11


Leßter benötigte sehr viel weniger als eine halbe Stunde, um das der Steuerung des Läufers zugrundeliegende Prinzip zu begreifen. Aber er hätte diese halbe Stunde auch gar nicht gehabt. Die gepanzerte Tür der Zentrale war dreimal unter ungeheuer harten Stößen erzittert, und zweimal hatte der Stahl zu glühen begonnen, als die Moroni Strahlenwaffen oder spezielle Werkzeuge einsetzten, um die Tür aufzubrechen; unverständlicherweise hatten sie ihre Bemühungen jedesmal wieder eingestellt, kurz bevor das Metall wirklich schmelzen konnte.

Aber Charity und die anderen wußten auch, daß ihr Kredit bei der Glücksgöttin längst überzogen war. Früher oder später würden die Moroni eine Möglichkeit finden, hier hereinzukommen.

Charity blickte einen Moment lang Leßter an, der vornüber gebeugt und mit konzentriertem Gesichtsausdruck über dem Steuerpult stand und vorsichtig hier einen Hebel bewegte, oder etwas in eine Tastatur eintippte, und konzentrierte sich dann wieder auf den Monitor, der den Gang vor der Zentrale zeigte. Im Moment sah sie nur vier oder fünf Ameisen, die mit schußbereit erhobenen Waffen die Tür bewachten, aber vor einigen Minuten hatte es dort draußen von Moroni gewimmelt. Und warum immer sie gegangen waren, sie würden zurückkommen und wahrscheinlich etwas mitbringen, mit dem sie diese Tür endgültig aufbrechen konnten. Charity vermutete, daß der einzige Grund, aus dem sie es noch nicht getan hatten, der war, daß sie die Tür öffnen wollten, ohne den dahinterliegenden Raum völlig zu verwüsten.

»Wie lange noch?« fragte Skudder.

Die Frage galt Leßter, der sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr und dann die Hand nach einem der bizarr geformten Hebel ausstreckte. Ein spürbares Schütteln ging durch den Rumpf des Läufers, als er ihn ein Stück weit nach oben bewegte und dann hastig wieder in seine Ausgangsposition zurückschob.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, wie es funktioniert«, sagte er. Er sah auf, aber anstelle von Zufriedenheit oder Erleichterung sah Charity in seinen Augen nur eine tiefe Verwirrung. »Das Ding ist so primitiv, daß es schon fast wieder genial ist«, murmelte er.

»Können Sie ihn steuern?« fragte Charity.

Leßter zögerte einen winzigen Moment, aber dann nickte er. »Ich glaube ja«, sagte er.

»Dann zeigen Sie mir, wie es funktioniert«, verlangte Skudder. »Ich übernehme die Steuerung ... Sie können sich inzwischen um den Rest hier kümmern.«

Leßter sah ihn fragend an, und Skudder fuhr mit einer Geste auf die brandgeschwärzte, verzogene Tür fort: »Die Wand wird nicht ewig halten. Wir müssen uns irgendwie verteidigen. Vielleicht gibt es irgendeinen Verteidigungsmechanismus. Einen Energieschirm oder Waffen.«

»Die gibt es sogar ganz bestimmt«, antwortete Leßter, »aber es hätte wenig Sinn, danach zu suchen.« Er deutete auf das Pult hinter sich. »Ich bin froh, daß ich das da verstehe. Für den Rest würde ich Stunden brauchen.«

»Sie sollten lieber versuchen, es in Minuten zu schaffen«, sagte Charity und blickte wieder auf den kleinen Monitor vor sich hinab.

Leßters Blick folgte dem ihren, dann drehte er sich herum und berührte mit einer fast routinierten Bewegung einen Schalter auf dem Pult. Auf dem großen Zentralmonitor verschwand das Bild des Schneesturmes und machte der gleichen Kameraeinstellung Platz, die auch Charity beobachtete: dem Korridor vor der Zentrale. Ein gutes Dutzend Moroni marschierte dort gerade auf und begann, ein Gerät auf einem großen, metallenen Dreibein zu montieren. Keiner von ihnen hatte einen Apparat wie diesen je zuvor gesehen, aber es gehörte auch nicht sehr viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wozu er diente.

Leßter fluchte halblaut, schaltete den Bildschirm wieder auf Außenbeobachtung um und begann hastig, an den Kontrollinstrumenten des Läufers zu hantieren. Eine Anzahl schwerer, krachender Stöße lief durch den Leib der Riesenmaschine, dann konnten sie fühlen, wie sich der gigantische stählernde Käfer zur Seite neigte und zitternd zu drehen begann.

»Was tun Sie da?« fragte Skudder alarmiert und hob seine Waffe.

Charity drückte seinen Arm herunter und schüttelte den Kopf. »Laß ihn«, sagte sie. »Ich glaube, er weiß, was er tut.« Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm vor sich. Die Ameisen arbeiteten mit schon fast unheimlicher Schnelligkeit. Das Gerät - bei dem es sich nur um eine Waffe handeln konnte - war beinahe fertig montiert, und die Ameisen, die die Tür bewachten, begannen jetzt hastig zurückzuweichen.

Mühsam riß sie sich von dem Anblick los und trat an Leßters Seite. Das Gesicht des jungen Soldaten glänzte vor Schweiß, und sein Blick war starr. Seine Hände zitterten, aber sie bewegten sich trotzdem sehr schnell und präzise. Obwohl sie wußte, daß es unmöglich war, hatte sie das Gefühl, daß er etwas tat, worin er große Erfahrung hatte.

»Was haben Sie vor?« fragte sie.

Sie bekam keine Antwort, und der Ausdruck auf Leßters Zügen erklärte ihr, daß er ihre Frage nicht einmal gehört hatte. Eine weitere Sekunde lang starrte sie ihn an, dann hob sie den Blick und sah auf den großen sechseckigen Bildschirm.

Das Bild hatte sich nicht geändert: Vor dem Läufer tobte noch immer ein höllischer Orkan aus Schnee und Eiskristallen, und das Land schwankte noch immer wie betrunken von rechts nach links, hob und senkte sich. Aber sie hatte das Gefühl, daß die Maschine schneller geworden war. Und noch irgend etwas war nicht mehr so wie vor Augenblicken. Aber sie wußte nicht, was.

»Was tun Sie?« fragte sie.

Leßter antwortete auch jetzt nicht, aber seine Finger huschten schneller über die bizarren Tasten und Schalter. Das Stampfen der Schritte und das Rütteln des Bodens wurden heftiger, und dann mischte sich ein neues, fremdes Geräusch hinein: ein dumpfes, an- und abschwellendes Heulen, das immer lauter und lauter wurde, als wäre irgendwo ein gewaltiger Elektromotor angesprungen. Charity sah den jungen Soldaten mit immer größerer Beunruhigung an, aber Leßters Blick hing wie gebannt an den Skalen des Instrumentenpultes, und sie spürte, daß es besser war, ihn jetzt nicht anzusprechen.

»Charity!«

Mit einem Ruck fuhr sie herum und trat wieder neben Skudder, der auf den Monitor deutete, auf dem der Gang von der Zentrale zu sehen war. Die Ameisen hatten ihre Waffe fertig aufgebaut, und gerade als Charity neben den Hopi trat, begann auf der Oberseite des Instrumentes ein dunkelgrünes, unheimliches Licht zu glühen.

»Haltet sie auf!« sagte Leßter gepreßt. »Nur noch einen Moment!«

»Okay.« Skudder hob seine Waffe. »Machen Sie die Tür auf.«

Charity fuhr erschrocken zusammen und wollte etwas sagen, aber Leßter hatte bereits einen Schalter berührt, und aus dem Inneren der gepanzerten Tür klang das schrille Wimmern eines winzigen Servomotors.

Aber die Tür rührte sich nicht.

Leßter fluchte, drückte eine andere Taste, und das Geräusch des überdrehten Motors wurde schriller und ungesunder, ohne daß irgendeine andere Wirkung zu sehen gewesen wäre. Offensichtlich hatten die vorhergehenden Versuche der Moroni, die Tür aufzubrechen, den Mechanismus nachhaltig beschädigt.

Sie blickte wieder auf den Schirm - und zuckte zusammen. Aus dem Lauf der klobigen Waffe schoß ein grellgrüner Energieblitz, und den Bruchteil einer Sekunde später zeigte der Monitor nur noch das Flimmern von Störungen.

»Leßter!« sagte Charity gehetzt. »Tun Sie etwas!«

»Das habe ich schon«, antwortete Leßter. »Wir brauchen nur noch ein paar Minuten. Vielleicht schaffen wir es.«

Auch Charity nahm jetzt ihr Gewehr von der Schulter und entsicherte die Waffe, während sie den Lauf auf die Tür richtete. Sie suchte vergeblich nach glühendem Metall oder Rissen oder anderweitigen Beschädigungen. Aber irgend etwas geschah dort draußen. Sie spürte ein schwer zu beschreibendes, kribbelndes Gefühl, daß ihren ganzen Körper durchflutete, als wäre die Luft plötzlich mit Elektrizität erfüllt, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Skudder und Faller unruhig bewegten. Offensichtlich erging es ihnen ebenso.

Charitys Blick wanderte immer nervöser zwischen der Tür und Leßters Gestalt hin und her. Aber sie wußte nicht einmal, was ihr mehr Sorgen machte - der Gedanke an das, was die Moroni dort draußen taten, oder die beinahe unheimliche Schnelligkeit, mit der Leßters Finger über das Instrumentenpult huschten und Dinge taten, deren Wirkung sie nicht einmal zu erahnen vermochte. Für einen Moment fragte sie sich ganz ernsthaft, wer dieser Mann war. Ganz bestimmt nicht das, was zu sein er ihnen bisher vorgespielt hatte.

Das Knistern elektrischer Spannung in der Luft wurde stärker und erreichte fast schmerzhafte Intensität. Gleichzeitig glaubte Charity, eine Anzahl haarfeiner Risse zu erkennen, die plötzlich die Tür und einen Teil der Wand daneben überzogen, war aber nicht ganz sicher.

»Geht von der Tür weg«, sagte Leßter. »Und schießt, sobald sie sich öffnet.«

Sie gehorchten hastig. Die Risse waren nun deutlicher zu sehen, und allmählich begannen sie ein mattes, grünes Glühen wahrzunehmen, das durch diese Risse hindurchschimmerte.

Und dann ging alles sehr schnell und mit unheimlicher Lautlosigkeit: Aus den winzigen Sprüngen wurden fingerbreite, gezackte Risse, die lautlos und rasend schnell zusammenwuchsen, während das Metall der Tür einfach zu verschwinden schien; wie Eis, das in der Sonne verdampfte. Eine Flut grünen kalten Lichtes strömte in die Zentrale und begann alles aufzulösen, auf was es traf - Charity sah mit einem hastigen Blick, daß sich ein Teil der Instrumente an der Rückwand des Steuerraumes in grauen Staub auflöste. Funken und Flammen stoben auf, und in der Luft lag ein Ozongestank, der ihr fast das Atmen unmöglich machte.

»Schießt!« schrie Leßter.

Charity und auch Faller waren viel zu verblüfft, um auf ihn zu hören, aber Skudder zögerte keine Sekunde mehr. Er hob seine Waffe, richtete den Lauf auf das Zentrum des unheimlichen grünen Leuchtens und drückte ab, drei-, vier-, fünfmal hintereinander. Die grellen Laserschüsse waren in der grünen Lichtflut kaum zu sehen, aber Charity hörte das dumpfe Echo krachender Explosionen draußen auf dem Korridor. Schließlich überwand auch sie ihre Lähmung und hob ihr Gewehr, aber sie mußte nicht mehr abdrücken. Einer von Skudders Schüssen schien die Waffe der Moroni getroffen zu haben, denn das grüne Licht erlosch plötzlich. Gleichzeitig wurde es fast unheimlich still. Alles, was noch zu hören war, war das leise Rieseln des grauen Staubes, in den der Energiestrahl das Metall verwandelt hatte.

Charity erhob sich vorsichtig hinter dem Pult, hinter dem sie Deckung gesucht hatte, und näherte sich geduckt der Tür. Draußen flackerten Flammen, und sie konnte nichts erkennen außer orangefarbenem Licht und tanzenden Schatten. Trotzdem bewegte sie sich mit äußerster Vorsicht. Skudders Schüsse hatten vielleicht die Waffe zerstört, aber dort draußen mußten Dutzende von Ameisen auf sie warten.

Mit klopfendem Herzen näherte sie sich der Tür, preßte sich eng mit dem Rücken gegen die Wand daneben und wartete, bis Skudder auf der anderen Seite dasselbe getan hatte.

Sie warteten noch eine halbe Sekunde, nach einem raschen Blick, den sie tauschten und der alles war, was sie an Verständigung benötigten, dann warfen sie sich beide in einer fast synchronen Bewegung vor. Charity sprang mit einem Satz aus der Tür und rollte draußen über die Schulter ab, um mit schußbereit erhobener Waffe wieder auf die Füße zu kommen, während Skudder sich auf ein Knie herabfallen ließ und sein Gewehr hob.

Keiner von ihnen gab auch nur einen Schuß ab.

Einer von Skudders ungezielten Energiestößen hatte die Waffe der Moroni getroffen und in einen glühenden Schrotthaufen verwandelt, und daneben, dahinter und auch davor lagen reglose Ameisen, zum Teil verkrümmt und mit angezogenen Gliedern wie sterbende Spinnen, zum Teil ausgestreckt und sich noch mühsam bewegend.

Aber es war nicht die Explosion der Waffe gewesen, die sie niedergestreckt hatte.

Charity fühlte, was es gewesen war, ehe sie es begriff.

Sie fühlte es als schneidenden Schmerz in der Kehle, als sie zu atmen versuchte, und als fast unerträgliches Brennen auf der nackten Haut ihres Gesichtes. Und sie sah es als graue Dampfwolke, die im Rhythmus ihrer Atemzüge vor ihrem Gesicht erschien.

Es war unglaublich kalt hier draußen. Das Atmen war fast unmöglich. Sie spürte, wie die Kälte ihr die Tränen in die Augen trieb und sie fast im gleichen Moment zu Eis auf ihrem Gesicht erstarren ließ, und wie sie trotz des isolierenden Anzugs, den sie trug, beinahe augenblicklich in ihren Körper kroch, ihre Haut prickeln ließ und ihre Muskeln zu lahmen begann. Ihre Finger und Zehenspitzen wurden taub, und sie hatte plötzlich alle Mühe, das Gewehr in den Händen zu halten.

Mehr aus einem Reflex als aus logischem Denken heraus sprang sie in die Höhe und wich rückwärts gehend wieder zur Tür der Zentrale zurück. Sie atmete flach und durch die zusammengebissenen Zähne, und trotzdem hatte sie das Gefühl, flüssige Lava ihre Kehle herunterrinnen zu fühlen. Und auch Skudder erging es nicht anders. Sein Gesicht war verzerrt und sah aus wie mit Puderzucker bestäubt, und auch seine Hände waren taub und ungelenk, so daß er die Finger kaum noch bewegen konnte.

Es war diese grausame Kälte gewesen, die die Moroni getötet hatte. Und nicht nur die Besatzung der Kanone. Überall in dem langen, schmalen Korridor, dessen Wände sich jetzt mit glitzernden Eiskristallen überzogen hatten, lagen reglose Insektenkrieger. Die meisten tot, einige bewegten sich noch schwach, waren aber nicht mehr in der Lage, aufzustehen oder auch nur noch nach ihren Waffen zu greifen. Ein eisiger Wind fauchte durch den stählernen Gang.

Hastig wichen sie wieder in die Zentrale des Läufers zurück. Hier drinnen war es spürbar wärmer, aber sie sah an dem Ausdruck auf Fallers Gesicht, daß die Temperaturen jetzt auch hier merklich fielen. Die Schicht aus glitzernden Eiskristallen, die den Boden und die Wände draußen überzog, begann lautlos und rasch über die Schwelle zu kriechen und breitete sich wie weißer Schimmel auf dem Boden und den Wänden aus; nicht sehr schnell, aber unaufhaltsam.

»Was haben Sie getan?«

Leßter beantwortete Charitys Frage auch jetzt nicht, aber er hob für einen Moment den Blick und schenkte ihr ein Lächeln, das Charity frösteln ließ. Er sah noch immer aus wie ein großer Junge, der sich nur als Erwachsener verkleidet hatte, und in seinen Augen glitzerte noch immer diese kindliche Fröhlichkeit, aber Charity mußte plötzlich daran denken, wie kaltblütig er Phillipsen getötet hatte, so berechnend und logisch wie eine Maschine.

»Suchen Sie etwas, um die Tür zu verbarrikadieren«, sagte er. »Bevor wir hier drinnen erfrieren.«

Skudder setzte zu einer wütenden Entgegnung an, aber Charity brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Leßter hatte wieder einmal recht - sie hatten einfach keine Zeit, um mit ihm zu reden. Die Temperaturen fielen rasend schnell. Draußen im Korridor herrschten Minusgrade, die die Insekten binnen Minuten kampfunfähig gemacht und vielleicht getötet hatten, und wenn sie zuließen, daß ihr letztes bißchen kostbarer Wärme hinausströmte, dann würden auch sie in einigen Minuten erfrieren. Während Faller und der Hopi begannen, eines der großen Instrumentenpulte auseinanderzunehmen, um die Platte als provisorische Tür vor den Ausgang zu schweißen, trat Charity noch einmal in den Gang hinaus und sah sich um. Obwohl kaum eine Minute vergangen war, hatte sich das Bild wieder verändert, auf furchtbare Weise verändert: Eine glitzernde Eisschicht hatte die Körper der gestürzten Moroni mit einem weißen Panzer überzogen, und von der Decke und den Wänden wuchsen bizarre Gebilde aus Eis herab. Die Luft war voller staubfeinem, wirbelndem Schnee und so schneidend kalt, daß Charity schmerzvoll hustete, als sie einen Atemzug nahm.

Was war hier geschehen?

Sie wich wieder ein Stück in die Zentrale zurück, überzeugte sich mit einem raschen Blick vom Fortgang von Skudders und Fallers Arbeit und drückte dann einige Knöpfe auf dem Instrumentengürtel ihres Anzuges. Anders als Skudder und die drei Soldaten hatte sie darauf verzichtet, sich einen der modernen Kampfanzüge aus Hartmanns unerschöpflichem Materiallager geben zu lassen, sondern ihre alte Spaceforce-Uniform anbehalten. Jetzt schaltete sie die Heizung des Anzuges auf Maximum, raffte mit der linken Hand das Haar zusammen und ließ dann den aufblasbaren Kunststoffhelm aus dem Kragen herausfahren. Auf der Oberfläche ihres Armbandgerätes begann eine rote Warnlampe zu blinken, und sie wußte, daß die sechzig Jahre alten Batterien des Anzuges der Belastung nur wenige Minuten standhalten würden. Aber in diesen wenigen Minuten war die Montur sogar in der Lage, der Kälte des Weltraums zu trotzen.

Sie wartete kaum, bis sich der Helm geschlossen und mit einem zischenden Laut völlig aufgeblasen hatte, sondern stürmte aus der Zentrale, wandte sich nach rechts und lief mit weit ausgreifenden Schritten auf die Tür zu, durch die sie diesen Gang betreten hatten.

Noch bevor sie sie erreichte, sah sie, daß etwas dahinter nicht stimmte. Wo zuvor das blasse, vom roten Glühen der Schmelzöfen durchdrungene Licht der Halle gewesen war, da blendete jetzt ein grell-weißer Schein ihre Augen. Eine heftige Windböe schlug ihr entgegen und ließ sie taumeln, und auf dem spiegelglatt gefrorenen Boden verlor sie um ein Haar den Halt. Sie fing sich mit der Hand an der Wand ab, ging langsamer und blieb schließlich stehen, als sie die Tür erreichte.

Der Anblick dahinter unterschied sich kaum von dem des Ganges. Die riesige Halle war zu einer bizarren Landschaft aus Eisskulpturen und wirbelndem Schnee geworden. Die Feuer, die sie vorhin gesehen hatten, waren zum größten Teil erloschen, der Rest hinter brodelnden Dampfwolken verschwunden. Ein Schneesturm tobte, der sich kaum von dem außerhalb des Läufers unterschied.

Und das konnte er auch nicht, denn er war ein Teil davon.

Charity blickte ungläubig dorthin, wo vor einer halben Stunde noch die Decke der riesigen Fabrikhalle gewesen war.

Sie hatte sich geöffnet. Die gewaltigen, gekrümmten Stahlplatten waren in vier Segmente unterteilt, genau wie die Flügelschale des Käfers, dem die gigantische Maschine glich, nach oben und zur Seite geklappt, so daß der Sturm und die grausamen Temperaturen des Sperrgürtels ungehindert ins Innere der Maschine hatten dringen können. Sie wußte jetzt, was Leßter getan hatte. Und obwohl er ihnen damit allen das Leben gerettet hatte, verspürte sie für einen Moment nichts als Entsetzen.

Charity versuchte vergeblich sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte. Ihre Phantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe, und eigentlich war sie auch froh darum. Vielleicht hatten die Moroni nicht einmal Zeit gefunden, überhaupt zu begreifen, was sie umbrachte. Als sich die Hallendecke öffnete, da mußten die Temperaturen binnen weniger Sekundenbruchteile um mehr als hundert Grad Celsius gefallen sein.

Länger als eine Minute blieb Charity reglos so stehen und blickte in die Tiefe der Fabrikhalle herab, aber sie sah nirgendwo mehr ein Zeichen von Leben. Der Dampf begann auseinanderzutreiben, als auch die letzten Feuer erloschen, und die riesigen Zahnräder, Kolben und Transportmaschinen waren längst im unbarmherzigen Griff der Kälte erstarrt und hatten sich unter schimmernden, weißen Eispanzern verborgen.

Schließlich drehte sie sich herum und ging zur Zentrale zurück.

Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Thermometer in ihrem Armbandgerät. Die rote Digitalanzeige zeigte minus einhundertvier Grad Celsius.

Skudder und der junge Soldat waren mit ihrer Arbeit fast fertig, als sie in die Steuerkanzel des Läufers zurücktrat. Sie hatten eine fingerdicke Metallplatte von der Oberfläche eines der Instrumentenpulte heruntergeschnitten und lehnten sie jetzt gegen die Türöffnung. Ihre Bewegungen waren eckig und mühsam, und Charity sah, daß Fallers Hände bluteten. Wahrscheinlich waren sie vor Kälte taub, daß er nicht einmal merkte, wenn er sich verletzte. Rasch ließ sie den Helm wieder zurückfahren und schaltete die Anzugheizung herunter. Sie spürte fast sofort wieder den Ansturm der grausamen Kälte und wünschte sich, es nicht getan zu haben. Aber sie wußte, daß sie binnen weniger Augenblicke vollends erfrieren mußte, wenn sie die altersschwachen Batterien überlastete und der Anzug ausfiel. Sie half den beiden so gut sie konnte. Mit Hilfe einer der beiden Strahlenpistolen der Moroni verschweißten sie die Metallplatte mit dem Türrahmen. Das Ergebnis sah nicht besonders professionell aus, und es wurde dadurch hier drinnen auch nicht wärmer, aber die Platte hinderte das bißchen warme Luft, das es hier noch gab, zumindest daran, in den Gang zu entweichen.

Wieder sah Charity auf ihr Thermometer. Die Zahlen zeigten jetzt minus zweiundsiebzig Grad Celsius. Direkt warm gegen das, was draußen herrschte, dachte sie sarkastisch. Trotzdem eine Temperatur, bei der sie nicht sehr lange überleben würden.

Sie erzählte Skudder und Faller mit wenigen Worten, was sie draußen gesehen hatte, dann wandte sie sich wieder an Leßter. Auch seine Gestalt war verkrampft vor Kälte, und seine Augenbrauen und der dünne Oberlippenbart, der auf seinem Kindergesicht völlig deplaziert wirkte, waren weiß gefroren. Trotzdem hantierten seine Hände weiter an den Kontrollen des Läufers, und sein Blick irrte unablässig zwischen dem Bildschirm und den Anzeigeinstrumenten vor ihm hin und her.

Charity trat mit einem raschen Schritt neben ihn und sprach ihn an. Er reagierte nicht, aber damit hatte sie auch kaum noch gerechnet. Mit einer entschlossenen Bewegung ergriff sie seine Schulter und zwang ihn mit einem groben Ruck, sie anzusehen.

»Sie werden mir jetzt ein paar Fragen beantworten, Leßter«, sagte sie.

Leßter blickte sie an und lächelte.

Charity hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn anzuschreien. Aber der Ausdruck in seinen Augen hielt sie davon ab. Sie spürte nur Verwirrung.

»Wer sind Sie, Leßter?« fragte sie.

»Aber das wissen Sie doch, Captain Laird«, antwortete Leßter.

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Charity. »Ich weiß nicht, wer oder was Sie sind, aber ich weiß eines ganz genau: Sie sind keiner von Hartmanns Männern. Sie sehen vielleicht so aus wie er, aber das ist auch schon alles.«

»Sie täuschen sich, Captain Laird«, antwortete Leßter beinahe sanft. »Ich kann das erklären.«

»Dann tu es«, sagte Skudder düster. »Und ich schwöre dir, daß ich dich eigenhändig umbringen werde, mein Junge, wenn mir deine Erklärung nicht gefällt.«

Leßter sah ihn beinahe vorwurfsvoll an, aber dann lächelte er wieder, schüttelte den Kopf und gab ein halblautes, fast resignierendes Seufzen von sich. »Ich weiß, ich hätte Phillipsen nicht töten dürfen«, sagte er. »Es war falsch. Ich habe einfach die Nerven verloren.«

Charity blickte in seine Augen und erkannte, daß er log. Leßter lächelte immer noch, aber in diesem Lächeln war kein Gefühl, keine Wärme, und es war auch kein unsicheres Lächeln, denn sie erkannte auch keine Angst darin. Im Grunde sah sie überhaupt nichts.

»Das meine ich nicht«, sagte sie. »Wenn wir das hier überleben, dann werden Sie sich vor Ihren Vorgesetzten dafür verantworten müssen. Und vor Ihrem eigenen Gewissen. Falls Sie so etwas haben.«

Sie deutete auf das Instrumentenpult. »Wieso wissen Sie, wie man damit umgeht?«

Leßter zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es eben«, antwortete er mit einem neuerlichen, diesmal beinahe überzeugend geschauspielerten unsicheren Lächeln. »Ich habe einfach ein Talent dafür, Captain Laird. Ich konnte es immer schon. Fragen Sie Faller. Wenn ich eine Maschine sehe, dann weiß ich instinktiv, wie sie funktioniert. Fragen Sie mich nicht, wie ich das mache - ich weiß es nicht. Aber ich kann es.«

»Das stimmt«, antwortete Faller. »Er war schon immer ein Genie am Computer. Sie brauchen ihn nur vor so ein Ding zu setzen, und er kann in einer halben Stunde damit zaubern.«

Charity schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann sein«, sagte sie. »Aber das ist keine Erklärung. Das hier ist eine völlig fremdartige Technologie.«

»Oh, so fremdartig ist sie gar nicht«, sagte Leßter. Er deutete nacheinander auf einige Geräte, die in den Wänden und den bizarr geformten Pulten eingebaut waren. »Sehen Sie, dies und das und das dort, das sind völlig normale Computer. Sehr hochentwickelte Geräte, aber das Funktionsprinzip ist dasselbe wie bei uns. Und einiges von dem anderen Kram ist geradezu lächerlich primitiv, als hätte es ein Kind mit einem Technikbaukasten zusammengebaut. Was genial daran ist, ist, daß beides zusammenarbeitet, und daß es perfekt funktioniert.«

»Wir wollten keinen Vortrag über die Technik der Moroni, Leßter«, unterbrach ihn Skudder grob. »Wir wollen wissen, wieso Sie damit umgehen können.«

»Aber das habe ich doch gerade schon erklärt«, sagte Leßter. »Ich weiß es nicht. Ich kann es eben. Sie sollten froh sein, daß das so ist. Sonst wären wir jetzt nämlich schon tot.«

»Das sind wir wahrscheinlich sowieso«, sagte Skudder düster.

Charity sah ihn fragend an, und Skudder fuhr mit einer wütenden Geste fort:

»Du glaubst doch nicht, daß wir noch einmal hier herauskommen? Wahrscheinlich wissen sie längst, daß wir uns dieses Ding unter den Nagel gerissen haben, und sind bereits auf dem Weg hierher.«

»Das ist nicht gesagt«, sagte Leßter. »Soweit ich das erkennen kann, arbeitet diese Maschine völlig autark. Möglicherweise hat überhaupt niemand etwas gemerkt.«

»Möglicherweise«, murmelte Skudder. »Und wenn möglicherweise doch, dann wimmelt es in einer halben Stunde dort draußen von Ameisen.«

»Kaum.« Charity sah auf den Bildschirm und zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Noch ein paar Grad kälter, und die Luft dort draußen gefriert. Niemand kann dort leben.«

»Hier drinnen ist es auch nicht gerade mollig«, sagte Skudder. Er sah Leßter an. »Gibt es so etwas wie eine Heizung hier?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Leßter. »Um ehrlich zu sein - darum habe ich mich bisher nicht gekümmert.«

Charity deutete auf den großen Monitor. »In welcher Richtung bewegen wir uns?«

Sie war nicht sehr überrascht, als Leßter antwortete: »Nach Norden.«

»Nach Norden?!« Skudder ächzte. »Aber das ... bringt uns direkt in die Todeszone hinein!«

»Wir sind schon mitten drin«, antwortete Leßter ruhig. Er lächelte wieder. »Sie wollten nach New York, oder? Ich bringe Sie hin.«

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