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French hatte nicht geschossen. Seine Harpunenwaffe war geladen, die Feder gespannt und der letzte der halbmeterlangen, rasiermesserscharfen Stahlpfeile auf die Schiene aufgelegt. Aber er hatte ihn nicht auf die Spinne abgeschossen, obwohl sie mehrmals so dicht an seinem Versteck vorübergegangen war, daß er sie gar nicht hätte verfehlen können. Es gab ein besseres Ziel für seinen letzten Pfeil.

Er war sehr müde. Seit Stunden hockte er in der winzigen Nische zwischen den beiden Maschinen, und Durst und später Hunger hatten begonnen, ihn zu plagen. Am schlimmsten aber war die Schwäche. Das Gewicht seines eigenen Körpers, das in dieser furchtbaren Welt aus unverständlichen Maschinen und alptraumhaften Ungeheuern zum zehnfachen des normalen angewachsen war, zerrte ihn zu Boden und zehrte an seinen Kräften. Zwei- oder dreimal im Verlauf der letzten Stunden hatte er das Bewußtsein verloren, und das letzte Mal hatte er an einem schlechten Geschmack in seinem Mund und dem Gefühl verklebter Augenwimpern und pelziger Trockenheit auf den Lippen gemerkt, daß er sehr lange ohnmächtig dagelegen hatte.

Er würde sterben. Es waren nicht die Spinnen, die ihn umbringen würden. Es war auch nicht die angeblich tödliche Luft dieser Welt, es war sein eigener Körper. Sein Herz schlug nur noch sehr langsam, und seine Lungen hatten immer mehr Mühe, sich mit Sauerstoff zu füllen. Es war, als läge er unter einer Zentnerlast begraben, die allmählich, aber unerbittlich wuchs.

Er hatte sich diesen letzten Pfeil aufgespart, um seinem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Er hatte Angst davor, jetzt, absurderweise jetzt, wo er wußte, daß das Versprechen von einem zweiten, besseren Leben wahr war, mehr Angst als jemals zuvor, und vielleicht war es nicht die Angst vor dem Tod, die er spürte, sondern die Angst vor dem Sterben. Dem Schmerz. Und dem Ungewissen, das ihm folgen mochte.

Aber noch größer war seine Angst davor, hier zu liegen und vielleicht zu schwach zu sein, die Waffe noch einmal zu heben und den Abzug zu drücken. Schon jetzt schien die Harpunenwaffe Zentner zu wiegen; es verlangte das letzte bißchen Energie von ihm, sie zu heben und so herumzudrehen, daß die Spitze des Pfeiles auf seine Brust deutete.

Er fragte sich, ob es weh tun würde. Er hoffte es nicht. Er versuchte sich einzureden, daß es nicht so war. Die Spannung der Stahlfeder war hoch genug, den Pfeil selbst den Knochenpanzer einer Spinne durchschlagen zu lassen. Sein eigener, verwundbarer Körper würde ihm kaum Widerstand entgegensetzen.

Und trotzdem hatte er Angst. Solche Angst, daß er die Hand noch einmal zurückzog und mit dem letzten bißchen Kraft den Kopf hob, um zu dem riesigen Silberring hinüberzublicken, der auf der anderen Seite der Halle über dem Boden schwebte.

Seine Sinne begannen sich zu verwirren. Die Umrisse des Ringes verschwammen vor seinen Augen, und er sah die dunkle Bewußtlosigkeit, die seine Gedanken zu verschlingen begann, wie ein schwarzes Wogen und Zittern im Zentrum des silberfarbenen Kreises.

Es wurde Zeit. In wenigen Augenblicken würde er das Bewußtsein verlieren, und vielleicht würden sie ihn dann finden und noch einmal zum Leben erwecken und Dinge mit ihm tun, die schlimmer waren als der flüchtige Schmerz des Pfeiles, der sein Herz durchbohrte.

Er hob die Hand, faßte nach dem Abzug der Waffe und blickte noch einmal zu dem riesigen, schwebenden Reif aus Metall empor.

Und begriff, daß das schwarze Wogen und Wallen darin Wirklichkeit war.


*


In der zweiten Hälfte der Bewegung, mit der sie in den Transmitter im Herzen der Schwarzen Festung am Nordpol gestürzt war, taumelte Charity aus dem Empfangsgerät heraus und fiel bei dem vergeblichen Versuch, ihren Sturz aufzufangen, gegen Leßter und Stone, die noch immer verbissen miteinander rangen. Der Anprall ließ sie alle drei vollends das Gleichgewicht vexieren. Aneinandergeklammert rollten Leßter und Stone das halbe Dutzend Stufen hinab, das zu der Plattform mit dem Transmitterring heraufführte, und Charity stürzte mit haltlos rudernden Armen und Beinen hinterher. Die riesige Halle, in der sie herausgekommen waren, schien einen Salto vor ihren Augen aufzuführen, aber sie erkannte trotzdem, daß sie voller bizarrer Maschinen und Strängen eines grauen, klebrigen Gespinstes war, das Wände und Decke überzog, wie das Gewebe einer gigantischen Spinne. Und Kriegern. Dutzenden von Kriegern, wenn nicht Hunderten.

Ein schrilles, fast erschrocken klingendes Pfeifen marterte ihr Gehör. Sie warf sich herum, kam, den Schwung ihres eigenen Sturzes nutzend, auf die Füße und zog instinktiv ihre Waffe, als sie sich plötzlich einer riesigen, strahlendweißen Insektengestalt gegenübersah.

Sie bewegte sich so schnell wie vielleicht niemals zuvor im Leben, und trotzdem kam ihre Reaktion zu spät. Charity hatte die Waffe noch nicht halb gehoben, als sie ein fürchterlicher Schlag eines der dünnen, so täuschend zerbrechlich aussehenden Gliedmaßen der Ameise traf und meterweit zurückschleuderte. Sie stürzte wieder, sah, wie Skudder und Gurk über ihr aus dem schwarzen Nichts des Transmitters herausstolperten, und mußte plötzlich all ihre Kraft aufwenden, um wenigstens ihre Waffe nicht fallenzulassen. Einige Meter von ihr entfernt befreite sich Stone aus Leßters Griff, sprang auf die Füße und begann heftig gestikulierend auf die Albinoameise einzureden.

Der Moroni tötete ihn. Einer seiner Arme machte eine blitzartige, schnappende Bewegung, und plötzlich färbten sich Stones Kehle und die Brust seiner Jacke hellrot. Stone taumelte zurück, schlug beide Hände gegen den Hals, fiel auf die Knie herab und erstickte an seinem eigenen Blut.

Mehrere Moroni eröffneten gleichzeitig das Feuer auf sie. Ihr Auftauchen schien die Insektenkrieger ebenso überrascht zu haben wie deren Anblick umgekehrt Charity und die anderen, aber sie reagierten mit der Schnelligkeit und Präzision von Geschöpfen, die zum Kämpfen geschaffen waren und kaum dachten, sondern nur reagierten. Die erste Salve war kaum gezielt, doch einer der dünnen, gleißenden Lichtblitze traf Skudder in die Schulter und ließ ihn mit einem Schmerzensschrei rückwärts gegen den Transmitterring taumeln. Charity spürte einen kurzen, aber grausamen Schmerz im Bein, als ein zweiter Laserstrahl ihren Oberschenkel durchbohrte. Trotzdem stemmte sie sich in die Höhe, riß ihre Waffe empor und gab kurz hintereinander zwei Schüsse ab. Beide trafen das riesige weiße Geschöpf, das Stone getötet hatte.

Die Ameise brach mit einem schrillen Kreischen zusammen, und fast im gleichen Sekundenbruchteil wurde auch Charity wieder getroffen.

Diesmal tat es nicht einmal wirklich weh. Sie spürte einen harten Schlag gegen die Brust, und plötzlich wich jedes bißchen Gefühl und Kraft aus der rechten Hälfte ihres Körpers. Sie sank auf ein Knie herab, brachte irgendwie das Kunststück fertig, noch eine Sekunde wankend, aber aufrecht in dieser Stellung zu verharren, und sah, wie Leßter auf sie zustürmte und auf halbem Wege von drei oder vier Strahlenschüssen gleichzeitig getroffen und zu Boden geschleudert wurde. Über ihr schrie Skudder auf, als ein grellweißer Blitz seine Brust durchbohrte, und kippte mit weit aufgerissenen, starren Augen und ausgestreckten Armen nach vorn, und das letzte, was Charity bewußt wahrnahm, war Gurk, der mit einem verzweifelten Satz einem Laserschuß auswich und in einen anderen hineinlief, der ihn auf der Stelle tötete.

Dann trafen sie fünf oder sechs Strahlenschüsse aus den Waffen der Moroni gleichzeitig, durchbohrten sie und entluden dabei ihre gesamte Energie schlagartig in jede einzelne Zelle ihres Körpers. Sie spürte einen kurzen, unerträglichen Schmerz. Dann nichts mehr.


*


French hatte den Kampf mit angehaltenem Atem aus seinem Versteck heraus verfolgt. Als sich das schwarze Wogen im Inneren des Eisenringes zu Körpern zusammenballte, da hatte er sofort erkannt, daß es sich dabei um Menschen wie ihn und die anderen handelte, und er hatte die erschrockene Reaktion der Spinnen vielleicht sogar rascher gedeutet als sie, denn noch während die Frau und die drei Männer und die fünfte Gestalt - es mußte ein Kind sein oder ein Krüppel - aus dem Ring heraustaumelten, hatte er seine Waffe gehoben und aus seinem Versteck heraus auf die gewaltige weiße Gestalt dicht vor sich angelegt, die er zweifelsfrei als den Anführer der Spinnenarmee identifiziert hatte.

Aber er hatte nicht abgedrückt. Hinterher versuchte er vergeblich sich einzureden, daß alles viel zu schnell gegangen war und daß er sowieso nichts hatte tun können. Aber die Wahrheit war, daß er einfach erstarrt vor Schrecken gewesen war, es nicht gewagt hatte, in den Kampf einzugreifen, weil dies seinen eigenen Tod bedeutet hätte.

Und es war schnell gegangen. French revidierte sein vielleicht etwas vorschnell gefaßtes Urteil über die Spinnen, als er sah, wie entsetzlich schnell und präzise die scheinbar so plumpen Wesen sich plötzlich bewegten und reagierten. Die Frau hatte den Anführer der Bestien und noch eine oder zwei weitere Ungeheuer niedergeschossen, mit einer Waffe, die kleine weiße Blitze spie. Aber danach war sie selbst getötet worden, wie auch alle anderen. Es war so schnell gegangen, daß French nichts mehr hätte tun können. Von dem Augenblick an, in dem die Gestalten aus dem Nichts erschienen und die Treppe hinunterstürzten, bis zum Tod der jungen Frau, vergingen allerhöchstens fünf Sekunden.

Und trotzdem blieb die Tatsache, daß er nicht einmal versucht hatte ihnen zu helfen. Er hatte Angst gehabt. Angst um ein Leben, das ohnehin verwirkt war.

Und er hatte auch jetzt noch Angst. Als der Kampf vorüber gewesen war, hatte sich French zitternd enger in die Schatten seines Verstecks geduckt und an nichts anderes denken können als daran, daß die Reihe nun wahrscheinlich an ihm war, daß sie hierher kommen und ihn entdecken mußten, um ihn mit ihren furchtbaren Lichtwaffen ebenso zu töten wie diese fünf anderen.

Aber es schien, als wäre sein Vorrat an Glück immer noch nicht aufgebraucht. Tatsächlich war eine der Spinnen seinem Versteck so nahe gekommen, daß French sie mühelos hätte berühren können, hätte er nur die Hand gehoben, aber die Aufmerksamkeit der sechsgliedrigen Geschöpfe konzentrierte sich ganz auf die Leichen der fünf Gestalten, die aus dem Ring gekommen waren. Sie hatten sie nicht fortgeschafft, wohl aber sehr sorgfältig untersucht, wahrscheinlich um sicherzugehen, daß sie auch wirklich tot waren. Diese Vorsicht verwirrte French, denn er hatte die entsetzliche Wirkung der Lichtwaffen gesehen, und jede der fünf Gestalten war mehrmals getroffen worden. Trotzdem untersuchten die Spinnen die reglosen Körper sehr sorgfältig.

Sie machten auch keine Anstalten, die Toten fortzuschaffen, doch dafür geschah etwas anderes - wieder verdunkelte sich das Innere des Silberringes, und wieder ballte sich die Schwärze darin zu einem Körper zusammen; diesmal jedoch nicht dem eines Menschen, sondern der schlanken, sechsgliedrigen Gestalt einer weiteren, strahlend weißen Spinne, die der glich, die die Frau getötet hatte. Sie hielt eine klobige Waffe in zwei ihrer vier Arme und bewegte sich rasend schnell und ruckhaft, als rechne sie damit, angegriffen zu werden, kaum daß sie aus dem Ring getreten war. Doch dann sah sie die reglos daliegenden, verbrannten Körper und blieb abrupt stehen. Sekundenlang rührte sie sich nicht, dann hob sie einen ihrer beiden noch freien Arme und begann in ein winziges Gerät zu sprechen, das sie in der Hand trug. Das Wogen und Zittern im Inneren des Ringes verstärkte sich abermals, und ein halbes Dutzend weiterer Spinnen, mit den gleichen, beunruhigend aussehenden Waffen ausgerüstet, trat heraus und nahm zu beiden Seiten der weißen Kreatur Aufstellung.

Einige der anderen Spinnen kamen herbei, und für Minuten war der Saal vom pfeifenden, klickenden Zischeln ihrer Stimmen erfüllt. Offensichtlich ließ sich die neu angekommene Albinokreatur berichten, was hier vorgefallen war. Dann begann sie - begleitet von ihren Kriegern, die sich nicht von denen in der Halle unterschieden, sich aber trotzdem knapper, präziser bewegten - die Metallstufen der Treppe hinunterzugehen.

Als sie an der Leiche des Mannes mit dem dunklen Haar und dem schmalen Oberlippenbart vorbeigingen, begann sich diese zu bewegen.

French riß ungläubig die Augen auf. Es war völlig unmöglich - er hatte gesehen, wie der Mann von mehreren Schüssen gleichzeitig getroffen und bei lebendigem Leib verbrannt worden war. Aber er bewegte sich. Sacht zuerst, kaum wahrnehmbar, nur ein Zittern verkohlter Finger, ein kaum wahrnehmbare Flattern der Lider in einem zerstörten Gesicht, das flüchtige aufblitzen eines Blickes. Der Mann ... lebte!

Frenchs Herz begann schneller zu schlagen. Obwohl er nicht einmal zu ahnen vermochte, was hier vorging, spürte er doch, daß er Zeuge von etwas Großem, ungeheuer Wichtigem wurde. Für einen Moment vergaß er sogar seine eigene Furcht und schob sich ein Stück weit aus seinem Versteck heraus, um zu den Spinnen hinüberzublicken.

Sie waren an dem vermeintlichen Toten vorbeigegangen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und auch die anderen Kreaturen schienen nichts von dem unheimlichen Geschehen bemerkt zu haben.

Die Gestalt bewegte sich stärker. Vorsichtig drehte sie den Kopf, hob die Lider um eine Winzigkeit und sah sich um, so gut sie es konnte. Eine Hand bewegte sich, erstarrte wieder, und glitt weiter über den Boden, wobei sie eine Spur von Blut und verkohlten Hautfetzen auf dem schimmernden Metall zurückließ.

Als die riesige weiße Spinne mit ihren Begleitern den Ausgang des Raumes fast erreicht hatte, sprang der Mann auf die Füße, fuhr herum und rannte mit gewaltigen Sätzen auf den Metallring zu.

Ein erstauntes Pfeifen erscholl. Eine Spinne versuchte sich dem Mann in den Weg zu stellen und wurde einfach beiseite geschleudert, und ein greller Lichtblitz stach nach ihm, verfehlte ihn aber und hinterließ einen rotglühenden Fleck auf der Wand hinter ihm.

Die Albinokreatur fuhr herum und deutete mit allen vier Armen gleichzeitig auf den rennenden Mann, und einige ihrer Begleiter rissen ihre Waffen hoch und begannen auf ihn zu schießen. Mindestens zwei, vielleicht auch mehr der dünnen weißen Lichtblitze trafen die Gestalt und ließen ihre verkohlten Kleider und das Haar aufflammen, aber der Mann taumelte trotzdem weiter, überwand den letzten Meter mit einem Satz und klammerte sich an dem dünnen Metallring fest. Wieder wurde er getroffen. Sein Körper brannte lichterloh und war nur noch als schwarzer, zuckender Schatten hinter orangeroten Flammen zu erkennen, und trotzdem sah French, wie er eine verbrannte Hand hob und nach einer bestimmten Stelle in dem schwebenden Silberring griff. Dann hatten ihn zwei der Spinnen erreicht, packten die hell lodernde Gestalt und schleuderten sie in die Halle zurück.

Sie stürzte die Treppe hinab und blieb brennend und reglos an ihrem Fuß liegen.

Im gleichen Moment verdunkelte sich das Innere des eisernen Ringes erneut, und wieder begannen Schatten und gestaltlose Dinge darin zu Körpern zusammenzufließen.

Und diesmal schrie French gellend auf, als er sah, was aus dem brodelnden Nichts heraustrat.


*


In der zweiten Hälfte der Bewegung, mit der sie in den Transmitter im Herzen der Schwarzen Festung am Nordpol gestürzt war, taumelte Charity aus dem Empfangsgerät heraus und fiel bei dem vergeblichen Versuch, ihren Sturz aufzufangen, gegen Leßter und Stone, die noch immer verbissen miteinander rangen. Der Anprall ließ sie alle drei vollends das Gleichgewicht verlieren. Aneinandergeklammert rollten Leßter und Stone das halbe Dutzend Stufen hinab, das zu der Plattform mit dem Transmitterring heraufführte, und Charity stürzte mit haltlos rudernden Armen und Beinen hinterher. Die riesige Halle, in der sie herausgekommen waren, schien einen Salto vor ihren Augen aufzuführen, aber sie erkannte trotzdem, daß sie voller bizarrer Maschinen und Strängen eines grauen, klebrigen Gespinstes war, das Wände und Decke überzog wie das Gewebe einer gigantischen Spinne. Irgendwo brannte etwas. Greller Feuerschein erfüllte die Luft mit zitternden Pfeilen aus Rot und Orange, und der beißende Gestank verschmorten Fleisches und heißen Metalls schlug ihr entgegen. Sie hörte einen schrillen, eindeutig überraschten Pfiff und sah etwas Weißes aus den Augenwinkeln aufblitzen.

Sie warf sich herum, kam, den Schwung ihres eigenen Sturzes ausnutzend, auf die Füße und zog ihre Waffe. Fast beiläufig registrierte sie, wie Stone sich unter Leßters Körper hervorzuarbeiten versuchte, der plötzlich schlaff und wie tot über ihm lag, aber ihre ganze Aufmerksamkeit galt in diesem Moment der weißen Albinoameise, die ein Dutzend Schritte von ihr entfernt stand und sie starr vor Schrecken anstarrte.

Und erst jetzt registrierte sie, daß dieser Moroni keineswegs der einzige war. Die Halle wimmelte von Kriegern, Dutzende, wenn nicht Hunderte bewaffneter Ameisen, und an den Wänden glühten rote Flecke zwischen den charakteristischen Brandspuren von Laserschüssen. Wie es schien, waren sie mitten in eine Schlacht hineingeplatzt.

Sie verschwendete keinen Gedanken an die Frage, gegen wen die Insekten kämpften. Auf der Treppe vor dem Transmitter lag ein halbes Dutzend bis zur Unkenntlichkeit verkohlter Körper, und die Moroni schienen entschlossen, diese Zahl um weitere fünf zu erhöhen, denn sie eröffneten plötzlich das Feuer auf sie.

Charity bewegte sich so schnell wie noch niemals zuvor im Leben, und trotzdem kam ihre Reaktion zu spät. Sie hatte ihre Waffe noch nicht halb gehoben, als ein greller Laserblitz an ihr vorüberzuckte und Stone traf und zurückschleuderte. Sterbend brach er über einer der reglos daliegenden Gestalten zusammen, und Charity warf sich mit einer verzweifelten Bewegung herum, entging mit einem Hechtsprung einem weiteren Schuß und sah, wie Skudder und Gurk über ihr aus dem schwarzen Nichts des Transmitters herausstolperten.

Trotz allem schien ihr Auftauchen die Ameisen völlig überrascht zu haben. Die Krieger reagierten nicht mit der gewohnten Präzision von Wesen, die nur zum Kämpfen und Töten geschaffen waren, sondern wirkten wie paralysiert. Nur einige wenige Schüsse zuckten in ihre Richtung, und zumindest Skudder war geistesgegenwärtig genug, sich blitzschnell zur Seite zu werfen und gleichzeitig das Feuer zu erwidern.

Charity und er schossen fast im gleichen Moment, und sie trafen beide. Der Körper der Albinoameise wurde zurückgeschleudert und verwandelte sich in eine lodernde Fackel, und Skudders zweiter Feuerstoß fegte gleich drei weitere Moroni von den Füßen.

Dann wurde auch er getroffen.

Die Ameisen hatten ihre Überraschung überwunden, und es war eine dutzendfache Übermacht, der sich Charity und die anderen gegenübersahen. Ein dünner Lichtblitz durchbohrte Skudders Leib und ließ ihn mit einem keuchenden Laut auf die Knie sinken. Er krümmte sich, stürzte auf die Seite und riß sein Gewehr noch im Fallen herum. Eine dünne, unerträglich helle Linie aus weißem Licht fuhr in die Armee der Ameisen und streckte fast ein Dutzend der noch immer wie versteinert dastehenden Krieger nieder, ehe ein zweiter Strahl den Hopi traf und tötete.

Charity schrie entsetzt auf, sprang auf die Füße und wollte auf Skudder zulaufen, wurde aber im gleichen Moment selbst getroffen. Ein grausamer Schmerz zuckte durch ihre linke Schulter. Sie stolperte, stürzte ein zweites Mal und rollte sich instinktiv über die unverletzte Schulter ab. Ebenso instinktiv schoß sie zurück, feuerte auf die schwarzen, vielarmigen Gestalten, die plötzlich aus allen Richtungen auf sie zustürmten, versuchte wieder in die Höhe zu kommen und wurde abermals getroffen. Rote Schleier begannen vor ihrem Blick zu wallen. Der Schmerz wurde für einen Moment übermächtig, schien dann zu verblassen und irgendwie unwirklich zu werden; er war noch da, aber er bedeutete nichts mehr. Sie spürte, wie irgend etwas in ihr erlosch.

Mit dem Gefühl der gleichen, fast gelassenen Unwirklichkeit, mit der sie die Tatsache ihres eigenen Sterbens akzeptierte, registrierte sie, wie Gurk hakenschlagend auf sie zugerannt kam und auf halber Strecke von einem Strahlenschuß durchbohrt wurde. Sie starb, und ihr letztes bewußtes Empfinden war das einer tiefen Trauer, daß nun alles umsonst gewesen sein sollte und es nichts mehr gab, was noch zwischen ihrer Welt und deren Tod in den Flammen einer explodierenden Sonne stand.

Während sie nach vorn sank, hielt sie den Finger auf dem Auslöser der Waffe, und vielleicht traf sie sogar noch einen oder mehrere der Insektenkrieger, die sich ihr näherten.

Aber das spürte sie schon nicht mehr.


*


In der großen Halle war Chaos ausgebrochen. Der Widerstand der fünf Eindringlinge, der diesmal viel erbitterter als das erste Mal gewesen war, hatte einem Drittel der vollkommen überraschten Spinnenarmee das Leben gekostet und überall lodernde Brände aufflammen lassen, wo die grellen Blitze aus ihren Waffen in Maschinen oder das graue Spinnengewebe gefahren waren. Und die Ungeheuer, die den Überfall überlebt hatten, schienen völlig kopflos. Die meisten rannten einfach ziellos durcheinander, einige standen auch wie erstarrt da, und die Luft hallte wider von durcheinanderrufenden, schrillen Stimmen.

French hockte wie gelähmt in seinem Versteck. Was er gesehen hatte, war völlig unmöglich, aber er war nicht einmal in der Lage, dieses Gefühl in einen Gedanken zu kleiden.

Er mußte tot sein. Was er zu erleben glaubte, mußten die Visionen sein, die das Sterben begleiteten, oder vielleicht schon ein Teil jener Welt auf der anderen Seite, in der die Gesetze von Logik aufgehoben waren.

Selbst als der Kampf vorüber war, saß French fast eine Minute lang reglos und ohne auch nur zu atmen da und starrte die leblos daliegenden Körper auf der Treppe an. Es mußte eine Täuschung gewesen sein. Vielleicht waren sie nur ähnlich gekleidet gewesen. Vielleicht waren sie Brüder, Mitglieder des gleichen Stammes, die miteinander verwandt waren und sich ähnlich sahen, so wie Pearl und ihre Zwillingsschwester im Hort. Vielleicht spielte ihm seine Phantasie auch nur einen bösen Streich, weil alles einfach zuviel war, um es noch zu verarbeiten.

Als French an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war und zum ersten Mal wieder atmete, begann sich der schwebende Metallring mit brodelnder Schwärze zu füllen...


*


In der zweiten Hälfte der Bewegung, mit der sie in den Transmitter im Herzen der Schwarzen Festung am Nordpol gestürzt war, taumelte Charity aus dem Empfangsgerät heraus und fiel bei dem vergeblichen Versuch, ihren Sturz aufzufangen, gegen Leßter und Stone, die neben ihr aus dem Transmitter getorkelt waren und noch immer verbissen miteinander zu ringen schienen. Der Anprall ließ sie alle drei das Gleichgewicht verlieren. Charity stürzte nach hinten und fand im letzten Moment irgendwo Halt, aber Leßter und Stone kippten rücklings die Stufen der metallenen Treppe hinab, die zu der Plattform mit dem Transmitterring führte. Stone schrie auf und versuchte sich herumzuwerfen, aber Leßter zerrte ihn mit sich zu Boden. Irgend etwas an der Art, in der er fiel, war nicht richtig. Er stürzte nicht wie ein Mann, der das Gleichgewicht verloren hatte; er fiel einfach schlaff zu Boden, ohne auch nur den Versuch zu machen, seinen Sturz aufzufangen.

Aber das nahm Charity nur mit einem flüchtigen Blick wahr. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der gewaltigen Halle, in der sie herausgekommen waren. Sie war riesig, voller bizarr geformter Maschinen und Strängen eines grauen, klebrigen Gespinstes, das die Wände und die Decke überzog wie das Gewebe einer gigantischen Spinne, und erfüllt von Flammen und Rauch. Dutzende von reglosen Gestalten, viele davon brennend und bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, lagen auf dem Boden, und dazwischen bewegten sich Krieger.

Es waren Charitys antrainierte Reflexe, nicht ihr bewußtes Denken, die ihr Leben in diesem Moment retteten. Sie ahnte die Bewegung mehr als sie sie wirklich sah, warf sich herum und zog gleichzeitig ihre Waffe.

Der Moroni und sie schossen im selben Sekundenbruchteil. Ein greller Lichtstrahl verwandelte den Boden dort, wo Charity vor einer Sekunde noch gelegen hatte, in glutflüssiges Metall, aber der Laserschuß aus Charitys eigener Waffe traf die Ameise und schleuderte sie meterweit zurück. Ebenso instinktiv und schnell und noch immer, ohne daß sie bewußt wirklich begriffen hatte, was überhaupt geschah, sprang sie auf die Füße, feuerte auf einen zweiten Moroni und rannte hakenschlagend die Treppe hinunter, um zu Stone und Leßter zu kommen.

Über ihr stolperten Skudder und Gurk aus dem schwarzen Nichts des Transmitters heraus, und zumindest der Hopi reagierte genauso schnell und kaltblütig wie sie. Mit einem blitzschnellen Blick erfaßte er die Situation, versetzte dem Gnom einen Stoß, der ihn zur Seite torkeln ließ, und sank gleichzeitig auf ein Knie herab. Sein Gewehr stieß eine Reihe kurzer, blendendweißer Blitze aus, die unter die angreifenden Ameisen fuhren und drei oder vier von ihnen töteten.

Charity überwand die letzten Stufen mit einem Satz, erschoß eine Ameise, die sich auf sie werfen wollte, und kniete neben Stone nieder. Er lag reglos da, halb unter Leßters zusammengebrochenem Körper begraben, und Charity wußte, daß er tot war, noch ehe sie ihn an der Schulter ergriff und herumdrehte.

Mit einem Fluch fuhr sie herum, gab zwei, drei ungezielte Schüsse auf die näher kommenden Ameisen ab - und erstarrte.

Stone stand neben ihr. Sein Gesicht war kreideweiß und seine Augen starr und dunkel vor Angst.

Sie sah zu Boden, blickte auf Stones Leichnam hinab, hob dann wieder den Kopf und sah Stone an, der neben ihr stand.

Und erst jetzt registrierte sie, daß es nicht nur die Leichen erschossener Ameisen waren, die die Treppe und den Boden bedeckten. Einige der Körper waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, andere aber eindeutig menschlich - und sie kannte sie!

Sie fand keine Zeit, das, was sie sah, wirklich bewußt zu verarbeiten, und sie hätte es wahrscheinlich auch nicht gekonnt. Auf der Treppe über ihr schrie Gurk gellend auf, als ein Laserstrahl seine Brust durchbohrte und ihn mit brennendem Cape neben einer verkrümmten Gestalt niedersinken ließ, die seiner eigenen glich wie ein Ei dem anderen, und fast im gleichen Augenblick schrie auch Skudder auf, ließ seine Waffe fallen und schlug beide Hände gegen das Gesicht, ehe er reglos nach hinten kippte.

»Nein!« schrie Charity entsetzt. Sie sprang mit einem Satz über Stones Leichnam hinweg und rannte, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, auf Skudder zu. Hinter sich hörte sie einen gellenden Schrei und danach den Aufprall eines schweren Körpers, und mit einem winzigen, noch klar gebliebenen Teil ihres Denkens registrierte sie, daß die überlebenden Ameisen plötzlich aus ihrer Erstarrung erwachten und auf sie zugestürmt kamen. Sie gab im Laufen einen Schuß nach hinten ab, wich mit einem verzweifelten Satz einer Lasersalve aus und spürte ein heftiges Brennen an der Hüfte, rannte aber trotzdem weiter.

Skudder war tot, als sie ihn erreichte. Er lag auf dem Rücken, und zwischen seinen Fingern, die er noch immer vor das Gesicht geschlagen hatte, quoll hellrotes Blut hervor. Ein entsetzlicher, fast körperlicher Schmerz breitete sich in Charity aus, als sie neben ihm auf die Knie fiel. Aber sie wagte es nicht, seine Hände herunterzuziehen. Plötzlich wußte sie mit unerschütterlicher Sicherheit, daß auch sie sterben würde.

Seltsam - sie hatte überhaupt keine Angst. Sie spürte nichts außer einer tiefen, saugenden Leere, nicht einmal Bedauern bei dem Gedanken, daß ihr Kampf nun umsonst gewesen sein sollte.

Auf den Knien hinter Skudder liegend, hob sie ihre Waffe und feuerte mit der Präzision eines Computers auf die heranstürmenden Moroni.

Sie erschoß noch drei der Insektenkrieger, ehe ein greller Laserblitz auch ihr Bewußtsein für alle Zeiten auslöschte.

French wimmerte wie unter Schmerzen in seinem Versteck. Er hatte sich aufgerichtet, so daß er nun deutlich sichtbar war, aber das merkte er nicht einmal mehr. Die Luft in der Halle war so heiß geworden, daß er kaum noch atmen konnte, und so voller Qualm und Gestank, daß ihn schwindelte. Aber auch das registrierte er kaum. Der Blick seiner weit aufgerissenen Augen hing wie gebannt an dem schimmernden Metallring, der sich plötzlich wieder mit lebendiger Dunkelheit zu füllen begann.

In der zweiten Hälfte der Bewegung, mit der sie in den Transmitter im Herzen der Schwarzen Festung am Nordpol gestürzt war, taumelte Charity aus dem Empfangsgerät heraus und fiel bei dem vergeblichen Versuch, ihren Sturz aufzufangen, gegen Leßter und Stone, die den Bruchteil einer Sekunde nach ihr aus dem Transmitter stolperten. Der Anprall brachte sie alle drei vollends aus dem Gleichgewicht. Stone schrie auf und kippte rücklings die Treppe hinunter, die zu der Plattform führte, und Leßter sank mit einer schlaffen Bewegung in sich zusammen, die Charity sagte, daß er tot war, ohne daß es eines Beweises bedurft hätte.

Blitzschnell stemmte sie sich wieder in die Höhe und zog ihre Waffe, nicht, weil sie ihre Situation wirklich begriff, sondern instinktiv wußte, daß der Sprung vom Nordpol herauf sie mitten in eine Schlacht geführt hatte.

Unter ihnen breitete sich eine gewaltige Halle voller bizarrer, aber größtenteils zerstörter und brennender Maschinen aus. Zahllose reglose Körper und Dutzende von Bränden bewiesen die Härte, mit der der Kampf geführt worden war, und hier und da gewahrte sie die spinnengliedrige Gestalt einer Ameise.

Hinter ihr stolperten Skudder und Gurk aus dem schwarzen Nichts der Transmitterverbindung, und im gleichen Moment gewahrte Charity aus den Augenwinkeln eine Bewegung und sah das grelle Aufblitzen eines Lasers. Blitzschnell warf sie sich zur Seite, entging dem Schuß um Haaresbreite und stolperte über den reglosen Körper, der verkrümmt auf der Treppe lag. Sie fiel, überschlug sich drei- oder viermal und feuerte auf einen Moroni, noch während sie die Treppe hinunterrollte. Sie traf, und über ihr eröffnete auch Skudder aus seinem Gewehr das Feuer auf die Insektenkrieger, deren Gestalten zwischen den lodernden Bränden und schwarzem Qualm nur wie flackernde Schemen zu erkennen waren.

Charity rollte hilflos weiter die Treppe hinunter, bis ein weiterer reglos daliegender Körper ihren Sturz bremste. Automatisch stemmte sie sich hoch, suchte in dem brodelnden Qualm nach einem Ziel, auf das sie ihre Waffe abfeuern konnte - und erstarrte.

Was ihren Sturz die Treppe herab gebremst hatte, war ihr eigener Leichnam. Für zwei, drei Sekunden hockte sie einfach reglos und wie paralysiert da, und für die gleiche Zeit wäre sie ein leichtes Ziel für jede Ameise gewesen, die sie angriff. Aber diese Gefahr registrierte sie nicht einmal. Fassungslos blickte sie auf das bleiche Gesicht vor sich hinab, die starren, im Tod gebrochenen Augen, den für alle Zeiten in die Züge gegrabenen Ausdruck unbeschreiblichen Schmerzes - in ihren eigenen Zügen!

Sie hörte, wie Skudder über ihr irgend etwas schrie, registrierte instinktiv die Gefahr und warf sich zur Seite. Eine Sekunde später brannte ein Laserstrahl eine grellweiße Lichtbahn in die Luft und ein kopfgroßes Loch in die Treppe hinter ihr. Charity feuerte auf den Insektenkrieger und verfehlte ihn, traf aber das klobige Gewehr, das er in zwei seiner vier Arme trug. Die Waffe explodierte und zerriß die Ameise, und die Druckwelle schleuderte Charity abermals nach hinten.

Sie stürzte auf etwas Weiches, Nachgiebiges, und ihr Herz machte einen entsetzten Sprung, als sie daran dachte, was es vielleicht war.

Aber diesmal war es nicht ihr eigener Leichnam, über den sie gefallen war. Es war der Daniel Stones.

Stone lag mit aufgerissenen Augen, Mund und Kehle über einem zweiten toten Daniel Stone, und ein dritter, lebendiger Stone rappelte sich in diesem Moment am Fuße der Treppe auf und starrte das unglaubliche Bild ebenso fassungslos an wie sie.

»Paßt auf!« schrie Skudder plötzlich.

Charity warf sich abermals herum, aber für Stone kam die Warnung zu spät. Aus dem Rauch tauchten die Gestalten dreier riesiger Insektenkrieger auf. Charity feuerte noch in der Bewegung auf eines der Ungeheuer und traf, und fast im gleichen Sekundenbruchteil tötete Skudder den zweiten Moroni. Der dritte riß seine Waffe hoch und erschoß Stone, ehe Charity ein zweites Mal abdrücken und auch ihn niederstrecken konnte.

Und es war noch nicht vorbei. Die Halle brannte lichterloh, und es mußten weit über fünfzig tote Ameisen sein, die ihren Boden bedeckten. Aber dazwischen bewegten sich noch immer schwarze, huschende Schatten, und immer wieder zuckten grelle Blitze aus dem Qualm hervor.

Charity rannte im Zickzack los und suchte hinter einer der bizarren Maschinen Deckung. Ein Laserstrahl verfehlte sie und ließ einen Teil ihrer improvisierten Schutzmauer explodieren. Sie schoß zurück, verfehlte die Ameise und sprang mit einem Fluch hinter der Maschine hervor, als ein zweiter Schuß den Metallblock traf und aufglühen ließ. Auch Skudder löste sich endlich von seinem Platz vor dem Transmitter - Charity registrierte mit einem Gefühl, das nur noch mit Hysterie zu beschreiben war, daß er hinter seinem eigenen Leichnam niedergekniet war, und dem ihren, der quer darüber lag und von den Hüften abwärts brannte - rannte mit gewaltigen Sätzen die Treppe herab und kniete hinter einem anderen Maschinenblock nieder.

»Die Tür!« schrie Skudder.

Und Charity verstand. Sie gab einen ungezielten Schuß in den brodelnden Qualm vor sich ab, rannte im Zickzack durch die Halle und hämmerte die Faust gegen die kleine Schalttafel neben der Tür. Zischend senkte sich eine halbstarke Panzerplatte vor dem Eingang. Charity registrierte mit einem leisen Gefühl von Verwirrung, daß sie den Mechanismus dieser Tür nicht zum ersten Mal sah, aber sie hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Mit einer fast automatischen Bewegung verriegelte sie den Eingang, so daß er nun auch von außen nicht mehr zu öffnen war, hastete hinter ihre Deckung zurück und verständigte sich mit einem stummen Blick mit Skudder. Überall in der Halle loderten Brände, aber unter der Decke waren jetzt große Ventilatoren angesprungen, die den schwarzen Qualm absaugten, so daß sie ihre Umgebung wieder besser erkennen konnte.

Sie kannte diesen Raum. Sie wußte nicht mehr woher, aber sie hatte das sichere Gefühl, ihn nicht nur schon einmal gesehen zu haben, sondern schon einmal hiergewesen zu sein.

»Dort drüben!« drang Skudders Stimme in ihre Gedanken. »Rechts von dir. Ich glaube, es ist nur noch einer!«

Charity spähte vorsichtig über den Rand ihrer Deckung hinweg, und nach einigen Augenblicken entdeckte sie den Moroni. Wie Skudder und sie hatte auch er hinter einem Maschinenblock Deckung gesucht, aber sein Versteck lag in einem ungünstigen Winkel. Es schützte ihn vor Skudder, nicht aber vor ihr.

Trotzdem bewegte sich Charity mit äußerster Vorsicht weiter. Sie wußte, wie entsetzlich schnell diese Insektenkrieger reagieren konnten.

Irgend etwas prallte wuchtig von außen gegen die Tür. Charity fuhr erschrocken zusammen, und auch der Moroni wandte für einen Sekundenbruchteil den Blick und war abgelenkt.

Charity richtete sich hinter ihrer Deckung auf, zielte, drückte dreimal hintereinander ab, und die fremdartige Maschine vor ihr verwandelte sich in einen Vulkan aus weißglühendem Metall, in dem der Moroni verbrannte. Sie wartete, lauschte mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen. Sekunden vergingen, reihten sich zu einer Minute, dann zu einer zweiten. Nichts geschah.

Vorsichtig, jeden Nerv zum Zerreißen angespannt, richtete sich Charity wieder hinter ihrer Deckung auf und sah sich um.

Der Rauch hatte sich verzogen. Überall flackerten noch kleinere Brände, und in der Luft lag ein Gestank, der ihr das Atmen schwer machte. Aber es schien, als wäre der Kampf vorbei.

Auch Skudder tauchte jetzt hinter seiner Deckung auf und schwenkte den Lauf seines Gewehres im Halbkreis durch die Halle. Doch auch er senkte schließlich seine Waffe und entspannte sich; wenn auch nicht wirklich. Der verbissene Ausdruck auf seinem Gesicht blieb, und obwohl er sich alle Mühe gab, sie zu überspielen, sah ihm Charity seine Nervosität und Angst deutlich an, als er sich zu ihr herumdrehte, sie einen Moment lang aus großen Augen anblickte und dann zum Transmitterring zurücksah. Und zu den Toten, die davor lagen.

Leßter. Stone. Gurk. Charity und er selbst. Zweimal, dreimal, viermal.

»Was ... ist ... das?« stammelte er.

Charity ließ zitternd ihre Waffe sinken und machte einen Schritt auf einen der reglosen Körper mit ihrem eigenen Gesicht zu, aber sie ging nicht weiter. Sie konnte es nicht. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. »Entweder träumen wir alle den gleichen Alptraum, oder ... oder hier geht etwas Unvorstellbares vor.«

Skudder warf ihr einen nervösen Blick zu und trat vollends hinter seiner Deckung hervor.

Und im gleichen Moment bewegte sich eine der vermeintlich toten Insektengestalten. Charity schrie auf und versuchte, ihre Waffe hochzureißen, und auch Skudder registrierte die Gefahr im allerletzten Moment und warf sich herum.

Er hatte keine Chance.

Charity und der Moroni feuerten im gleichen Sekundenbruchteil. Der Schuß aus Charitys Waffe traf den Insektenkrieger und tötete ihn. Und die grellweiße Lichtnadel aus der Waffe der Ameise durchbohrte Skudders Brust.

Der Hopi taumelte. Eine halbe Sekunde lang stand er reglos und wie erstarrt da. Dann machte er einen einzelnen, mühsamen Schritt, öffnete die Hände, so daß seine Waffe zu Boden polterte, und drehte sich zitternd zu Charity. Ein fassungsloser Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, kein Schmerz, kein Schrecken oder Angst, sondern nur ein ungläubiges Staunen, dann brach er ganz langsam in die Knie, fing seinen Sturz noch einmal mit beiden Händen auf und kippte dann wie im Zeitlupentempo zur Seite.

Charity ließ ihre Waffe fallen und war mit einem Satz bei ihm, um ihn aufzufangen. Skudder stürzte schwer gegen sie, aber sie spürte sein Gewicht kaum, sondern riß ihn hoch und versuchte ihn herumzudrehen.

Die hünenhafte Gestalt des Indianers erschlaffte in ihren Armen. Charity schrie verzweifelt immer wieder seinen Namen, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Aber Skudder reagierte nicht mehr. Sein Kopf pendelte haltlos hin und her, und plötzlich wußte Charity, daß er tot war.

Tot. Das Wort hallte ein paarmal hinter ihrer Stirn wider, als drehe sich in ihrem Kopf eine höllische Bandschleife, und es verlor dabei nichts von seinem grausamen Klang.

Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es war nicht so wie damals bei Mike, oder in dem Moment, in dem sie ihre Eltern verloren hatte. Es war grausam, und es tat körperlich weh. Sie spürte keine Verzweiflung, keine Trauer, sondern nur einen fürchterlichen Schmerz und einen rasenden Zorn, der kein Ziel hatte und darum doppelt quälend war. Es war schlimmer als alles, was sie je erlebt hatte. Sie hatte Hunderte, Tausende von Menschen sterben sehen. Sie hatte den Untergang einer ganzen Welt miterlebt, aber nichts davon hatte sie so getroffen wie das hier.

Alles schien unwichtig zu werden. Ihr Aufstand gegen die Invasoren, ihr verzweifelter Kampf ums Überleben, alles, was sie je getan und gefühlt hatte, verblaßte angesichts des grausamen Schmerzes, den sie jetzt verspürte. Sie saß da, preßte Skudders leblosen Körper an sich und wünschte sich verzweifelt, ihr eigenes Leben geben zu können, um ihn zu retten, eine zweite Chance zu haben, oder wenigstens weinen zu können. Sie konnte nichts von alledem.

Sie wußte nicht, wieviel Zeit verging. Wahrscheinlich nur Sekunden, denn als sie aufsah, da richtete sich Gurk gerade hinter dem Maschinenblock auf, hinter den er sich in Deckung geworfen hatte, als die Ameise auf Skudder schoß, und machte einen Schritt in ihre Richtung, blieb aber stehen, als er in ihr Gesicht sah.

»Er ist tot«, flüsterte Charity.

Der Zwerg sah sie auf eine Art an, die sie noch nie zuvor an ihm beobachtete hatte. Plötzlich war nichts Lächerliches mehr an ihm. Er wirkte traurig, auf eine Art, die Charity verwirrte. »Hast du ihn geliebt?« fragte er.

»Er ist tot«, antwortete Charity nur. Sie wußte nicht einmal die Antwort auf diese Frage. Sie hatte sie sich nie gestellt, obwohl sie so lange zusammengewesen waren und soviel miteinander erlebt hatten. Hatte sie ihn geliebt? Wenn es stimmte, daß man das wahre Ausmaß der Liebe zu einem anderen Menschen erst dann wirklich begriff, wenn man ihn verloren hatte, dann ja. Aber sie war nicht sicher. Sie wollte sich selbst belügen und einfach ja sagen, aber es wäre ihr wie ein Verrat an Skudder und dem, was sie für ihn empfunden hatte, vorgekommen. Ihr Blick glitt über die reglos daliegenden Körper auf der Treppe vor dem Transmitter, über ihre eigenen und Stones und Leßters und Gurks und auch Skudders Doppelgänger, und sie fragte sich bei jedem einzelnen, ob er dasselbe empfunden haben mochte wie sie in diesem Moment. Fragte sich, ob die Frau mit ihrem Gesicht den Tod des Mannes, der wie Skudder aussah, ebenfalls miterlebt hatte und ob sie dasselbe empfunden hatte wie sie in diesem Augenblick, und sie fragte sich für eine Sekunde ganz ernsthaft, ob das, was sie jetzt erlebte, vielleicht die Hölle war.

Gurk setzte dazu an, etwas zu sagen, doch in diesem Moment hörten sie ein tiefes, auf unangenehme Weise bekannt klingendes Summen, und eine Sekunde später füllte sich der schimmernde Metallring des Transmitters mit wogender Schwärze. Gurk fuhr erschrocken herum, und Charity ließ Skudder behutsam zu Boden gleiten, hob das Gewehr auf, das er fallengelassen hatte und richtete die Waffe auf den Empfänger. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Es ging ihr nicht mehr darum, ihr eigenes Leben zu verteidigen oder etwas, das so sinnlos geworden war wie das Weiterbestehen ihrer Heimat. Sie wollte nur noch töten. Sie wollte, daß irgend jemand für das bezahlte, was ihr angetan worden war, und es war ganz egal, wer.


*


Im Inneren des Transmitters ballten sich Schatten zu Formen zusammen und vergingen wieder, dann kondensierte die Schwärze zu Körpern, und Charity hob das Gewehr und krümmte den Finger um den Abzug.

Aber sie schoß nicht.

Es waren keine Ameisen, die aus dem Transmitter stolperten.

Es waren sie selbst, Leßter und Daniel Stone, die in einer perfekten Imitation der Bewegung, in der sie selbst aus dem Empfänger herausgetreten war, in die Wirklichkeit zurücktaumelten und auf der Stelle zusammenbrachen.

Für einen winzigen, zeitlosen Moment spürte Charity etwas wie ein Ziehen; ein Gefühl, als versuche etwas aus ihr herauszubrechen und schnelle im letzten Moment wieder zurück, dann brach die Gestalt, die ihr selbst ähnelte, wie eine bis ins letzte Detail perfekte Kopie, auf den Stufen von dem Transmitter zusammen, und das Gefühl erlosch. Gleichzeitig stürzten auch Leßter und Stone, und sie hörte einen halblauten Schmerzensschrei und begriff, daß zumindest einer der beiden noch am Leben war.

Das Wogen und Zittern im Inneren des Transmitters wurde wieder stärker, und wieder ballte sich die Dunkelheit zu zwei ungleichen Körpern zusammen. Vor Charitys ungläubig aufgerissenen Augen traten Skudder und Gurk aus dem Transmitter. Skudder machte einen ungeschickten Schritt und hob seine Waffe, ehe er die Situation erfaßte und mit einem überraschenden Laut stehenblieb, während Gurk wie vom Blitz getroffen zur Seite kippte und reglos liegenblieb.

»Großer Gott!« flüsterte Charity. »Was ist das?«

»Der Transmitter!« kreischte Gurk plötzlich. Er sprang in die Höhe und begann wild mit beiden Armen zu fuchteln. »Skudder! Schalt ihn ab! Schalt das verdammte Ding ab!«

Skudder starrte ihn an, dann die reglose kleine Gestalt mit dem viel zu großen Kopf neben sich, dann wieder ihn. Er rührte sich nicht, aber aus seinem Gesicht wich alle Farbe und seine Hände begannen zu zittern.

»Schalt ihn ab!« kreischte Gurk mit schriller, sich beinahe überschlagender Stimme. Aber Skudder rührte sich noch immer nicht, sondern starrte nur Charity an und die reglose Gestalt zu ihren Füßen, die sein eigenes Gesicht trug.

Gurk begann mit fast komisch aussehenden, hüpfenden Sprüngen die Treppe hinaufzurennen, wobei er um ein Haar über Stone gefallen wäre, der entgegen Charitys erstem Eindruck noch am Leben war, sich aber vergeblich bemühte, sich unter dem reglosen Körper Leßters hervorzuarbeiten. Außerdem irritierte ihn möglicherweise die Tatsache, daß er sich nur einen halben Meter neben seinem eigenen Leichnam wiedergefunden hatte.

Gurk rannte an ihm vorbei, stieß Skudder, der noch immer mit fassungslosem Gesichtsausdruck dastand, einfach zur Seite und schlug die Faust mit aller Kraft auf die Bedienungselemente des Transmitters. Es knirschte hörbar, und Gurk stieß einen Schmerzensschrei aus und prallte zurück, aber das kleine gelbe Licht auf dem Schaltpult, das bisher die Betriebsbereitschaft des Gerätes angezeigt hatte, erlosch, und einen Herzschlag später auch das dunkle Brummen, das Charity gehört hatte.

»Was ... was geht hier vor?« flüsterte Skudder. Er drehte sich halb im Kreis, erstarrte wieder und blickte auf die beiden Gestalten hinab, die unmittelbar vor ihm lagen: Das Gesicht des Mannes war nicht mehr zu erkennen, und außerdem hatte er im Tode die Hände davorgeschlagen, doch als Skudder die schlanke Frauengestalt erblickte, die über ihm zusammengebrochen war, da fuhr er abermals zusammen und prallte instinktiv einen Schritt zurück. Seine Lippen bewegten sich, aber Charity hörte kein Wort.

Langsam stand sie auf, trat mit einem großen Schritt über die Gestalt hinweg, die vor einer Minute in ihren Armen gestorben war, und näherte sich zitternd und unsicher der Treppe. Vor ihr hatte es Stone endlich geschafft, sich unter der Last des reglosen Körpers hervorzuarbeiten, der ihn zu Boden gerissen hatte, aber auch er erstarrte mitten in der Bewegung, als er sich hochstemmte und das Bild sah, das sich ihm bot.

»Was ist das?« flüsterte Skudder. Seine Stimme war fast ein Wimmern. »Wo ... wo sind wir?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Charity. »Aber vielleicht solltest du lieber fragen, wer sind wir?«

Skudder schluckte ein paarmal. Er suchte nach Worten, fand aber keine, und schließlich drehte er sich mit einer ruckhaften Bewegung zu Gurk herum, der noch immer neben dem Transmitterring stand und die Hand gegen den Körper preßte. Seine Knöchel waren aufgeplatzt und bluteten, so heftig hatte er auf den Schalter geschlagen.

»Gurk!« keuchte Skudder. »Was geht hier vor?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Gurk. »Ich ...«

Der Rest seiner Worte ging in einem erschrockenen Kreischen unter, als Skudder mit einem Satz auf ihn zusprang, ihn am Kragen packte und in die Höhe riß. Gurk begann zu schreien und mit den Beinen zu strampeln, aber Skudder achtete gar nicht darauf, sondern schüttelte ihn wild und schrie ihn an: »Sag uns endlich die Wahrheit, du verdammter Zwerg. Oder ich prügele sie aus dir heraus!«

Gurk schlug wild nach seinen Händen und seinem Gesicht. »Ich sage die Wahrheit!« kreischte er in einem Tonfall, der jede Lüge unmöglich machte. »Ich weiß es nicht!«

Skudder hielt ihn plötzlich nur noch mit einer Hand fest und ballte die andere zur Faust, aber Charity hielt ihn zurück.

»Laß ihn, Skudder«, sagte sie. »Er sagt die Wahrheit.«

Für eine Sekunde starrte Skudder sie fast haßerfüllt an, aber dann verging sein Zorn ebenso schnell wie er gekommen war. Hastig setzte er den Zwerg zu Boden und drehte sich hilflos im Kreis. »Aber das ... das ist...«

»Es muß irgend etwas mit dem Transmitter zu tun haben«, sagte Charity. Schaudernd blickte sie den drei Meter durchmessenden nun wieder völlig leeren Ring aus silberfarbenem Metall an. Dann wandte sie sich an Gurk. »Das ist doch so, nicht?«

Gurk zuckte mit den Schultern und machte hastig einen Schritt zurück, als Skudder wieder auf ihn herabsah. »Ich glaube ja«, antwortete er ausweichend. »Aber ich bin nicht sicher. Ich habe so etwas auch noch nie erlebt.«

»Du weißt also doch etwas«, knurrte Skudder wütend.

»Ich weiß eine Menge«, antwortete Gurk patzig. »Ist das etwa verboten?« Er hielt Skudders Blick trotzig eine Sekunde lang stand, dann drehte er sich herum und sah ebenfalls den Transmitter an. »Ich dachte immer, ich kenne mich mit diesen Dingern aus«, murmelte er. »Aber ich glaube, ich habe mich geirrt.«

»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Skudder. »Das ... das kann nicht sein.« Er deutete mit zitternden Händen auf die Gestalten auf der Treppe und unten in der Halle. »Das, das bin ich. Und du, Charity. Und Gurk und...«

»Nein«, unterbrach ihn Charity hastig. »Das sind nicht wir, Skudder. Sie sehen nur so aus wie wir. Es sind Kopien; Doppelgänger.« Aber das stimmte nicht. Es waren nur Worte, Worte, die sie hervorsprudelte, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Der Mann, der vor ihr stand und sie mit schreckensbleichem Gesicht anblickte, war vor einer Minute in ihren eigenen Armen gestorben, und es war Skudder gewesen, keine Kopie, kein Doppelgänger, keine Täuschung. Aber ihr Verstand kapitulierte vor der Aufgabe, zu verstehen, was hier passiert war.

»Sagt mal«, sagte Gurk plötzlich, »fällt euch etwas auf?«

Charity sah ihn an. Der Blick aus Gurks eng zusammengekniffenen, dunklen Augen huschte aufmerksam durch die Halle.

»Was?« fragte Charity.

Gurk deutete nacheinander auf einige der reglosen Körper. »Vier Charitys. Viermal Stone und vier übriggebliebene Indianerhäuptlinge, und vier...« er zog eine Grimasse und schüttelte sich, »Abn el Gurks. Aber nur drei Leßters.«

Charity drehte sich herum und zwang sich, die reglosen Gestalten eine nach der anderen anzusehen. Tatsächlich gab es sie alle in vierfacher (und toter) Ausführung. Alle, bis auf Leßter. Sie entdeckte nur drei Leichen mit seinem Aussehen.

»Und?«

Gurk zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich frage mich nur, ob es etwas zu bedeuten hat.«

»Vielleicht ist er ... dort drinnen geblieben«, sagte Skudder. Schaudernd deutete er mit einer Kopfbewegung auf den Transmitter. Gurk schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Er ist direkt hinter Charity rausgekommen und hat Stone mit sich gerissen. Nicht wahr, Dannilein?« Er grinste in Stones schreckensbleiches Gesicht und wandte sich dann wieder zu Skudder um. »Das Ding hat ihn genauso oft kopiert wie uns. Aber einer fehlt.«

»Du glaubst doch nicht, daß er dafür verantwortlich ist?« entfuhr es Charity.

»Ich glaube überhaupt nichts«, sagte Gurk. »Aber irgend jemand hat irgend etwas getan. Und wenn ich es nicht war und keiner von euch...«

Auf dem Schaltkasten des Transmitters hinter ihm begann eine gelbe Lampe zu flackern, und Gurk fing Charitys erschrockenen Blick auf und drehte sich herum. »Oh«, sagte er, »da klopft jemand.«

»Können sie den Transmitter von unten aus einschalten?« fragte Skudder besorgt.

Gurk zuckte abermals mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er. Er sah sich suchend um, bückte sich und nahm die Waffe aus der Hand einer toten Charity. Fast gelassen zielte er auf das winzige Kästchen, drückte ab, und die Schalttafel verwandelte sich in einen rot glühenden Metallklumpen. »Jetzt jedenfalls nicht mehr«, sagte er grinsend, während er sich wieder zu Skudder herumdrehte. »Trotzdem schlage ich vor, daß wir diesen ungastlichen Ort verlassen und uns ein Versteck suchen, in dem wir uns in Ruhe gruseln können.«

»Hast du eine Ahnung, wo wir sind?« fragte Skudder.

Gurk schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber ich«, sagte Charity.

Sowohl Skudder als auch der Zwerg sahen sie überrascht an.

»Ich ... bin nicht ganz sicher«, fuhr Charity fort. Sie drehte sich einmal im Kreis und ließ ihren Blick durch die riesige, verwüstete Halle schweifen. »Aber ich bin schon einmal hier gewesen.«

»Wo sind wir?« fragte Skudder.

Charity antwortete nicht gleich, sondern sah sich weiter unschlüssig um. »Gib mir noch ein paar Minuten«, sagte sie. »Damit ich sicher sein kann.«

»Gern«, sagte Gurk. »Aber nicht hier. Ich weiß zwar so wenig wie ihr, was hier passiert ist, aber ich bin sicher, daß hier gleich eine Putzkolonne auftaucht, um die Schweinerei wegzuwischen. Eigentlich habe ich keine Lust, dann noch da zu sein.«

Charity fand seinen Tonfall im Augenblick nicht besonders passend, aber das, was er sagte, stimmte. Im Grunde war es schon ein kleines Wunder, daß es hier nicht schon wieder von Kriegern wimmelte. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben.

Sie wandte sich zu Stone um, gab ihm mit einer befehlenden Geste zu verstehen, zwischen Skudder und ihr zu bleiben, und drehte sich dann zum Ausgang.

Als sie die Bewegung halb vollendet hatte, registrierte sie einen Schatten aus den Augenwinkeln, fuhr herum und riß ihre Waffe hoch, als sie den Moronikrieger erkannte, der sich zwischen zwei der buckeligen Maschinenblocks aufrichtete.

Der Krieger stieß einen erschrockenen Ruf aus und riß die beiden oberen Arme in die Höhe, und plötzlich schrie auch Gurk: »Nicht schießen! Das ist keiner von ihnen!«

Charity drückte nicht ab, aber sie hielt die Waffe weiter auf die bizarre Gestalt gerichtet, während sie sich ihr vorsichtig näherte. Gurk hatte recht, es war kein Moroni, zumindest keiner, wie sie ihn je gesehen hätte.

Auf einen allerersten und auch dann nur sehr flüchtigen Blick mochte er einem solchen ähneln, aber er war zu klein, seine Glieder waren zu dick und zu kurz, und die Proportionen stimmten nicht.

Das bizarre Geschöpf wandte langsam den Kopf und sah ihr entgegen, während Charity sich ihm näherte. Der Anblick kam ihr immer absurder vor. Sie sah jetzt, daß seine Haut nicht aus schwarzem Horn bestand, sondern einer gummiähnlichen, faltigen Masse, die nicht die mindeste Ähnlichkeit mit dem Exoskelett einer der riesigen Insektenkreaturen hatte. Die beiden mittleren der sechs Glieder hingen schlaff wie leere Schläuche von seinem Körper herunter, und mehr waren sie vermutlich auch nicht. Sein Schädel hatte die typische dreieckige Form eines Ameisenkopfes, bestand aber aus ungeschickt zusammengeklebten Kunststoffteilen, und die großen, starrenden Augen waren Halbkugeln aus Glas. Die Gestalt sah aus, als hätte ein Kind mit unzulänglichen Möglichkeiten und wenig Geschick versucht, sich ein Karnevalskostüm in der Form eines Moroni zusammenzubasteln.

»Wer zum Teufel sind Sie?« fragte Charity.

Die Gestalt fuhr beim Klang ihrer Stimme sichtbar zusammen. Sie versuchte zurückzuweichen, blieb aber sofort wieder stehen, als Charity eine drohende Bewegung mit dem Gewehr machte.

»Was soll das?« fragte Charity. »Wer sind Sie?«

Sie hörte etwas wie eine Antwort, aber die Stimme - obwohl eindeutig menschlich - wurde von der plumpen Maske so verzerrt, daß sie sie nicht verstand. Charity machte eine auffordernde Geste mit der Hand, den Helm herunterzunehmen. Der sonderbare Fremde zögerte, senkte dann ganz langsam, als hätte er Angst, sie durch eine zu hastige Bewegung zu erschrecken, die Hände, legte sie an die Schläfen des imitierten Ameisenschädels und hob ihn wie den Helm einer archaischen Ritterrüstung herunter.

Darunter kam ein bleiches, von langem, verfilztem schwarzem Haar eingerahmtes Gesicht zum Vorschein. Es war eindeutig menschlich - und trotzdem fuhr Charity erschrocken zusammen, als sie es sah.

Der junge Mann - sein Alter war unmöglich zu schätzen, er konnte ebensogut fünfzehn wie fünfundzwanzig sein - hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht von makellos weißer Farbe. Nicht weiß in der Art, in der man das Wort normalerweise benutzte, um die verschiedenen Völker auseinanderzuhalten, sondern im wortwörtlichen Sinne. Seine Augen waren riesengroß und von einem Netz dünner, geplatzter Aderchen durchzogen, und in seinen Mundwinkeln klebte getrocknetes Blut. Alles in seinem Gesicht war irgendwie falsch, als wäre es zwar nach dem richtigen Plan entworfen, aber nicht ganz korrekt zusammengesetzt worden. Die Wangenknochen waren zu hoch angesetzt, der Mund eine Spur zu breit, die Nase etwas zu scharf, die Augen zu groß ...

»Wer sind Sie?« wiederholte Charity ihre Frage. »Verstehen Sie mich?«

Ihr Gegenüber nickte abgehackt. »French«, sagte er. »Ich bin ... French.«

Auch seine Stimme klang sonderbar. Gepreßt und verzerrt und schrill, als stieße er die wenigen Worte mit letzter Kraft hervor.

»Was tust du hier?« fragte Gurk, der mittlerweile herangekommen war und die Gestalt mit unverhohlener Verblüffung anstarrte.

French blickte auf den Zwerg hinab und begann noch heftiger zu zittern. »Ich ... ich habe mich versteckt«, sagte er. »Ich hätte euch geholfen, aber ... sie ... sie waren zu viele. Ich wollte euch helfen, wirklich, aber...«

Charity unterbrach ihn. »Das glauben wir dir. Aber wer bist du? Was tust du hier?«

»Ich lebe im Hort«, stieß French atemlos hervor. »Ich wollte Luft holen, aber ich habe mich verirrt, und dann, dann bin ich hier hereingekommen, und dann, dann...«

»Schon gut«, sagte Charity, als der Junge immer heftiger zu stammeln begann. »Vielleicht reden wir später über alles. Kennst du den Weg hier heraus?«

French nickte. »Ja. Aber dort draußen sind überall Spinnen. Sie werden euch töten.«

»Spinnen? Ich glaube, er meint die Ameisen. Die Moroni«, verbesserte sich Gurk rasch und deutete auf eines der toten Rieseninsekten.

French nickte nervös.

»Warst du die ganze Zeit über hier?« erkundigte sich Gurk.

Wieder nickte French. »Ich konnte nicht hinaus«, sagte er. »Sie hätten mich getötet, wenn ich versucht hätte, euch zu warnen.«

»Du hast alles beobachtet?« vergewisserte sich Gurk. »Von Anfang an? Auch als wir ... Ich meine, als die anderen das erste Mal aufgetaucht sind?«

»Ja, aber ich...«

»... konnte euch nicht helfen, ich weiß«, unterbrach ihn Gurk ungeduldig. Dann deutete er nacheinander auf sich und die anderen. »Einer von uns fehlt. Hast du gesehen, was mit ihm passiert ist?«

»Der ... der Mann, der gebrannt hat?«

»Wenn du damit Leßter meinst, ja«, sagte Gurk. Er legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn. »Er hat gebrannt?«

»Sie haben auf ihn geschossen«, sagte French nervös. »Er war tot, aber dann ist er wieder aufgestanden und, und zu dem Ring gelaufen, und er hat irgendwas getan und sie haben wieder auf ihn geschossen, und er hat wieder gebrannt. Und dann sind die anderen gekommen. Die, die ausgesehen haben wie ihr.«

»Und Leßter?«

French deutete auf einen Punkt ein Stück rechts des Transmitters. »Er ist...«

Verblüfft brach er ab, und auch Chärity blickte stirnrunzelnd in die Richtung, in die seine nachgeahmte Klauenhand deutete. Der Boden war verbrannt, und sie glaubte eine schwarze, schmierige Spur zu erkennen, als wäre etwas Verkohltes dort entlanggeschleift worden. Aber keine Leiche.

»Ja«, murmelte Gurk düster. »So ungefähr habe ich mir das gedacht.«

»Was?« fragte Skudder scharf.

»Das weiß ich selbst noch nicht so genau«, antwortete der Zwerg. »Aber ich glaube, ich beginne allmählich zu begreifen, was hier passiert.«

Zum ersten Mal ergriff French von sich aus das Wort. »Wer seid ihr?« fragte er. »Ich meine, ihr ... ihr und die anderen. Wer seid ihr? Und wo kommt ihr her?«

»Mein Name ist Charity«, antwortete Charity. Sie deutete nacheinander auf die anderen. »Das sind Skudder, Stone und Gurk. Wir kommen aus New York.«

French sah sie auf eine Art an, die ihr klarmachte, daß ihm dieses Wort nichts sagte.

»Von der Erde«, fügte sie hinzu.

Sie hörte, wie French erschrocken die Luft einsog, und sah, wie sich seine Augen noch mehr weiteten. Plötzlich begann er am ganzen Körper zu zittern. Und dann fiel er auf die Knie, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und begann zu wimmern. »Ich wußte es«, stammelte er. »Er hat recht gehabt. Er hat uns nicht belogen.«

»Was?« machte Gurk.

»Götter!« flüsterte French. »Ihr seid Götter! Ihr seid gekommen! Es ist doch wahr!«

Für einen Moment fühlte sich Charity sehr hilflos. Dann ließ sie sich langsam in die Hocke sinken, ergriff die Schultern des Jungen und zog ihn mit sanfter Gewalt wieder in die Höhe. Sie konnte durch den Anzug hindurch spüren, daß French am ganzen Leib zitterte.

»Wir sind keine Götter«, sagte sie so sanft sie konnte. »Wir sind Menschen wie du. Wir kommen nur von einem anderen Ort.«

French antwortete nicht, und sie bezweifelte auch, daß er ihre Worte überhaupt gehört, geschweige denn verstanden hatte. »Du kannst uns vertrauen«, fügte sie hinzu. »Wir werden dir nichts tun. Im Gegenteil.«

Gurk räusperte sich gekünstelt. »Warum hebst du dir das nicht für später auf?« sagte er. »Wir müssen hier verschwinden. Wenn wir hier heraus und in Sicherheit sind, dann könnt ihr euch ja in Ruhe verehren lassen.«

Charity brachte ihn mit einem ärgerlichen Blick zum Verstummen. Aber sie sah auch ein, daß der Zwerg recht hatte. Sie ließ Frenchs Schultern los, steckte ihre Waffe endgültig ein und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Gut«, sagte sie. »Ich denke, ich weiß, wie wir hier herauskommen. Kannst du uns zu dem Ort bringen, an dem deine Leute leben?«

Die Frage galt French. Der junge Mann schluckte ein paarmal nervös und deutete dann eine Bewegung an, die Charity mit einiger Phantasie als Nicken interpretierte. »Ja«, sagte er. »Ich kenne den Weg. Aber ihr könnt ihn nicht gehen. Die Spinnen werden euch erkennen und töten, und ihr habt keine Anzüge. Ihr würdet in der Toten Zone ersticken.«

»Es reicht, wenn du uns den Weg zeigst«, sagte Charity. »Um alles andere kümmern wir uns. Bring uns zu deinen Leuten.«

»Ja«, fügte Gurk düster hinzu und wandte sich noch einmal um, um zu dem zerstörten Transmitterring zurückzublicken.

»Und danach suchen wir Leßter, oder wie immer er heißen mag. Ich brenne darauf, ihm eine ganze Menge Fragen zu stellen.«


Ende des sechsten Teils

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