrheit. Aber um ehrlich zu sein: nach dieser Isotopen-Behandlung ging es meiner Arthritis ein paar Tage richtig besser. Ich dachte schon, ich hätte ganz nebenbei ein neues Heilmittel gefunden.«

»Unsinn«, fuhr Parsifal dazwischen. »Wenn das wirklich die Lösung wäre, hätten wir die Strahlung schon längst bei unseren Tests festgestellt.«

»Auf seiner Kleidung ließe sie sich nachweisen«, gab Vera zu.

»Aber nur, weil wir ein bisschen Staub darauf verschüttet haben. Hätte ich mich besser vorgesehen, könnten Sie lediglich das visuelle Abbild feststellen.«

»Ich bin zum Mond und wieder zurückgeflogen«, sagte Parsifal. Immer wenn er auf seine alten Abenteuer verwies, war er mit seinem Latein so gut wie am Ende. »Ein solches mineralisches Phänomen ist mir nirgendwo untergekommen.«

»Das Problem besteht darin, dass Sie noch nie unter der Erdoberfläche gewesen sind«, sagte de l’Orme. »Ich wünschte, das könnte ich auch von mir sagen. Aber schon seit Jahren berichten Bergleute immer wieder von Geisterbildern, die sich in ihre Kisten oder auf die Seitenflächen ihrer Fahrzeuge einbrennen. Die Erklärung dafür sehen wir vor uns.«

»Sie geben demnach zu, dass es hier oben nur Spurenelemente davon gibt«, hakte Parsifal nach. »Sagten Sie nicht soeben, dass der Mensch erst vor kurzem genug von Ihrem Puder da gefunden hat, um einen derartigen Effekt hervorzurufen? Wie also soll ein mittelalterlicher Fälscher an genug von diesem Stoff herangekommen sein, um den ganzen Körper eines Menschen damit zu bedecken und dieses Abbild herzustellen?«

De l’Orme zog die Stirn kraus: »Aber ich sagte Ihnen doch, dass das hier nicht Leonardo da Vinci ist.«

»Was ich nicht verstehe«, räumte Desmond Lynch ein und pochte aufgeregt mit dem Stock auf den Boden, »ist, warum das alles? Warum die ganze Mühe? Ist das wirklich nur ein Jux?«

»Ich sagte bereits, dass es sich allein um Macht dreht«, antwortete de l’Orme. »Eine Reliquie wie diese, in derart abergläubischen Zeiten? In der allein durch die Anziehungskraft eines einzelnen Splitters vom Heiligen Kreuz ganze Glaubensgemeinschaften entstehen konnten. Wissen Sie eigentlich, wie viele Heilige Reliquien in jenen Tagen in der gesamten Christenheit im Umlauf waren? Die Kreuzritter kamen mit kistenweise heiliger Kriegsbeute nach Hause. Neben Knochen und Bibeln von Märtyrern und Heiligen gab es die Milchzähne des Jesuskindes, seine Vorhaut - insgesamt sieben davon, um genau zu sein -, und genug Splitter, um daraus einen ganzen Wald an Kreuzen zusammenzusetzen. Offensichtlich war unser Grabtuch nicht die einzige Fälschung, die in Umlauf gebracht wurde. Aber es war die unverfrorenste und wirkungsvollste.

Stellen Sie sich vor«, fuhr er fort, »jemand hätte sich dieser geistig umnachteten christlichen Einfalt planmäßig bedient. Es könnte ein Papst, ein König oder auch einfach nur ein genialer Künstler sein. Was wäre mächtiger als ein lebensgroßer Schnappschuss des gesamten Körpers von Jesus Christus, aufgenommen direkt nach seiner schwersten Prüfung am Kreuz, und kurz bevor er als Gott zum Himmel auffuhr und für immer verschwand? Richtig vorbereitet und mit einer gehörigen Portion Zynismus ausgeführt, besaß ein derartiges Artefakt die Macht, die Geschichte zu verändern, eine neue Zukunft zu schaffen, die Herzen und Geister zu lenken.«

»Aber ich bitte Sie!«, unterbrach ihn Parsifal.

»Wenn aber genau das seine Absicht war?«, fuhr de l’Orme unbeirrt fort. »Was, wenn derjenige versuchte, die christliche Kultur mit Hilfe seines eigenen Bildes zu infiltrieren?«

»Derjenige? Seines?«, fragte Desmond Lynch. »Von wem reden Sie überhaupt?«

»Natürlich von der Gestalt auf dem Grabtuch.«

»Na schön«, brummte Lynch. »Wer ist der Halunke?«

»Sehen Sie hin«, erwiderte de l’Orme.

»Wir sehen alle hin.«

»Es ist ein Selbstporträt.«

»Das Porträt eines Trickbetrügers«, sagte Vera. »Er bestäubte sich mit Newtonium und stellte sich vor ein Leinentuch. Er hat diesen schlauen Trick mit voller Absicht durchgeführt. Eine primitive Fotokopie des Gottessohnes.«

»Ich gebe auf. Kennen wir ihn denn?«

»Er sieht ein bisschen wie du aus, Thomas«, scherzte jemand. Thomas blies die Backen auf.

»Langes Haar, Ziegenbärtchen ... kommt mir eher wie Ihr Freund Santos vor«, zog ein anderer de l’Orme auf.

»Jetzt, da Sie es erwähnen«, grübelte de l’Orme, »könnte es vermutlich jeder von uns sein.«

Die heikle Angelegenheit verwandelte sich in ein Ratespiel.

»Wir geben auf«, sagte January schließlich.

»Dabei waren Sie schon so dicht dran«, sagte de l’Orme.

»Es reicht«, blaffte Gault.

»Kublai Khan«, sagte de l’Orme.

»Was?«

»Das sagten Sie doch selbst.«

»Was sagte ich?«

»Geronimo. Attila. Mao. Ein Kriegerkönig. Oder ein Prophet. Oder ein einfacher Wanderer, der sich kaum von uns unterscheidet.«

»Das meinen Sie nicht ernst?«

»Warum nicht? Warum nicht der Autor der Briefe des Priesterkönigs Johannes? Der Urheber eines Christusschabernacks? Vielleicht sogar der Urheber der Legenden von Christus und Buddha und Mohammed?«

»Wollen Sie damit sagen .«

»Genau«, erwiderte de l’Orme. »Sehr erfreut. Darf ich Sie mit Satan bekannt machen?«


Jene neuen Gebiete, die wir fanden und erforschten,

dürfen wir mit Fug und Recht eine Neue Welt nennen.

Ein Kontinent, der dichter von Menschen und Tieren

bewohnt ist als unser Europa oder Asien oder Afrika.


AMERIGO VESPUCCI, Über Amerika

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