Charitys Gesicht war voller Brandblasen, und aus ihren Fingern und Zehen war längst jedes Gefühl gewichen. Das Digitalthermometer an ihrem Handgelenk hatte es aufgegeben, die richtige Temperatur anzeigen zu wollen, und die Luft, die sie atmete, schnitt abwechselnd eisig und scharf wie gemahlenes Glas und dann wieder so heiß wie Lava in ihre Kehle. Die rückwärtige Wand der Zentrale hatte sich längst in eine bizarre Skulptur aus großen geschwärzten Brandlöchern und Stahl, der wie weicher Wachs unter der Wüstensonne zu bizarren Formen zerlaufen war, verwandelt. Skudder gab in regelmäßigen Abständen Schüsse aus seiner Waffe auf das Metall ab, und im gleichen Rhythmus schlug eine neue, grausame Hitzewelle nach ihren Gesichtern und den ungeschützten Teilen ihres Körpers. Irgendwo hinter der zerfetzten Wand brannte es; rot-orange Flammen, die Licht, aber keine Wärme in den verwüsteten Raum schickten, und in den letzten Minuten war der Läufer mehrmals aus dem Takt gekommen und einmal ganz stehengeblieben. Charity wußte nicht, ob es an den Beschädigungen lag, die Skudder mit seinem unablässigen Laserfeuer in den Kontrollinstrumenten hervorgerufen haben mußte, oder an den Außentemperaturen, die immer noch weiter sanken, obwohl sie den Grad des Vorstellbaren längst überschritten hatten.
Sie wußte auch nicht mehr, wie lange sie schon hier hockten und gegen jede Logik noch am Leben waren. Leßter hatte behauptet, daß der Läufer allerhöchstens zehn Minuten brauchte, um den Rand der Todeszone zu erreichen, aber wenn, dann mußte auch die Zeit in diesem Teil der Welt gefroren sein, so daß sie viel langsamer und träger verstrich als normal.
Sie waren noch zweimal angegriffen worden - einmal von einer ganzen Flotte jener kleinen, buckeligen Kampfschiffe, die den Gleiter mit einem Hagel von Laserschüssen überschüttet hatten, ehe die automatischen Abwehreinrichtungen der Riesenmaschine sie vom Himmel fegten, ein anderes Mal von einem Dutzend bizarr geformter Kettenfahrzeuge, die plötzlich aus dem Schneesturm vor ihnen auftauchten und den stählernen Koloß einzukreisen versuchten. Der Läufer hatte zwei oder drei von ihnen einfach zermalmt, ehe sich der Rest wieder zurückgezogen hatte.
Charity wagte es nicht, auf den Bildschirm zu sehen. Es gab zwei Gründe dafür: Der eine war die Wand aus milchig-grauer, gefrorener Luft, die sich vor dem Läufer erhob und langsam näherkam - Leßter hatte behauptet, sie hätte nur eine Stärke von wenigen Dutzend Metern, und der Läufer könne sie durchbrechen, und sie hatten keine andere Wahl, als diese Behauptung zu glauben und ihr Leben darauf zu verpfänden, daß Leßter sich nicht irrte. Der andere Grund war Leßter selbst. In der Zentrale herrschten Temperaturen, die jedes Leben binnen Sekundenbruchteilen zum Erstarren bringen mußten.
Leßter nicht. Seine Gestalt hatte sich in eine bizarre Statue aus Eis verwandelt, und wenn er sich bewegte, dann knisterte und klirrte es, als spiele jemand mit einer gläsernen Marionette, aber er lebte noch.
»Wie ... lange ... noch?« stammelte Skudder. Die Worte waren kaum verständlich. Seine Zähne klapperten heftig, und als er wieder das Gewehr hob, um einen weiteren Schuß auf die Wand vor ihnen abzugeben, da gelang es ihm kaum, denn seine Hände waren erstarrt.
»Noch ein paar Minuten«, antwortete Leßter. »Halten Sie durch.«
Charity hätte gelacht, hätte sie es noch gekonnt. Aber sie wagte es nicht zu sprechen, denn sie hatte plötzlich die absurde Vorstellung, daß die Worte sich in kleine, scharfkantige Eisscherben verwandeln mußten, die ihr Zunge und Mund zerschnitten. Zitternd drängte sie sich enger an Skudder und Faller heran. Sie hatten den noch immer Bewußtlosen in eine halb sitzende Position aufgerichtet und sich eng an ihn geschmiegt, um sich gegenseitig mit ihren Körpern zu wärmen. Aber sie war nicht einmal mehr sicher, daß Faller noch lebte. Sein Gesicht war zu einer weißen Maske geworden, und der Stoff seiner Jacke war so hart, daß er zerbrach, wenn sie zu heftig dagegen drückte.
Plötzlich änderte sich etwas im stampfenden Rhythmus der Schritte, mit denen der Läufer über das Land pflügte. Charitys Gedanken waren von einem Nebel aus Müdigkeit und Schwäche verwirrt, und sie spürte tief in sich eine verlockende Wärme, den immer stärker werdenden Wunsch, einfach die Augen zu schließen und sich fallenzulassen, keine Kälte, keinen Schmerz, kein Müdigkeit mehr zu verspüren, sondern nur noch einen dunklen, endlosen Schlaf. Sie hatte einmal gehört, daß Erfrieren ein leichter Tod sein sollte, aber wie so vieles, was sie gehört hatte, war das einfach nicht wahr. Es war entsetzlich. Die Kälte war längst auch durch ihren Anzug gekrochen und schien jede einzelne Zelle ihres Körpers in Brand zu setzen. Es war wie ein Verbrennen, nur sehr, sehr viel langsamer.
Wieder ließ ein dumpfer Stoß den Läufer erbeben, und diesmal spürte sie deutlich, wie sich die ganze gigantische Maschine zur Seite neigte und erst im letzten Moment ihre Balance wiederfand. Sie sah auf, blickte aus tränenverschleierten Augen zum Bildschirm hoch und sah nichts weiter als eine unendliche, graue Wand; erstarrter, farbloser Nebel, in dem helle und dunkle Schlieren eingefangen waren, und der das Universum von einem Ende zum anderen verhüllte.
»Achtung!« schrie Leßter. »Jetzt!«
Charity sprang mit einem Satz auf den Bildschirm zu, und dann erschütterte ein ungeheurer Schlag den Läufer. Das Universum auf dem Monitor kippte zur Seite, der Boden unter ihnen senkte sich, und ein Vibrieren, das Charitys Zähne abermals schmerzhaft aufeinanderschlagen ließ und sie um ein Haar völlig zu Boden schleuderte, lief durch die Riesenmaschine. Ein stöhnender Laut erklang, dann das furchtbare Splittern und Krachen von zerberstendem Metall - und plötzlich war der graue Nebel auf dem Bildschirm verschwunden und helles, in den Augen schmerzendes Sonnenlicht flutete über den Monitor in die Zentrale.
Das Schütteln des Bodens und das ungeheure Splittern und Krachen und Bersten hielten an. Der Lärm wurde so gewaltig, daß Charity mit einem Schrei die Hände vor die Ohren schlug, ohne das Geräusch dadurch aussperren zu können. Für einen Moment war es schlimmer als die Kälte. Schläge wie von gigantischen Hämmern erschütterten den Läufer, und die Welt auf dem Bildschirm tanzte immer noch wie betrunken hin und her. Irgendwo tief unter ihren Füßen zerbrach etwas, etwas gigantisch Großes, dann neigte sich der Boden des Läufers mit einem Schlag und so heftig, daß sie alle drei den Halt verloren und quer durch den Raum geschleudert wurden.
Eine stählerne Wand beendete ihren Sturz. Das Metall war so kalt, daß ihre Wange und ihre linke Hand, die es berührten, daran kleben blieben. Ihre Haut war taub vor Kälte, aber als sie sich mit einem Ruck in die Höhe stemmte, da blieben blutige Hautfetzen an dem Metall zurück, und sie spürte, wie Blut an ihrem Gesicht herablief. Alles drehte sich um sie. Sie versuchte, vollends in die Höhe zu kommen, aber ihre Kräfte reichten nicht mehr, und die Kälte sprang sie jetzt an wie ein Raubtier, das geduldig darauf gewartet hatte, daß sie in seine Nähe kam. Sie keuchte, fiel auf Hände und Knie herab und spürte, wie ihre Sinne zu schwinden begannen. Und es war keine normale Bewußtlosigkeit, die hinter dem sich immer schneller drehenden Wirbel in ihren Gedanken lauerte.
Vielleicht war sie in ihrem Leben dem Tod noch nie so nahe wie jetzt gewesen. Aber sie wurde ihm noch einmal entrissen, und das im wortwörtlichen Sinne. Eine Hand griff nach ihrer Schulter und zerrte sie in die Höhe, sie fühlte sich nach vorn gestoßen und abermals gepackt - und plötzlich pulsierte ein Strom kribbelnder, fast schmerzhafter Wärme durch ihren Körper!
Verblüfft öffnete sie die Augen und blickte in Leßters Gesicht. Es war von einer Rauhreifschicht bedeckt, die sich wie eine Totenmaske aus Eis auf seinem Gesicht niedergelassen hatte und die Konturen nachzeichnete. Aber etwas darunter ... war anders geworden. Sie wußte nicht was. Es war keine körperliche Veränderung, auch nichts in seinem Blick, sondern ein fast unheimlicher Wandel, als hätte sich etwas dicht unter der Oberfläche des Sichtbaren verschoben, in eine Richtung, die sie ebensowenig bestimmen konnte wie die Art dieser Veränderung.
»Geht es besser?«
Charity hätte vermutlich nicht einmal geantwortet, hätte ihre Zunge ihr gehorcht - was sie in diesem Moment nicht tat. Mit einer Mischung aus Entsetzen und immer tiefer werdender Verwirrung starrte sie Leßter an. Der Strom unheimlicher Wärme war noch immer da, ein Gefühl, das aus Leßters Hand in ihren Körper strömte und eigentlich keine wirkliche Wärme war, sondern eher ein Strom prickelnder, pulsierender Kraft, der die Kälte in ihrem Körper nicht vertrieb, es Charity aber möglich machte, sie zu ertragen. Und mit dem noch etwas in sie hineinzufließen schien. Etwas Unheimliches, durch und durch Fremdes, das ihr trotzdem auch irgendwie bekannt vorkam.
Sie hörte ein Stöhnen neben sich und wandte mühsam den Kopf. Skudder stand neben ihr, halb gegen ein geborstenes Pult gelehnt und wie sie mit blutenden Händen und Gesicht. Leßter hatte die linke Hand auf seine Schulter gelegt, so wie seine rechte auf Charitys ruhte, und der Ausdruck in Skudders Augen sagte ihr, daß der gleiche Strom unheimlicher Kraft auch in seinen Körper floß und ihn am Leben erhielt.
»Glauben Sie, daß Sie es jetzt allein schaffen?« fragte Leßter. »Ich muß mich um die Kontrollen kümmern.«
Es war verrückt - aber Charity spürte, daß die Sorge in seiner Stimme echt war. Sie nickte schwach, und Leßter wandte sich um und eilte mit zwei schnellen Schritten zum Kontrollpult des Läufers zurück.
Sie wankte. Der Zustrom kräftigender Energie war im gleichen Moment abgebrochen, in dem Leßters Hand sie nicht mehr berührte, und von einem Sekundenbruchteil auf den anderen spürte sie die grausame Kälte wieder. Aber sie konnte sie jetzt ertragen. Sie war nur noch qualvoll, nicht mehr tödlich. Es war, als wäre etwas von der unheimlichen Kraft des jungen Soldaten in ihr zurückgeblieben, um sie zu beschützen.
Mühsam drehte sie sich halb herum, blickte erst Skudder und dann die verkrümmte Gestalt Fallers zu ihren Füßen an. Sie mußte sich nicht einmal zu ihm herunterbeugen, um zu wissen, daß er tot war. Niemand konnte diese fürchterlichen Temperaturen überleben.
»Faller...« flüsterte sie. »Er ist...«
»Ich konnte nichts für ihn tun«, sagte Leßter. »Es tut mir leid. Aber ich konnte nur Sie beide retten.«
Und auch diesmal war der bedauernde Ton in seiner Stimme nicht geschauspielert. Charitys Verwirrung wuchs. Es gelang ihr einfach nicht mehr, Leßter mit dem gleichen Mann zu identifizieren, der vor kaum einer Stunde einen seiner Kameraden getötet hatte, aus nichts anderem als dem gnadenlosen Kalkül einer Maschine heraus, die ihr Unternehmen gefährdet sah. Sie hatte sein Benehmen in den letzten Stunden mehrmals mit dem eines Roboters verglichen, aber sie wußte jetzt, daß dieser Vergleich falsch war. Was immer es war, das von Leßter Besitz ergriffen hatte, es war keine Maschine.
Sie riß ihren Blick vom Leichnam des Soldaten los und schleppte sich mit kleinen, mühsamen Schritten zum Steuerpult. Wie alles hier drinnen war es von einem dicken Eispanzer überzogen, und ihre Hände hinterließen blutige Spuren darauf, als sie sich abstützte. Es kostete all ihre Kraft, den Kopf zu heben und auf den sechseckigen Schirm zu blicken.
Was sie sah, das entlockte ihr trotz allem einen überraschten Laut.
Der Läufer bewegte sich weiter. Die Landschaft vor der gewaltigen Maschine schwankte sanft auf und ab und von rechts nach links, aber es war kein tobender Schneesturm mehr, keine von Schnee und Eis bedeckte Landschaft, sondern das sanft gewellte Hügelland südlich New Yorks, das von einer hellen August-Sonne beschienen wurde. Dabei war es erst Minuten her, daß sie eine Mauer aus gefrorener Luft durchbrochen hatten. Offensichtlich wirkte der Kälteschirm, der New York umgab, nur in eine Richtung. Charitys Phantasie kapitulierte vor der Aufgabe, sich die Technik vorzustellen, die so etwas zustande brachte.
»Sie werden wissen, daß wir kommen«, sagte sie.
»Selbstverständlich.« Leßter nickte und deutete auf einen Punkt in der oberen rechten Bildschirmecke. »Sehen Sie.«
Charity blinzelte ein paarmal, denn ihre Augen tränten noch immer vor Kälte, aber dann sah sie, was Leßter entdeckt hatte: Ein ganzer Schwarm winziger, silberfarbener Punkte schwebte dort oben am Himmel. Manchmal sah sie ein orangerotes Aufglühen, wenn einer der Gleiter seine Position veränderte, aber die Schiffe kamen nicht näher. Offensichtlich hatten ihre Besatzungen einen gesunden Respekt vor dem Selbstverteidigungsmechanismus des Läufers.
Oder sie warteten auf etwas anderes...
Ihr Blick löste sich von der kleinen Gleiterflotte am Himmel und suchte den Horizont ab.
Nach allem, was sie erlebt hatte, traf sie der Anblick mit unerwarteter Härte. Sie hatte erwartet, New York zerstört vorzufinden. Ebenso verheert wie all die anderen Großstädte, die sie gesehen hatte, seit sie aus ihrem ein halbes Jahrhundert dauernden Schlaf erwacht war. Aber das war es nicht. Die Türme Manhattans standen unverändert, die Skyline der Stadt bot den gleichen Anblick, den sie immer geboten hatte. Das Land, über das der Läufer schritt, gehörte schon zum ehemaligen Stadtgebiet New Yorks, aber unmittelbar vor ihnen erstreckte sich nichts als eine wuchernde Wildnis aus Grün und den unheimlichen, blaßroten Pflanzen, die die Invasoren auch hierher mitgebracht hatten. Nur hier und da ragte ein Teil eines Hauses, ein Stück einer unkrautüberwucherten Ruine oder einige wenige Meter einer verfallenen Straße aus dem Dschungel. Aber vor Manhattan schien die Zerstörung haltgemacht zu haben. Trotzdem konnte Charity keinerlei Erleichterung empfinden.