5


Jemand hatte sie ziemlich unsanft unter den Achseln gepackt und schleifte sie durch den Schnee; sehr schnell und ohne dabei auch nur die mindeste Rücksicht zu nehmen, so daß sie mit Hüften und Beinen immer wieder gegen scharfkantige Hindernisse prallte, die unter der trügerischen weißen Decke verborgen waren. Schnee war in ihren Kragen gefallen und begann unter ihrem Anzug zu schmelzen, und in ihrem rechten Knöchel erwachte allmählich ein stechender Schmerz, der im Takt ihres Herzschlages pulsierte und bei jedem Schlag ein bißchen schlimmer wurde. Sie fror erbärmlich. Absurderweise spürte sie gleichzeitig eine grausame Hitze, als berührten glühende Hände ihr Gesicht. Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber das Licht war so grell, daß sie die Lider stöhnend wieder zusammenpreßte.

Nach einem Moment versuchte sie es noch einmal. Ein von einem wuchtigen dunkelgrünen Helm eingerahmtes Gesicht hüpfte über ihr auf und ab, und da war noch etwas Riesiges, Silbernes, und ein grausames flackerndes Licht, das sich auf seiner polierten Oberfläche brach.

Der Läufer!

Der Gedanke weckte ihre Erinnerungen schlagartig wieder. Sie stöhnte, versuchte den Kopf zu heben und begann sich instinktiv zu wehren - mit dem Ergebnis, daß Leßter sie unvermittelt losließ und sie unsanft in den Schnee zurückfiel. Hastig bückte er sich wieder, um ihr abermals aufzuhelfen, aber sie wälzte sich herum (mit dem Ergebnis, daß noch mehr Schnee unter ihren Kragen glitt und dort sofort zu schmelzen begann) und stand aus eigener Kraft auf.

»Was ist passiert?« fragte sie.

»Es war nicht meine Schuld!« verteidigte sich Leßter. »Ich habe Sie gewarnt! Ich habe gesagt, es ist ein Start mit vollem Risiko! Wir hätten dreißig Sekunden länger warten sollen, dann hätte ich die Kiste ohne Schwierigkeiten hochbekommen, aber so hat der...«

»Halt endlich die Schnauze, Leßter«, sagte eine zweite Stimme, und Charity registrierte erst jetzt, daß sie nicht allein waren. Skudder und die beiden anderen Soldaten hatten sich hinter die Schneewehe gekniet, in deren Schutz Leßter sie geschleift hatte. Skudder blutete aus einer üblen Platzwunde im Gesicht, und Faller preßte mit schmerzverzerrten Lippen den linken Arm gegen den Leib. Phillipsen hatte das Lasergewehr von der Schulter gezerrt und zielte damit auf etwas von der Größe Neuguineas, das auf einem Dutzend hochhausgroßer Stahlbeine über ihnen emporragte. Es sah einigermaßen absurd aus, fand Charity.

Sie schüttelte sich, war mit zwei schnellen Schritten bei Skudder und streckte besorgt die Hand nach seinem Gesicht aus, aber Skudder schüttelte nur den Kopf.

»Das ist nichts«, sagte er. »Eine Schramme.«

Da Charity wußte, wie wenig Sinn es hatte, über dieses Thema mit ihm diskutieren zu wollen, beließ sie es bei einem abermaligen prüfenden Blick in sein blutüberströmtes Gesicht und kroch dann auf Händen und Knien zu Phillipsen hinüber. Der junge Soldat lag auf dem Bauch im Schnee und hatte die Waffe noch immer auf den Läufer gerichtet. Aber Charity hatte das sehr sichere Gefühl, daß er es einzig und allein tat, um sich daran festzuklammern.

Als ihr Blick auf das fiel, was Phillipsen anstarrte, verstand sie ihn auch. Für einen Moment wünschte sie sich selbst etwas, woran sie sich festhalten konnte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Der Läufer hatte direkt über dem Wrack des Flugzeuges angehalten. Seine beiden vorderen Beinpaare waren eingeknickt, so daß er ein wenig schräg dastand, nach vorne geneigt und tatsächlich wie ein riesiges Stahlinsekt, das seine Beute verzehrte - die in diesem Falle aus nichts anderem als dem Wrack der Transportmaschine bestand. Das Flugzeug brannte. Dann und wann blitzte es in seinem zerschmetterten Rumpf auf, wenn ein Teil der mitgebrachten Munitionsvorräte unter der Hitze explodierte, und sein Rumpf war so zerdrückt, daß man seine ursprüngliche Form nur noch erraten konnte. Charity fragte sich instinktiv, wie um alles in der Welt sie es geschafft hatten, lebend und noch dazu beinahe unverletzt aus diesem Wrack herauszukommen. Eines der Triebwerke glühte in einem hellen, umheimlichen Rot. Die Hitze war so intensiv, daß sie sie selbst hier noch spüren konnte, mehr als zweihundert Meter entfernt.

Was den Läufer allerdings nicht daran hinderte, das Flugzeugwrack mit seinen gewaltigen Greifern methodisch in Stücke zu zerreißen, die eines nach dem anderen in seinem Maul verschwanden. Für einen Moment bildete sie sich sogar ein, mahlende Zähne darin zu erkennen - aber das konnte ja wohl nicht sein.

»Er frißt es auf!« stammelte Phillipsen. »Er ... er frißt das Flugzeug!«

Charity hörte den alarmierenden Unterton in seiner Stimme und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Das ist eine Maschine, Phillipsen«, sagte sie ruhig. »Nur eine Maschine.«

Phillipsen starrte sie an. Seine Augen waren weit vor Furcht, und sie sah das unheimliche Funkeln darin und begriff, daß der Junge kurz davor stand, einfach auszurasten. Phillipsen war alles andere als ein Feigling; wäre er das, hätte Hartmann ihn kaum abkommandiert. Aber der Anblick dieses Monsters war einfach mehr, als er verkraften konnte. Es war nicht die Gefahr, die von ihm ausging. Es war einfach die Tatsache, daß es so etwas wie dieses unmögliche Ding gab.

»Es ist nur eine Maschine«, sagte sie noch einmal. Aber sie mußte all ihre Kraft aufbieten, um diese Worte auch nur halbwegs überzeugend klingen zu lassen. Auch sie selbst hatte das Gefühl, ganz langsam, aber unerbittlich, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Großer Gott, dieses Ding war größer als ein Flugzeugträger!

Phillipsen beruhigte sich allmählich. Das Flackern in seinem Blick blieb, aber es sank zu einer nicht mehr ganz so gefährlichen Intensität herab, und auch seine Hände hörten allmählich auf zu zittern.

»Es ist nur eine Maschine«, sagte sie zum dritten Mal. »Sie tut uns nichts. Wahrscheinlich sind wir viel zu klein, als daß sie uns überhaupt registriert.«

Skudder kam auf Knien und Ellbogen kriechend neben ihr an, blickte einen Moment lang wortlos zum Flugzeugwrack hinüber und schaufelte sich dann eine Handvoll Schnee ins Gesicht, um das Blut abzuwaschen. Charity sah jetzt, daß die Schramme auf seiner Stirn wirklich nur eine Schramme war.

Nach einer Weile gesellten sich auch die beiden anderen zu ihnen. Schweigend sahen sie zu, wie der Läufer das Flugzeugwrack fast behäbig in Stücke schnitt und riß und die Trümmer verzehrte. Charity benutzte tatsächlich in Gedanken dieses Wort. Es gelang ihr nicht, einen anderen Ausdruck zu finden.

»Ich möchte wissen, was er da tut«, murmelte Faller.

Skudder lachte leise. »Warum gehst du nicht hin und fragst ihn?« Er hob sein Gewehr, schaltete die Zieloptik ein und blickte gebannt einige Sekunden lang zu dem silbernen Koloß hinauf. Dann setzte er die Waffe ab, reichte sie Charity und deutete auf eine Stelle schräg über dem ›Maul‹ des Käfers. »Zwischen den beiden Kuppeln«, sagte er. »Siehst du die kleine, dreieckige Öffnung?«

Charity brauchte einen Augenblick, um sich an den veränderten Blickwinkel der Zieloptik zu gewöhnen. Dann sah sie, was Skudder entdeckt hatte: vielleicht zehn, fünfzehn Meter über dem schnappenden Maul des Riesenkäfers befand sich eine Art Tor von vage dreieckiger Form, in dem sich vier oder fünf winzige, sechsgliedrige Gestalten bewegten. Ameisen.

»Was um Gottes willen ist das?« murmelte sie, nachdem sie das Gewehr wieder abgesetzt und Skudder zurückgegeben hatte.

»Vielleicht einer der Wachroboter, von denen Stone gesprochen hat?« fragte Faller. Seine Stimme klang nicht sehr überzeugt. Und Skudder schüttelte auch sofort den Kopf.

»Unmöglich. Ein solcher Riese ergibt überhaupt keinen Sinn. Nicht als Kampfmaschine.«

Wieder schwiegen sie eine ganze Weile, während der Läufer ohne eine Spur von Hast auch noch den Rest des Flugzeugwracks aufsammelte. Er ging sehr sorgfältig dabei vor. Selbst das glühende Triebwerk verschwand in seinem Maul.

Mit angehaltenem Atem warteten sie darauf, daß sich der Koloß wieder umwandte und ging, aber das geschah nicht. Statt dessen hoben sich die riesigen Greifer plötzlich wieder, und an ihrer Stelle glitt etwas aus dem unteren Teil der Maschine heraus, was Charity an einen gewaltigen Stachel erinnerte - und es auch war. Mit einem ungeheuren Krachen bohrte sich der stählerne Dorn in den Boden und glitt knirschend durch Erdreich und Fels. Der Boden begann zu zittern.

»Was um alles in der Welt tut er jetzt wieder?« murmelte Skudder. »Hoffentlich legt er keine Eier oder so was.« Er versuchte vergeblich, den Worten durch ein Lachen etwas von ihrem düsteren Klang zu nehmen. Charity sah aus den Augenwinkeln, wie Phillipsen leicht zusammenfuhr und noch ein bißchen blasser wurde, und für die Dauer eines Herzschlages mußte auch sie sich gegen die absurde Vorstellung wehren, plötzlich Dutzende von kleineren Ausgaben dieser stählernen Absurdität aus dem Boden hervorbrechen und über sich und die anderen herfallen zu sehen.

»Ich glaube, ich ... weiß, was es ist«, sagte sie plötzlich.

Skudder und die drei anderen sahen sie verblüfft an, aber sie antwortete nicht auf ihre fragenden Gesichter, sondern wandte sich mit einer plötzlich nervösen Geste direkt an Skudder.

»Du hast so ein Ding schon einmal gesehen«, sagte sie aufgeregt. »Erinnere dich genau, Skudder! Was hat es getan?«

»Getan?« Skudder schien mit dieser Frage im ersten Moment nichts anfangen zu können. »Ich verstehe nicht genau ... Es hat nichts getan. Es lief einfach durch die Gegend und hat alles zerstört.«

»Wie das Flugzeug?«

»Sicher. Autos, Flugzeuge, ganze Hallen...« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Du ... du meinst, es ist so eine Art Schrottsammler?«

»Wahrscheinlich«, sagte Charity. »Ich vermute, es sammelt Metall. Deshalb hat es auch auf unser Flugzeug reagiert. Das Ding wollte uns nicht angreifen. Es wollte nur das Metall haben.«

»Das ist doch Irrsinn«, murmelte Faller.

Charity ignorierte ihn. Sie hatte schon vor langer Zeit begriffen, daß über die Logik der Invasoren von Moron nachzudenken der beste Weg war, den Verstand zu verlieren. »Und wenn das so ist«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »dann ist dieses Ding vielleicht unsere Eintrittskarte nach New York.«

Selbst Skudder wurde blaß. »Wie bitte?« keuchte er.

Charity deutete nach Norden. »Er ist von dort gekommen, oder?«

»Sie ... Sie wollen doch nicht an ... an Bord dieses Dinges gehen?« flüsterte Leßter.

»Haben Sie eine bessere Idee?« fragte Charity. »Wir können nicht hierblieben. Von allem anderen einmal abgesehen - unsere Ausrüstung hat das Ding da gerade gefrühstückt. Selbst wenn uns die Wachroboter nicht erwischen, erfrieren wir hier in ein paar Stunden. Wir können uns irgendwo da drinnen verstecken. Das Ding ist wirklich groß genug.«

»Sie sind ja verrückt!« entfuhr es Phillipsen.

Charity grinste. »Sicher. Das ist Bedingung, um diesen Job zu bekommen.« Übergangslos wurde sie wieder ernst. »Wir können nicht hierbleiben.«

»Wir haben keine Garantie, daß das Ding wirklich nach New York geht«, sagte Skudder ernst. »Es kann monatelang durch die Gegend laufen.«

»Aber es geht irgendwohin«, antwortete Charity. »Willst du hierblieben, bis sie dich erwischen oder du erfroren bist?«

Skudder antwortete nicht mehr, und nach einer Weile nahm Charity das Gewehr wieder in die Hand und blickte erneut zu den Ameisen über dem Maul des Läufers hinauf. Von den fünf oder sechs Gestalten waren nur noch zwei zu sehen, und auch diese wandten sich plötzlich um und verschwanden im Inneren der zyklopischen Maschine. Fast in der gleichen Sekunde begann sich der gewaltige Stachel wieder aus dem Boden zu lösen. Ein unheimliches Dröhnen und Knirschen drang aus dem Rumpf des Läufers, als sich die vorderen Beinpaare wieder streckten und die Maschine in die Waagerechte zurückkippte.

»Jetzt!« befahl Charity.

Sie alle - nicht nur Phillipsen - zögerten einen Moment, aber offensichtlich hatten sie auch alle eingesehen, daß Charity recht hatte: Wenn sie hierblieben, erwartete sie nichts als ein sicherer, aber wahrscheinlich alles andere als schneller Tod.

Sie rannten los, als der Läufer schwerfällig das erste seiner zahlreichen Beine aus dem Boden hob und sich zu drehen begann. Die Erde zitterte. Ein ganzes Bombardement aus Felsen und Schlamm regnete vor ihnen vom Himmel, und Charity registrierte voller Schrecken, daß die gewaltigen Säulenbeine des Kolosses noch viel größer waren, als es von weitem den Anschein gehabt hatte. Sie schätzte, daß sich der riesige ovale Leib des stählernen Käfers sicherlich siebzig oder achtzig Meter über dem Boden erhob - und die vielfach gegliederten Stelzbeine des Monsters bewegten sich mit einer Geschicklichkeit, die bei einer Maschine dieser Größe fast unmöglich schien. Das Ding war schnell.

Charity wich einem der gewaltigen Krater aus, die die Beine des Läufers im Boden hinterlassen hatten, beschleunigten ihre Schritte noch mehr und begriff gerade noch rechtzeitig genug den Grund für Skudders warnenden Schrei, um ihr Tempo wieder zu verlangsamen - um ein Haar wäre sie genau dorthin gelaufen, wo sich in diesem Moment einer der gewaltigen eisernen Käferfüße in den Boden grub. Sie schlug einen Haken nach links, duckte sich im Laufen, als ein Hagel aus Steinen und Erdreich auf sie herabpolterte, und stieß sich mit aller Kraft ab.

Der Sprung war perfekt berechnet. Sie prallte unsanft gegen den massiven Stahl des Beines, fand aber mit Händen und Füßen sicheren Halt und klammerte sich fest, als sich das riesige Käferbein wieder hob. Ehe es sich völlig vom Boden löste, kamen Skudder und Faller auf die gleiche Weise bei ihr an. Sie sah, wie Phillipsen und der dritte Soldat ein anderes Bein anvisieren wollten, und gestikulierte heftig mit den Armen.

»Nicht!« schrie sie. »Wir müssen zusammenbleiben!«

Es wurde knapp, denn der Läufer hatte seine Drehung fast vollendet, und er beschleunigte seine Schritte enorm, kaum daß sich sein stumpfes Maul wieder auf die Sturmfront im Norden ausgerichtet hatte. Sie zerrten Leßter und Phillipsen buchstäblich im letzten Moment zu sich herauf - und dann waren sie auch schon mitten drin in dem heulenden Chaos und hatten plötzlich alle Hände voll zu tun, um nicht von den eisigen Sturmböen von ihrem Halt wieder heruntergefegt zu werden.

Es wurde kalt, unglaublich kalt. Schon nach wenigen Augenblicken wich alles Gefühl aus Charitys Händen, und selbst das Luftholen tat weh. Der Läufer wurde immer schneller und drang jetzt mit der Geschwindigkeit eines D-Zuges in die Sturmfront ein. Die Temperaturen sanken mit jedem Schritt, den dieses stählerne Monstrum machte, um ein Grad. Das Schneetreiben wurde so dicht, daß sie die Gestalten der anderen nur noch als Umrisse erkennen konnte.

Skudder schrie ihr etwas zu. Der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen und trug sie davon, ehe sie sie verstehen konnte, aber dann blickte sie in die Richtung, in die seine Hand deutete.

Nur wenige Meter über ihnen hatte sich eine ovale Klappe in der Flanke des Riesenbeines geöffnet, und der häßliche Schädel einer Moroni-Ameise schob sich ins Freie. Offensichtlich war ihre Annäherung doch bemerkt worden.

Skudder zog seine Waffe und schoß auf den Moroni. Er verfehlte ihn, aber die Insektenkreatur zog sich mit einer erschrockenen Bewegung wieder ins Innere des Beines zurück.

Für eine Sekunde.

Dann tauchte sie wieder auf, und diesmal waren ihre Hände nicht mehr leer. In ihren vier Klauen lagen gleich vier der winzigen, tödlichen Laserwaffen, mit denen sie schon öfter Bekanntschaft gemacht hatten.

Aber sie kam nicht dazu, auch nur eine davon abzufeuern.

Skudder hatte die winzige Zeitspanne genutzt, sich hastig zur Klappe hinaufzuhangeln und sich mit beiden Händen an ihren Rand zu klammern. Als sich die Ameise vorbeugte, löste er die linke Hand von ihrem Halt, packte den Hinterlauf des Moroni und zerrte mit aller Gewalt daran. Vielleicht hätte seine Kraft unter normalen Umständen nicht einmal gereicht, das Monstrum von den Füßen zu reißen, den Charity wußte nur zu gut, wie entsetzlich stark diese zwei Meter großen Insekten waren, aber genau in diesem Moment machte der Läufer einen weiteren, stampfenden Schritt, und diese doppelte Erschütterung reichte aus. Die Ameise stieß einen schrillen Laut aus, ließ zwei ihrer vier Waffen fallen und kippte haltlos ins Innere der Maschine zurück. Mit einer blitzartigen Bewegung setzte Skudder ihr nach.

Auch Charity kletterte weiter, so schnell sie konnte. Skudder war ein kräftiger Mann, aber gegen eines dieser Insektenmonster hatte er nicht die Spur einer Chance. Wenn es der Ameise gelang, ihn zu packen, würde sie ihn einfach zerreißen, ohne sich dabei auch nur anzustrengen.

Es gelang ihr nicht. Charity hatte die Tür erreicht und setzte dazu an, sich mit einem Ruck hineinzuziehen, als Skudder und der Moroni über ihr erschienen. Die Ameise hatte auch ihre beiden restlichen Waffen fallengelassen und versuchte nun mit allen vier Armen gleichzeitig, ihren Gegner zu packen, aber Skudder wich ihr mit einer geschickten Bewegung aus, ergriff plötzlich seinerseits einen der dürren chitingepanzerten Arme - und hebelte die Ameise mit einem Judo-Griff wie aus dem Lehrbuch aus. Der Moroni kreischte vor Schrecken, als er wahrscheinlich zum ersten (und mit Sicherheit zum letzten) Mal im Leben die Feststellung machte, daß sich seine eigene Kraft durchaus gegen ihn selbst wenden konnte, verlor den Boden unter den Füßen und verschwand zappelnd in den Sturmböen unter ihnen. Charity zog sich ächzend vollends durch die Tür, erhob sich auf die Knie und sah sich hastig um, wobei sie die Hand zur Waffe senkte. Aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Die Kammer, in der Skudder und sie sich befanden, war winzig; nichts als ein runder Zylinder aus rostrotem Eisen, der kaum Platz für sie und den Hopi bot. Die Ameise war allein gewesen.

Aus einem absurden Stolz heraus ignorierte sie Skudders hilfreich ausgestreckte Hand und stemmte sich aus eigener Kraft auf die Füße - um gleich darauf mit einem überraschten Schrei gegen Skudder zu prallen, als der Läufer einen weiteren Schritt machte und der Boden unter ihren Füßen sich plötzlich in eine schräg geneigte Rampe verwandelte. Skudder grinste so unverschämt, daß sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt hätte, ließ ihre Schultern aber hastig los, als er das warnende Funkeln in ihren Augen gewahrte.

So gut es in der Enge der winzigen Kammer ging, traten sie von der Tür zurück, um Platz für die drei anderen zu machen.

»Und jetzt?« fragte Phillipsen überflüssigerweise, nachdem er sich als letzter zu ihnen hereingezogen hatte.

Skudder deutete nach oben. Die kleine Kammer hatte keine Decke, sondern verjüngte sich über ihnen zu einem knapp einen Meter durchmessenden, runden Schacht, an dessen Wand sich das in die Höhe zog, was eine sechsbeinige, gut zwei Meter große Kreatur wohl für eine Leiter halten mochte. Phillipsens Augen wurden rund vor Staunen. »Sie wollen ... dort hinauf?« murmelte er.

»Wir können auch hierbleiben und warten, bis sie herkommen und nachschauen, wo ihr Türsteher bleibt«, sagte Skudder spöttisch. »Wäre Ihnen das lieber?« Er streckte die Arme aus, federte kurz in den Knien ein und stieß sich mit einem kraftvollen Satz ab. Obwohl er von allen mit Abstand der größte war, erreichte er die unterste ›Sprosse‹ der Leiter erst beim dritten Versuch. Charity und die anderen halfen sich gegenseitig dabei, in die Höhe zu steigen, wobei Charity den Abschluß bildete - sie war die leichteste und mußte als letzte von Faller und Phillipsen in die Höhe gezogen werden, um die Leiter erreichen zu können.

Zumindest in einem Punkt hatten sie Glück - niemandem schien das Verschwinden der Ameise aufzufallen, die Skudder aus dem Läufer gestoßen hatte; zumindest kamen keine anderen Moroni, um sich nach dem Verbleib ihres Bruders zu erkundigen - was mit Sicherheit das Ende der kleinen Gruppe bedeutet hätte. In dem engen, völlig deckungslosen Schacht hätte ein einziger Schuß genügt, sie alle in die Tiefe zu reißen.

Dafür wurde der Aufstieg zu einem Alptraum. Die Schritte des Läufers wurden immer schneller, und sie wurden mit jedem krachenden Aufsetzen des Riesenbeines wuchtig gegen die Wand oder die Leiter geschleudert. Mehr als einmal hatte Charity das Gefühl, einfach nicht mehr weiter zu können, und als sie ungefähr die Hälfte der Strecke überwunden hatten, glitt Fallers Fuß über ihr von einer der Sprossen ab und verfehlte ihr Gesicht nur um Millimeter. Dazu kam, daß diese bizarre Leiter für Moroni gemacht war, nicht für Menschen. Die Sprossen waren zu dünn, um wirklich sicheren Halt daran zu finden, und der Abstand stimmte nicht, so daß das Klettern übermäßig viel Kraft erforderte. Charity versuchte sie zu zählen, um sich wenigstens notdürftig zu orientieren, gab es aber irgendwo weit jenseits der dreihundert schließlich wieder auf. Mehrmals mußten sie anhalten, wenn einen von ihnen die Kräfte verließen.

Keiner von ihnen sah auf die Uhr, aber Charity schätzte, daß sie länger als eine Stunde brauchten, bis sie das obere Ende der Leiter erreichten.

Ein Schwall eisiger, nach Metall und Staub riechender Luft schlug ihnen in die Gesichter, als sie sich hinter Skudder schweratmend aus dem Schacht herauszogen. Charity kroch erschöpft ein paar Schritte von der Öffnung im Boden fort und versuchte sich aufzurichten, hatte aber ebensowenig noch die Kraft dazu wie einer der anderen. Selbst Skudder lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und tat sekundenlang nichts anders, als keuchend ein- und auszuatmen.

Unten im Schacht war es stockfinster gewesen. Hier oben herrschte ein trübes, graugefärbtes Zwielicht, das allerdings kaum ausreichte, weiter als ein paar Schritte zu sehen. Sie befanden sich in einer niedrigen, aber sehr weitläufigen Halle, deren Boden ganz sacht nach oben gekrümmt zu sein schien. So weit sie dies überhaupt sehen konnte, war sie leer.

Charity setzte sich mühsam weiter auf, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und registrierte mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken, daß der Schweiß auf ihrer Haut bereits zu gefrieren begann. Ihre Finger- und Zehenspitzen prickelten, und ihre Lippen fühlten sich taub an und waren gesprungen. Sie hatte das bisher auf die Anstrengung geschoben, aber sie begriff plötzlich, daß das nicht stimmte. Es war kalt hier drinnen. Viel kälter noch als draußen. Erschrocken blickte sie auf das Außenthermometer ihres Anzuges. Es zeigte neunzehn Grad unter Null an.

»Verdammt kalt hier drinnen, nicht wahr?« fragte Skudder. Er hatte ihren Blick bemerkt. »Irgendwas scheint mit der Heizung nicht zu stimmen.«

Charity lächelte pflichtschuldig und stand vorsichtig auf. Der Boden schwankte noch immer unter ihren Füßen, so daß sie im ersten Moment erschrocken die Hände ausstreckte, um ihre Balance zu halten.

Wahllos wandten sie sich nach rechts und marschierten los. Ihre Schritte erzeugten unheimliche, lang widerhallende Echos in der Weite der vollkommen leeren, stählernen Halle, und das blasse graue Licht gab Charity das Gefühl, durch einen endlosen Nebel zu wandern. Sie konnte noch immer nichts erkennen, was weiter als acht oder zehn Schritte von ihnen entfernt war. Dafür begann sie um so deutlicher die bizarren Geräusche wahrzunehmen, die an ihr Ohr drangen: Da war noch immer das rhythmische Stampfen der gewaltigen Käferbeine, darüber aber auch ein dumpfes, dröhnendes Hämmern, das sie auf unheimliche Weise an das Schlagen eines gewaltigen metallenen Herzens erinnerte. Manchmal erzitterte die Halle wie unter schweren Schlägen, und einmal blieben sie alle stehen und blickten erschrocken auf, als ein hohes, wimmerndes Geräusch erscholl, das sich binnen Sekunden zu einem schrillen Jaulen steigerte und dann die Grenzen des Hörbaren überstieg, aber noch eine Weile in ihren Köpfen zu vibrieren schien.

Der Boden begann immer stärker anzusteigen, je weiter sie sich dem Ende der Halle näherten. Schließlich ging es nicht mehr weiter: Die Krümmung des Bodens war so stark geworden, daß das Gehen fast unmöglich war, und der Abstand zwischen ihm und der Decke schmolz zusehends.

Enttäuscht machten sie kehrt und gingen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Zumindest glaubte Charity jetzt zu wissen, wo sie sich befanden. Bei einem Schiff hätte man diesen Teil der Konstruktion die Bilge genannt - die Decke über ihnen war waagerecht, und wahrscheinlich war es auch keine Decke, sondern der Boden der untersten Ebene dieser absurden Riesenmaschine. Worüber sie liefen, das war der gekrümmte Bauch des stählernen Riesentieres. Für einen Moment mußte sie sich gegen die bedrückende Vorstellung wehren, daß es keinen Ausgang aus dieser Falle gab und sie in diesem grauen Nebel herumirren konnten, bis sie vor Erschöpfung oder Kälte zusammenbrachen. Aber natürlich war das nur ein Streich, den ihr ihre überreizten Nerven spielten. Die Ameise, die Skudder getötet hatte, war der lebende Beweis, daß es einen Weg hinauf in den eigentlichen Läufer gab.

Sie brauchten fast eine halbe Stunde, ehe sie ihn fanden: ein ungleichmäßig geformtes Loch in der Decke, das wie hineingesprengt (oder gebissen?) aussah und zu dem eine weitere dieser bizarren Leiterkonstruktionen hinaufführte. Das gleiche blasse Licht wie hier unten herrschte auch dort oben, und die unheimlichen Laute und das Stampfen und Klopfen nahmen an Intensität zu.

Skudder signalisierte den drei Soldaten mit stummen Gesten, ein Stück zurückzubleiben, nahm das Gewehr von der Schulter und kletterte lautlos die Leiter hinauf. Charity wartete, bis er in der Öffnung verschwunden war, zählte in Gedanken bis fünf und folgte ihm dann.

Sie war erstaunt, wie dick der Hallenboden war. Der rostige Stahl umgab sie wie ein Schacht, fast anderthalb Meter dick, und er schien vollkommen massiv zu sein. Wenn dieses ganze Käfermonstrum so massiv gebaut war, dachte sie ungläubig, dann mußte es etliche Millionen Tonnen wiegen!

Sie sah Skudder einen halben Meter neben dem Schacht knien, das Gewehr im Anschlag und einen angespannten Ausdruck auf dem Gesicht. Aber auch hier oben war von der Besatzung dieser absurden Maschine nichts zu sehen.

Skudder signalisierte ihr, leise zu sein und den rückwärtigen Teil des Ganges im Auge zu behalten. Rasch entfernte sie sich ein paar Schritte von ihm, ließ sich, seinem Beispiel folgend, auf ein Knie herabsinken und nahm den Gamma-Laser von der Schulter. Ehe sie die Waffe entsicherte, stellte sie die Leistungsabgabe auf das Minimum zurück; der Gang war zwar lang, aber niedrig und sehr eng. Sie hatte wenig Lust, sich selbst und vielleicht auch alle anderen umzubringen, wenn sie auf ein Ziel feuerte, das weniger als fünfzig Meter entfernt war.

Sie konnte hören, wie die drei Soldaten hinter ihr aus dem Schacht geklettert kamen, widerstand aber der Versuchung, sich zu ihnen herumzudrehen. Gebannt blickte sie den Korridor entlang. Ihre Augen hatten sich an das blasse Licht gewöhnt, so daß sie nun etwas besser sehen konnte. Eine Anzahl von Türen - und was bizarr genug war: Jede einzelne von ihnen schien eine andere Form und Größe zu haben! - zweigte zu beiden Seiten ab, und am Ende des Ganges glaubte sie die ersten Stufen einer Treppe zu erkennen, war aber nicht völlig sicher. Hier und da brannte ein trübes, dunkelrotes Licht an der Decke, das das unheimliche Zwielicht aber nicht wirklich aufzuhellen vermochte.

»Hast du irgend etwas auf dem Scanner?« fragte Skudder.

»Jede Menge«, antwortete Charity nach einem raschen Blick auf das Gerät an ihrem Handgelenk. »Aber nichts, was Sinn ergibt.« Die Anzeigen des winzigen Instruments spielten ebenso verrückt wie die des Flugzeugs vorhin. Offensichtlich gab es in dieser riesigen Maschine etwas, das nachhaltig jegliche Art von Elektronik störte.

»Irgendeine Idee, was wir jetzt tun?« fuhr Skudder fort. Seine Stimme kehrte als gebrochenes Echo nach einer Sekunde zurück, und das war sehr sonderbar, denn das hatte sie bei seiner ersten Frage nicht getan, ebensowenig wie die Charitys bei ihrer Antwort. Alarmiert sah sich sich nach allen Seiten um, konnte aber nichts Auffälliges erkennen. Offensichtlich war die Akustik dieses Ganges ebenso bizarr und undurchschaubar wie die Architektur.

Charity zuckte mit den Schultern, stand auf und deutete fast unentschlossen auf die Treppe am Ende des Stollens. Sie war nicht einmal dessen wirklich sicher, aber es schien zumindest die Richtung zu sein, in die der Läufer sich bewegte.

Rasch, aber sehr leise und jederzeit auf einen Angriff gefaßt, bewegten sie sich den Gang hinab. Der Boden unter ihren Füßen hob und senkte sich, hob und senkte sich, schwankte im Rhythmus der stampfenden Schritte des Maschinenungeheuers, und einmal wankte der ganze stählerne Koloß, wahrscheinlich, als er ein größeres Hindernis überstieg oder einfach niederwalzte. Die Treppe kam allmählich näher, und im gleichen Maße wurden die unheimlichen Geräusche lauter. Charity hatte jetzt das Gefühl, daß sie sich einer riesigen Maschinenhalle näherten, einer Halle, in der gewaltige Konstruktionen aus riesenhaften Zahnrädern und stampfenden Kolben arbeiteten, zischende Dampfkessel und riesenhafte Kettenantriebe; es waren genau diese Bilder, die ihre Phantasie zu den immer bizarrer werdenden Lauten erschuf. Und das war kein Zufall. Was sie hörten, das waren die Geräusche arbeitender Maschinen - aber es war nicht das geisterhafte Wispern einer elektronischen Supertechnik von den Sternen, sondern etwas, das sich wie die akustische Umsetzung einer jener Zyklopenmaschinen anhörte, wie sie Jules Verne oder Hans Dominik erdacht und beschrieben hatten. Es war verwirrend. Und sehr beängstigend.

Als sie sich der Treppe bis auf wenige Schritte genähert hatten, öffnete sich eine der Türen vor ihnen, und eine Maschinenkonstruktion rollte heraus, die so bizarr war, daß Charity ihren Zweck nicht einmal zu erraten vermochte. Faller sog erschrocken die Luft ein und hob seine Waffe, aber Charity drückte rasch den Lauf des Gewehres herunter und schüttelte den Kopf. Die Maschine - ein vielleicht meterhohes, auf unmöglich in Worte zu beschreibende Art geformtes Etwas - rollte auf rasselnden Ketten auf den Gang hinaus, drehte sich wie ein altertümlicher Panzer auf der Stelle und rasselte dann direkt auf sie zu. Auf ihrer Oberseite blinkten eine Anzahl roter und gelber Lichter in undurchschaubarem Rhythmus, und etwas von der Form einer halb durchgebrochenen Parabolantenne drehte sich unentwegt auf ihrem Rücken.

Auch Charity richtete ihr Gewehr auf das rostzerfressene Etwas, aber sie hatte das bestimmte Gefühl, daß von dieser Maschine keine Gefahr ausging. Als sie sich ihr bis auf drei Schritte genähert hatte, trat sie ein Stück beiseite, und sie war nicht einmal sonderlich überrascht, als die Maschine einfach an ihr vorüberrasselte, ohne von ihr und den anderen auch nur Notiz zu nehmen. Trotzdem blieb sie stehen und blickte der bizarren Konstruktion aufmerksam nach, bis sie im Halbdunkel des Ganges verschwunden war.

»Was war das?« fragte Faller fassungslos.

»Das weiß ich ebensowenig wie Sie«, antwortete Charity. Fallers unentwegte Fragerei ging ihr allmählich auf die Nerven; ebenso wie die scheinbare Überzeugung der beiden anderen, daß sie auf jede Frage die passende Antwort parat haben müßte. Sicher - verglichen mit den drei jungen Soldaten, die erst vor wenigen Wochen aus dem Kälteschlaf erwacht waren, waren Skudder und sie so etwas wie Spezialisten, was die Moroni und ganz besonders die Ameisen anging. Trotzdem änderte das nichts daran, daß sie im Grunde wenig mehr als gar nichts über dieses Insektenvolk wußten.

Genaugenommen war es auch für Skudder und sie das erste Mal, daß sie die Ameisen in einem Teil ihrer Welt erlebten. Sie hätte nicht zu sagen gewußt, was sie erwartet hatte - aber das nicht. Was sie bisher vom Inneren des Läufers gesehen hatte, erschütterte sie fast mehr, als wären sie durch ein chromblitzendes Labyrinth aus unverständlicher Supertechnologie geirrt. Alles hier war so primitiv und grob, daß es schon wieder fast genial sein mußte, um überhaupt zu funktionieren. Das einzige, was sie an dieser Maschine wirklich beeindruckte, war ihre unvorstellbare Größe.

Sie gingen weiter. Ganz automatisch wollte Skudder wieder die Spitze übernehmen, als sie die Treppe emporzusteigen begannen, aber diesmal vertrat ihm Charity mit einem raschen Schritt den Weg und ging so schnell weiter, daß er gar keine Gelegenheit bekam, sie aufzuhalten.

Die Treppe war wie alles hier - alt und von Rost zerfressen und aus fünfzehn Zentimeter dicken Eisenplatten zusammengeschweißt, und so grob, als hätte dies ein Kind getan, oder jemand, der zum ersten Mal im Leben einen Schweißapparat in der Hand hielt und nicht so recht wußte, was er damit anfangen sollte. Und wie die Leiter vorhin, so ermüdete auch diese Treppe ihre Beine schon nach wenigen Schritten, denn sie war für Wesen gebaut, die sich völlig anders bewegten als Menschen.

Der Schimmer von Rot in dem grauen Licht nahm allmählich an Intensität zu. Ein warmer Luftzug wehte ihnen in die Gesichter, aber es war eine unangenehme Art von Wärme, das Gefühl, ein Brennen direkt auf der Haut zu verspüren, ohne daß es die grausame Kälte im Inneren des Läufers wirklich vertrieb. Endlich erreichten sie das Ende der Treppe - und Charity blieb so abrupt stehen, daß Skudder mitten im Schritt gegen sie prallte.

Unter ihnen erstreckte sich eine gigantische Halle. Sie war von rotem Licht und flackernden blauen Blitzen und gewaltigen Funkenschauern erfüllt, und auf ihrem Boden - aber auch an den Wänden klebend und an gewaltigen stählernen Trägern von der Decke hängend - erhoben sich genau die bizarren Maschinen, die Charity erwartet hatte. Sie sah gewaltige Konstruktionen aus Zahnrädern und mahlenden stählernen Kiefern, riesige Kräne und lodernde Schmelzöfen, Hammerwerke und gewaltige, zischende Dampfmaschinen. Über ein ganzes Dutzend Förderbänder - jedes einzelne war so breit wie eine Straße - ergoß sich ein ununterbrochener Strom von Erz und Metallschrott in die Halle: verrostete Autowracks, verbogene Stahlträger, Teile von Gebäuden, Rohren, Pipelines, Hochspannungsmasten oder einfach nur noch große, bis zur Unkenntlichkeit zusammengedrückte und -gerostete Brocken...

»Mein Gott!« murmelte Skudder. »Das ... das ist eine ganze Fabrik!«

Der Raum, der sich unter ihnen erstreckte, mußte fast das gesamte Innere des Läufers einnehmen. Hunderte, wenn nicht Tausende von Ameisen bewegten sich zwischen den gigantischen Maschinen hin und her, sortierten das hereinkommende Material, trugen es zu den Schmelzkesseln oder ließen es zwischen den schnappenden Metallkiefern der Pressen verschwinden, taten tausende Dinge gleichzeitig, von denen Charity nur einen Bruchteil überhaupt erkennen oder einordnen konnte. Es war eine riesige Fabrik, die auf Beinen durch das Land lief und Metall und Erz sammelte, das sie auf der Stelle einschmolz und weiterverarbeitete. Es war unvorstellbar. Obwohl Charity es sah, weigerte sie sich für Augenblicke einfach, es zu glauben.

Skudder berührte sie plötzlich an der Schulter und deutete nach links, und als Charity in die angegebene Richtung sah, fuhr sie erschrocken zusammen und zog sich hastig wieder ein paar Schritte weit auf die Treppe zurück. Die Tür, durch die sie gekommen waren, war längst nicht die einzige. Es mußte Dutzende, wenn nicht Hunderte von Ein- und Ausgängen in die Hallen geben, und nur ein paar Schritte von ihnen entfernt arbeitete eine Anzahl Ameisen an einer riesigen Maschine, die halbgeschmolzene Eisenbarren verschlang und auf der anderen Seite als rotglühende, metergroße Würfel wieder ausstieß. Daß die Moroni sie nicht gesehen hatten, war pures Glück gewesen.

Es verging eine Weile, bis einer von ihnen überhaupt wieder in der Lage war, irgend etwas zu sagen. Dies alles hier war so ... völlig anders, als sie erwartet hatten. Und auf eine subtile Art erschreckender als alles, was sie sich vorgestellt hatten.

»Wir müssen hier raus!« stieß Faller plötzlich hervor. Und als hätten seine eigenen Worte den Bann gebrochen, begann er am ganzen Leib zu zittern. Charity tauschte einen alarmierenden Blick mit Skudder, der sie verstand und wie zufällig hinter den jungen Soldaten trat. In der Halle unten herrschte ein solcher Lärm, daß kaum die Gefahr bestand, daß jemand sie hörte. Aber es gehörte nicht einmal mehr sehr viel Menschenkenntnis dazu, um zu sehen, daß Faller am Ende seiner Kraft angelangt war. Noch ein paar Augenblicke, und er würde einfach zusammenbrechen und irgend etwas Verrücktes tun.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Charity, aber ihre Worte bewirkten eher das Gegenteil - Faller begann noch stärker zu zittern, und seine Augen waren weit und dunkel vor Angst. An seinem Hals pochte eine Ader.

»Wir werden alle sterben«, stammelte er. »Wir ... kommen hier nie mehr raus! Es ist vorbei!«

»Nichts ist vorbei«, antwortet Charity, in nun schon etwas schärferem Tonfall. »Reißen Sie sich zusammen! Bisher haben sie uns nicht einmal bemerkt.«

»Ich ... ich will raus hier«, flüsterte Faller. Er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben. »Sie werden uns alle umbringen.«

Charity versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Faller taumelte zurück, hob die Hand an die brennende Wange und starrte sie aus Augen an, die weit und starr vor Panik waren. Er sagte nichts mehr, aber die Gefahr war keineswegs vorüber. Der Trick, einen hysterischen Anfall durch etwas so Simples wie eine Ohrfeige zu beenden, funktionierte wohl doch nur im Kino verläßlich, dachte Charity bedauernd. In der Wirklichkeit nur höchst selten.

Sie signalisierte Skudder mit einem Blick, weiter auf Faller zu achten, drehte sich herum und ging zur Tür zurück. Der Anblick hatte nichts von seiner unheimlichen Irrealität verloren.

Sie spürte, wie jemand neben sie trat und spannte sich leicht, aber es war nur Leßter, der, ebenso verblüfft und ungläubig wie sie, mit einer Art wissenschaftlichem Interesse in die Halle hinabblickte. »Das ist das Verrückteste, was ich jemals gesehen habe«, sagte er. »Und außerdem dürfte es überhaupt nicht funktionieren.«

Charity sah ihn fragend an.

Der junge Soldat deutete mit weit gespreizten Fingern auf die wandelnde Fabrikhalle hinab. »Verstehen Sie etwas von Physik?«

»Ich bin Astronautin«, antwortete sie, wobei sie sich selbst ein wenig über den leicht beleidigten Unterton wunderte, der sich dabei in ihre Stimme schlich.

»Ich nicht«, sagte Leßter achselzuckend. »Aber verrückte Ideen haben mich schon immer fasziniert. Und das hier ist eine verrückte Idee.«

»Wieso?«

»Weil es unmöglich ist.« Leßter zog eine Grimasse. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich sehe es selbst. Aber das ändert nichts daran, daß es unmöglich ist. Es dürfte gar nicht existieren.« In halb spöttischem, zum Teil aber auch fast dozierend klingendem Tonfall fuhr er fort: »Falls die Naturgesetze auch für unsere Freunde von den Sternen gelten, heißt das. Dieser Koloß müßte unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie ein Walfisch auf dem Trockenen. Oder zumindest bis an die Schultergelenke in den Boden einsinken, wenn er auch nur einen Schritt macht.«

»Aber er tut es nicht.«

»Das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe«, seufzte Leßter. »Glauben Sie, daß sie wissen, daß wir hier sind?«

Charity benötigte eine Sekunde, um dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Zögernd schüttelte sie den Kopf. »Ich denke nicht. Unsere Begegnung unten war wahrscheinlich ein reiner Zufall.«

Leßters Blick glitt weiter durch die riesige Halle. Ein nachdenklicher Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. »Ich frage mich, ob dieses Ding so etwas wie eine Zentrale hat, von der aus es gelenkt wird.«

»Wahrscheinlich«, antwortete Charity. »Warum fragen Sie?«

»Weil wir sie dann erobern könnten«, antwortete Leßter ruhig.

»Sie sind verrückt!« murmelte Charity.

Leßter lachte. »Ich weiß. Das ist Bedingung, um diesen Job zu bekommen.«

Er lachte, und nach einer Sekunde stimmte Charity in sein Lachen ein, als ihr klar wurde, daß Leßter mit haargenau den gleichen Worten antwortete, die sie selbst benutzt hatte, als sie mit dem anderen Soldaten sprach.

»Ich meine es ernst«, fuhr Leßter fort. »Wir können nicht hierbleiben und abwarten, was passiert. Früher oder später werden sie uns entdecken - oder wir erfrieren.«

Leßter runzelte die Stirn. Er schien etwas entdeckt zu haben, denn er blickte einige Sekunden lang konzentriert auf einen Punkt auf der anderen Seite der Halle, dann hob er den Arm und deutete auf eine zerschrammte silberfarbene Halbkugel, die unter die Decke des Läufers geklebt war und an einer Seite mit der Wand verschmolz. Eine Anzahl ungleichmäßig verteilter, stecknadelkopfgroßer weißer Punkte übersäte die Kuppel; Fenster, durch die Licht aus ihrem Inneren drang. »Das da könnte passen«, sagte Leßter nachdenklich. »Wenn ich dieses Ding gebaut hätte, würde ich die Kommandoeinheit genau dorthin setzen.«

Seine Worte erschienen Charity logisch - und absurderweise war es genau dieser Umstand, der sie einen Moment zögern ließ. Nichts, aber auch absolut gar nichts hier war logisch. Nach allem, was sie bisher gesehen hatte, hätte es sie nicht einmal mehr überrascht, hätte sie herausgefunden, daß sich die Kommandozentrale dieses stählernen Ungetüms auf einem Hundeschlitten befand, der dem Läufer in fünf Meilen Entfernung folgte.

»Selbst wenn Sie recht haben«, sagte sie zögernd, »wie kommen wir dorthin? Ich glaube nicht, daß wir einfach durch die Halle marschieren und darauf hoffen können, daß sie zu beschäftigt sind, um uns zu bemerken.«

Leßter zuckte nur mit den Schultern. »Sind Sie hier der Kommandant, oder ich?« fragte er grinsend.

Charity warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, aber dann entdeckte sie das spöttische Glitzern in seinen Augen und mußte gegen ihren Willen in sein Lächeln einstimmen. Sie hob ihr Gewehr, schaltete den Zielcomputer ein und richtete ihn auf die Kuppel unter der Decke. Aber auch durch die vergrößerte Optik betrachtet blieb dieser stählerne Auswuchs dort oben, was er war - eine zerschrammte Beule mit einem Dutzend wie hineingefressen wirkender Löcher, hinter denen blasses gelbes Licht schimmerte und sich Schatten bewegten. Nach ein paar Sekunden senkte sie die Waffe wieder und ging enttäuscht zu Skudder und den beiden anderen zurück.

Phillipsen hatte sich inzwischen wieder beruhigt, aber er wirkte noch immer blaß, seine Bewegungen und Blicke waren fahrig.

»Also?« begrüßte sie Skudder. »Habt ihr herausgefunden, was das hier ist?«

»Nein«, antwortete Charity. Und nach einem kurzen Zögern und einem Blick in Leßters Richtung fügte sie in fast beiläufigem Ton hinzu: »Aber ich weiß jetzt, was wir tun werden. Was immer es ist - wir werden es erobern.«

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