3


Nach der Enge an Bord des Schneemobils kam ihr das Innere der Transportmaschine regelrecht groß vor. Die Welt endete zwar noch immer nach einem knappen Dutzend Schritte vor einer nato-oliv-gespritzten Metallwand, aber sie konnte wenigstens aufrecht stehen und mußte nicht bei jedem Schritt aufpassen, sich nicht den Kopf, die Schienbeine oder andere Körperteile blutig zu stoßen. Außerdem bot die Transportmaschine im Moment den unbestreitbaren Vorteil, daß niemand sich die Mühe machte, auf sie zu schießen.

»Und was sagt Stone dazu?« fragte Hartmann. Sein Gesicht war nur undeutlich auf dem Bildschirm zu erkennen; zwei-dimensional, in Schwarz-Weiß und von Störungen überlagert, die seine Stimme manchmal zu einem fast unverständlichen Kreischen und Quäken machte. Allerdings waren diese Störungen auch der Garant dafür, daß ihr Gespräch von Kontinent zu Kontinent nicht abgehört werden konnte.

»Er hüllt sich in Schweigen«, antwortete Charity nach kurzem Zögern. Und nach einem raschen Blick in die Runde, mit dem sie sich davon überzeugte, daß auch Skudder nicht in Hörweite war, fügte sie hinzu: »Allmählich beginne ich mich selbst zu fragen, ob er sich nicht nur einen besonders üblen Scherz mit uns erlaubt.«

Hartmann runzelte einen Moment lang die Stirn. Seine Stimme nahm einen fast väterlich-besorgten Ausdruck an, als er antwortete: »Lassen Sie sich nicht von Skudders Mißtrauen anstecken, Charity.«

»Bestimmt nicht«, versprach sie. Sie lächelte verlegen, rettete sich schließlich in ein halb hilfloses, halb resignierendes Achselzucken und fuhr mit einem tiefen Seufzen fort: »Aber manchmal verstehe ich ihn.«

»Ich auch«, sagte Hartmann, »Trotzdem - bisher haben sich Stones Informationen als wahr erwiesen, oder?«

Natürlich hatten sie das. Und vielleicht, überlegte Charity, war es gerade das, was sie so beunruhigte. Seit sie aus dem Kälteschlaf erwacht war und sich an die undankbare Aufgabe gemacht hatte, eine ganze Welt zu befreien, hatte sie sich durch eine fast ununterbrochene Kette von Schwierigkeiten, unliebsamen Überraschungen, tödlichen Gefahren, Verrat und Niederlagen gekämpft. Die relative Reibungslosigkeit, mit der ihr Unternehmen bisher abgelaufen war, machte sie nervös. Vielleicht war sie einfach nicht mehr gewohnt, daß irgend etwas wirklich glatt lief.

»Sie sollten auf jeden Fall...« begann Hartmann, dann wurden die Störgeräusche plötzlich lauter, und das Bild auf dem kleinen Monitor begann sich in flimmernde Streifen aufzulösen. Charity runzelte die Stirn, klopfte - völlig sinnlos, aber eine liebgewonnene alte Gewohnheit, seit Menschen den elektrischen Strom erfunden hatten - mit den Fingerknöcheln gegen die Mattscheibe und wandte sich schließlich mit einem fragenden Blick an Phillipsen.

»Was ist mit dem Ding los?«

Der junge Leutnant zuckte hilflos mit den Schultern und untersuchte seine eigenen Geräte auf die gleiche Weise wie sie: Er begann darauf herumzuhämmern. »Keine Ahnung«, gestand er. »Irgend etwas stört den Empfang.«

Charity blieb einen Moment lang reglos stehen und wartete darauf, daß sich das Bild wieder klärte. Als dies nicht geschah, wandte sie sich mit einem Achselzucken um. »Rufen Sie mich, wenn Sie den Kontakt wieder hergestellt haben.«

»Aye aye, Madam!« antwortete Phillipsen in übertrieben-zackigem Tonfall, der einzig dadurch verdorben wurde, daß er das spöttische Grinsen nicht völlig aus seinem Gesicht bekam. Charity lächelte zurück und verließ die Steuerkabine.

Skudder, Faller und Leutnant Leßter saßen im hinteren Teil der Transportmaschine vor einem eingeschalteten Computermonitor und diskutierten halblaut miteinander. Charity konnte nicht hören, was sie sagte, aber Skudder sah ziemlich verärgert aus, und er bewegte hektisch die Hände. Eigentlich, dachte sie, sah er in letzter Zeit immer ziemlich verärgert aus. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, was er von diesem Unternehmen hielt.

Sie näherte sich den dreien, zog sich einen freien Stuhl heran und setzte sich ebenfalls vor den Monitor, als Skudder ein Stück zur Seite rückte. Neugierig warf sie einen Blick auf das Bild, das der Computer zeigte. Es war das, was sie erwartet hatte: eine Pseudo-3D-Luftaufnahme New Yorks und seiner näheren Umgebung. Drei konzentrische Kreise in Blau, Gelb und Rot umgaben Manhattan und den Stadtkern von New York.

»Na, was sagt unser - Superhirn?« fragte sie spöttisch. Sie ließ dabei offen, ob sie damit den Computer oder Skudder meinte, und der Hopi antwortete auch erst, nachdem er ihr einen raschen, kritischen Blick zugeworfen hatte.

»Es sieht nicht besonders gut aus«, sagte er und deutete auf den äußeren, blauen Ring, der die Stadt in einer Entfernung von vielleicht dreißig Meilen umgab. »Hier ungefähr sind wir jetzt. Dort draußen herrschen jetzt schon null grad Celsius. Und es wird mit jedem Schritt kälter, den wir nach Norden gehen. Selbst wenn wir an den Robotwachen vorbeikämen, würden wir erfrieren, ehe wir die zweite Sperre erreichten.« Seine Fingerspitze berührte den gelben Kreis.

»Das Schneemobil hält das durch«, sagte Leßter. »Die Kisten sind bis achtzig Grad minus getestet. Aber sie halten auch hundert aus.« Er grinste. »Allerdings wird sich der Hersteller weigern, Reparaturen auf Garantiebasis auszuführen, wenn wir die Maschine so überlasten.«

»Idiot«, sagte Faller.

Leßter grinste noch breiter. »Freut mich«, antwortete er. »Leßter.«

»Hört auf, ihr zwei«, sagte Charity scharf. Dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Das Problem ist nicht die Kälte, Leßter. Sie haben gehört, was Stone gesagt hatte - es gibt automatische Wächter, die auf alles schießen, was sich nicht identifiziert.«

»Dann tun wir es eben«, sagte Leßter gelassen.

»Und wie?«

Leßter zuckte die Achseln. »Mit ein bißchen logischem Überlegen kriegen wir das schon raus, oder?« Er deutete auf den Monitor. »Die Wächter, die sie beide fast erledigt hätten - das waren Maschinen, nicht wahr?«

»Warum?« fragte Skudder.

»Nun, weil es ungewöhnlich ist«, antwortete der Leutnant. »Okay, ich will Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie sagen, daß Sie mehr von den Moroni verstehen als ich. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann, daß sie niemals Maschinen einsetzen, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt.«

»Es ist dort draußen viel zu kalt für die Ameisen«, sagte Skudder. »Nicht einmal sie fühlen sich bei hundert Grad minus wohl.«

»Eben«, sagte Leßter. »Also können wir davon ausgehen, daß wir auch weiter im Norden nur auf Maschinen treffen werden.«

Ein Schatten huschte über Skudders Gesicht. »Machen Sie es nicht so spannend«, knurrte er. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Leßter grinste. »Ganz einfach«, sagte er. »Die Moroni können nicht daran interessiert sein, ihre eigenen Maschinen zu Klump zu schießen. Ich bin sicher, daß sie eine Art Sender oder sonstwas bei sich haben, nur für den Fall, daß sie diesem Todesgürtel zu nahe kommen. Wir müssen also nur eine dieser Maschinen kapern.«

»Oh, mehr nicht?« fragte Skudder spöttisch. »Und Sie denken, die lassen sich das so ohne weiteres gefallen?«

Leßter öffnete seine Halfter und zog den kleinen Kompakt-Laser heraus. »Ich werde sie höflich bitten.«

»Selbst wenn Sie recht haben sollten«, warf Charity ein, »wie kommen wir daran vorbei?« Sie deutete auf den dritten, leuchtendroten Kreis, der Manhattan und einen Teil der Stadt umgab. Was auf dem Monitor so harmlos aussah, das war in Wirklichkeit - jedenfalls hatten das ihre Instrumente während des Anfluges behauptet, und es gab keinen Grund, an dieser Behauptung zu zweifeln - eine Barriere aus gefrorener Luft. Die Temperaturen mußten dort den absoluten Nullpunkt erreicht haben - oder sich ihm zumindest so weit nähern, daß der Unterschied nicht mehr wichtig war. »Hält Ihr Schneemobil das auch aus?«

»Ich fürchte, nein«, gestand Leßter - ohne daß dies irgend etwas an seinem fröhlichen Gesichtsausdruck änderte. »Aber irgendwie kommen die Moroni ja schließlich auch in die Stadt hinein und wieder raus, nicht wahr?«

»Vielleicht gehen wir die Sache falsch an«, sagte Skudder. Seine Stimme klang überraschend ruhig, so daß nicht nur Charity erstaunt aufsah, sondern auch Phillipsen den Blick vom Computer löste und den Hopi einigermaßen verwirrt ansah.

»Okay - fassen wir zusammen, was dein neuer Freund dir verraten hat«, fuhr Skudder mit einem Seitenblick auf Charity fort. Sie schluckte die Spitze herunter, ohne zu reagieren. »Es gibt also diese Sonnenbombe - wie immer das auch funktionieren soll - und der einzige Weg dorthin führt durch New York. Richtig?«

Charity nickte stumm. Sie ahnte, worauf Skudder hinauswollte.

»Ich frage mich nur, wieso«, sagte Skudder. »Nach allem, was ich bisher gehört habe, gibt es nur einen einzigen Transmitter, mit dem man die Erde verlassen kann. Und der steht am Nordpol.«

»Genau den nehmen wir ja auch«, sagte Charity. »Das Gerät in New York ist nur eine Relaisstation.«

»Die uns in die Schwarze Festung bringt«, fügte Skudder grimmig hinzu. »Direkt ins Herz ihrer Macht. Wenn du mich fragst, dann werden uns zehntausend schießwütige Ameisen dort erwarten.«

»Wir werden im Bruchteil einer Sekunde weitergeschickt«, antwortete Charity müde. »Das haben wir doch alles schon...«

»... besprochen, ich weiß«, unterbrach sie Skudder. »Und wir werden es noch hundertmal besprechen, wenn es sein muß. Es ergibt einfach keinen Sinn, Cherry! Wenn es nur eine Relaisstation ist, warum nehmen wir dann nicht irgendeinen Transmitter? Es gibt Tausende von diesen Dingern auf der Welt, vielleicht Zehntausende! Und jetzt erzähl mir bitte nicht, daß Stone nur den Zugangscode für dieses eine Gerät kennt! Warum müssen wir unbedingt über New York? Soll ich dir sagen, warum? Weil er dort auf uns wartet!«

»Unsinn«, widersprach Charity. Aber das Wort klang nicht einmal in ihren eigenen Ohren überzeugend. Trotzdem fuhr sie fort: »Wir müssen diesen Zentralrechner ausschalten. Wenn nicht, dann haben wir die halbe Moroni-Armee auf den Fersen, ehe wir auch nur ganz in der Sonnenstation materialisiert sind.« Zumindest war das das, was Stone ihr erklärt hatte. Es klang einleuchtend. Und gleichzeitig nach dem haarsträubendsten Unsinn, den sie je gehört hatte.

Skudder lachte nur.

»Es gibt keinen Grund für ihn, sich solche Umstände zu machen«, sagte Charity hilflos. »Er hätte uns in Köln ohne das geringste Risiko erledigen können.«

Sie hatte das Gefühl, dies nur aus einem einzigen Grund zu sagen - nämlich dem, sich selbst zu beruhigen. Und Skudder machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.

Charity blickte ihn sekundenlang fast hilfesuchend an, dann stand sie auf und begann unruhig im Innern der Maschine auf und ab zu gehen. Ihr Blick glitt durch den mit einem engmaschigen Kunststoffnetz abgetrennten hinteren Teil der Maschine, und eine Mischung aus Stolz, Resignation und fast hysterischem Zorn überkam sie. Nicht zum ersten Mal.

Trotz seiner enormen Größe schien das Flugzeug schier aus den Nähten zu platzen. Was Hartmanns Männer in den hinteren fünf Sechsteln des Transportraumes untergebracht hatten, das hätte noch vor einem halben Jahrhundert ausgereicht, einen mittleren Krieg zu entfesseln - und zu gewinnen. Vor der geschlossenen Rampe des Superguppy II thronte ein einsatzbereiter Leopard-Panzer; eines der vollcomputerisierten, fast unverwundbaren Monster, wie sie es in Paris gefunden hatten. Hinter ihm erhob sich der bizarre Umriß eines in Teile zerlegten Stealth-Copters, und der Rest des verbliebenen Platzes wurde von einer Unzahl von Kisten, Kartons und Verpackungszylindern eingenommen, in die Hartmann alles hatte einpacken lassen, was nötig war, um eine Stadt von der Größe New Yorks im Sturm zu nehmen. Nur warme Unterwäsche hatte er vergessen, dachte Charity spöttisch. O ja - und noch eine Kleinigkeit: die zwei Dutzend Männer, die sie brauchten, um diese ganze Science-Fiction-Kriegsmaschine in Gang zu setzen.

Natürlich war es nicht seine Schuld. Er hatte ihnen alles gegeben, was er entbehren konnte. Männer hatte er selbst nicht, seit mehr und mehr von ihnen zu Kyles Jared übergelaufen waren. Leßter und seine beiden Kollegen waren im Grunde schon mehr, als er entbehren konnte.

Charity fragte sich, wie es jetzt wohl in der riesigen Bunkerstation aussah. Als sie Hartmann verlassen hatten - vor nunmehr drei Tagen - hatte seine Besatzung noch ganze siebzig Köpfe gezählt. Und er brauchte ungefähr fünfmal so viel, um die Basis auch nur notdürftig zu bemannen.

»Wir könnten es mit dem Leo versuchen«, sagte Leßter, der ihren Blick bemerkt, aber ganz offensichtlich falsch verstanden hatte.

»Können Sie damit umgehen?« fragte Charity, ohne sich zu ihm herumzudrehen. Sie konnte Leßters Grinsen beinahe hören. »Ich hatte ein paar Stunden am Simulator. Aber schwerer als...«

»... INTERCEPTOR oder RETALIATOR kann es auch nicht sein«, führte Charity den Satz spöttisch zu Ende. »Ich weiß.« Sie lächelte, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zu ihm und den beiden anderen um. »Ich glaube Ihnen sogar. Aber es hätte wenig Zweck. Wir müssen ungesehen in die Stadt hineinkommen.«

Leßter grinste noch fröhlicher. »Lassen Sie mich hinter die Kanone, und es wird niemand mehr da sein, der uns sehen könnte.«

Gegen ihren Willen mußte Charity abermals lächeln. Aber sie antwortete nicht mehr, sondern ging an ihm und den beiden anderen vorbei wieder zurück in die Steuerkanzel. »Was macht die Funkverbindung mit Hartmann?«

Phillipsen sah nicht einmal von seinen Geräten auf, sondern fuhr fort, mit schnellen, irgendwie nervös aussehenden Bewegungen an Knöpfen und Schaltern zu hantieren.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Charity, als sie auch nach einigen Sekunden keine Antwort bekam.

Phillipsen zuckte unglücklich mit den Schultern. »Ich ... bin nicht sicher«, antwortete er ausweichend.

Mit einem raschen Schritt trat Charity vollends hinter ihn und beugte sich vor, um über seine Schulter zu blicken. Nicht, daß sie dadurch irgendwie schlauer wurde. Sie hatte Raumschiffe geflogen, die zehnmal so groß wie dieser Transporter waren, und trotzdem verwirrte sie das Steuerpult dieser Maschine immer noch. »Was ist los?« fragte sie. »Ist die Verbindung zusammengebrochen?«

»Komplett«, antwortete Phillipsen. »Aber die Funkverbindung macht mir die wenigsten Sorgen.« Er schüttelte den Kopf. »Die ganze Kiste spinnt.«

»Was genau meinen Sie damit?« fragte Charity alarmiert.

Phillipsen zuckte abermals die Achseln. »Das weiß ich selbst nicht«, gestand er. »Sehen Sie sich das an. Die Instrumente rasten völlig aus.«

Charity hörte, wie Skudder, Leßter und Faller hinter ihr in die Steuerkabine kamen, und trat einen halben Schritt zur Seite, um Leßter Platz zu machen.

»Laß mich mal sehen«, sagte der Leutnant. »Alles muß man selbst machen!«

Phillipsen spießte ihn mit Blicken geradezu auf und streckte die Hand nach einem Schalter aus, aber Leßter schlug ihm auf die Finger und schüttelte tadelnd den Kopf. »Nimm deine ungleichen Pfoten von meinen Geräten«, sagte er. »Das Ding hier ist ein Flugzeug, kein Eierkocher!«

»Jetzt reicht's«, sagte Charity scharf. »Reißen Sie sich zusammen, Leutnant Leßter!« Sie deutete fordernd auf das Instrumentenpult. »Was geht da vor?«

Leßter fuhr sichtbar zusammen, antwortete aber nicht sofort, sondern blickte rasch und mit wachsender Bestürzung auf die Instrumentenkonsole vor sich. »Ich fürchte, Leutnant Phillipsen hat recht, Captain Laird«, sagte er steif. »Die Instrumente scheinen gestört zu sein.«

»Scheinen?« hakte Skudder nach.

Leßter zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon«, sagte er. »Denn das, was sie anzeigen, ist schlicht und einfach unmöglich. Scheißtechnik. Das Ding ist doch nur ein besserer Eierkocher!«

Charity warf ihm einen alarmierten Blick zu. »Und was sagen die Instrumente?« fragte sie so beherrscht wie möglich.

Leßters Gestik verriet völlige Ratlosigkeit. »Die Anzeige kann nicht stimmen, Captain Laird«, sagte er. »Wenn das, was die Instrumente behaupten, wahr ist, dann kommt etwas auf uns zu. Etwas von der Größe eines ganzen Häuserblocks, schätze ich.«

»Wie bitte?« sagte Skudder erschrocken.

Leßter warf einen raschen Blick auf die Instrumente. »Ungefähr siebenhundert Meter lang, dreihundert breit und fast genauso hoch. Hundertneunzigtausend Tonnen Gewicht - plus minus fünf Prozent. Und das ist unmöglich.«

»Da wäre ich ... nicht so sicher«, murmelte Skudder erschrocken. Instinktiv blickte er durch die Kanzel nach draußen, aber das Bild hatte sich nicht geändert. Vor ihnen lag nur die braunweiße Schneebene und die kochende Wand des Sturmes.

»Es ist unmöglich«, beharrte Leßter. Er tippte mit der Spitze des kleinen Fingers auf einen seiner zahllosen Monitore. »Das Ding hier behauptet, daß es weder rollt noch fliegt.«

»Sondern?«

»Es läuft.«

Für geschlagene zehn Sekunden herrschte vollkommenes Schweigen in der Pilotenkanzel. Dann sagte Skudder ganz leise:

»Sie täuschen sich, Leßter. Es ist möglich.«

Charity starrte ihn an. »Wie bitte?«

»Starten!« schrie Skudder plötzlich. »Um Gottes willen - starten Sie die Maschine! Wir müssen hier weg!«

Von einer Sekunde auf die andere schien Leßter sich zu verwandeln. Plötzlich war an ihm überhaupt nichts Albernes oder Kindisches mehr. Mit der Präzision einer Maschine fuhr er in seinem Sitz herum, kippte in einer einzigen Handbewegung ein halbes Dutzend Schalter und Hebel gleichzeitig herum und zog den Steuerknüppel zu sich heran. Auch Phillipsens Hände begannen über das Pult zu huschen wie kleine, flinke Tiere, die ganz von selbst wußten, was zu tun war, und hinter ihnen ließ sich Faller ohne ein Wort in den Sessel des Funkers sinken und streifte die Kopfhörer über.

»Anschnallen!« befahl Leßter knapp. »Das wird ein Gewaltstart!«

Das Instrumentenpult begann zu flackern, als Dutzende von Geräten gleichzeitig zum Leben erwachten. Ein dumpfes, rasch lauter werdendes Summen drang aus dem Rumpf des Flugzeuges und ging in ein an- und abschwellendes Wimmern über, als Leßter die Turbomotoren startete.

Charity und Skudder setzten sich hastig. »Was ist das?« fragte Charity nervös. »Was kommt da auf uns zu, Skudder?«

»Wenn es das ist, was ich befürchte«, murmelte Skudder, »brauchst du nur nach draußen zu sehen.«

Charity gehorchte - und ächzte fassungslos auf.

Zwei, drei Kilometer vor ihnen lag noch immer die Wand des Hurrikans - aber dahinter bewegte sich etwas. Etwas Großes.

Eine Sekunde später verbesserte sie sich in Gedanken. Nein - es war nichts Großes. Es war etwas Gigantisches.

»Was ... ist ... das?« flüsterte sie stockend.

»Ein Läufer«, antwortete Skudder. »Großer Gott, es ist ein Läufer! Leßter - starten Sie!«

»Ich versuche es ja«, antwortete der junge Soldat. »Aber die Maschinen müssen warmlaufen. Wir haben nicht genug Schub. Wenn ich jetzt abhebe, fallen wir in den Schnee - wollen sie das?« Seine Stimme klang ganz ruhig, fast ausdruckslos. Dabei mußte er das gigantische Etwas so deutlich gesehen haben wie sie.

»Wie lange brauchen Sie?«

»Mit vollem Risiko? Eine Minute.«

Charity hatte Mühe, überhaupt zuzuhören. Der Schatten hinter dem Sturm war näher gekommen, entsetzlich schnell näher. Die Entfernung, das Toben der Sturmböen und seine eigene, unvorstellbare Größe ließen seine Bewegungen langsam und schwerfällig erscheinen, aber sie waren weder das eine noch das andere.

Der Läufer sah aus wie ein ins Gigantische vergrößerter Käfer. Sein Körper bewegte sich auf zehn oder zwölf riesigen, vielfach unterteilten Beinen, die das Ungeheuer mit jedem Schritt fünfzig oder hundert Meter weiter trugen, und war von mattsilberner, blind gewordener Farbe. Eine Anzahl buckeliger Auswüchse und Kuppeln auf dem vorderen Drittel seiner Oberfläche ließen ihn tatsächlich für einen Moment wie etwas Lebendiges aussehen, und er schien heißer zu sein als der ihn umgebende Schnee, denn er war in eine brodelnde Dampfwolke gehüllt. Es sah aus, als atme er..

»Fünfundvierzig Sekunden«, sagte Leßter.

»Was ist das?« wiederholte Charity. Diesmal antwortete Skudder. »Ich ... habe so etwas auch erst einmal gesehen. Wir waren in ein gesperrtes Gebiet vorgedrungen. Ich weiß nicht, was es ist, aber es zerstört alles. Häuser, Fahrzeuge, ganze Städte.«

»Dreißig Sekunden«, sagte Leßter. Auch seine Stimme klang jetzt ein wenig gepreßt. »Es wird knapp. Ich kann nicht versprechen, ob ich die Kiste hochkriege.«

»Was ist mit der Bordkanone?« fragte Faller. Er deutete auf die Kontrollen des schweren Röntgen-Lasers, der im Bug des Flugzeuges eingebaut war.

»Vergiß es«, knurrte Leßter. »Ich brauche jedes bißchen Saft, um die Kiste hochzukriegen.«

Und außerdem bezweifelte Charity, daß sie das Monstrum mit dem Laser aufhalten konnten.

»Zehn Sekunden!«

Die Triebwerke heulten auf. In diesem Moment trat der Läufer vollends aus der Sturmfront heraus und drehte sich mit einer schwerfällig aussehenden Bewegung halb herum, bis sich sein vorderes Ende genau auf das Flugzeug ausgerichtet hatte. Charity sah, daß die Ähnlichkeit mit einem Käfer noch weiter ging - das Monstrum hatte tatsächlich ein gewaltiges Maul, das von zwei riesigen Mandibeln flankiert wurde. Wieder hatte sie für einen schrecklichen Moment das Gefühl, etwas Lebendigem gegenüberzustehen, das sie voller Haß und Bosheit anstarrte.

»Fünf Sekunden! Vier, drei - haltet euch fest!«

Die Triebwerke brüllten auf. Unter dem Flugzeug explodierte der Schnee zu kochendem Dampf, als er von den weißglühenden Abgasstrahlen der um neunzig Grad gekippten Triebwerke getroffen wurde. Ein schwerfälliges, mühsames Zittern lief durch den Rumpf des Flugzeuges. Für Sekunden waren sie blind, als der hochschießende Dampf ihnen die Sicht nahm.

Aber Charity spürte, wie die Maschine sich vom Boden löste und abhob, zitternd, widerwillig, brüllend wie ein Tier im Todeskampf, aber sie bewegte sich, gewann taumelnd und bockend an Höhe und glitt schließlich aus der Dampfexplosion heraus. Charity keuchte vor Schrecken, als sie sah, wie nahe der Läufer ihnen bereits gekommen war. Seine turmhohen Metallbeine wirbelten wie die einer Spinne, die ihrer Beute nachstellte.

»Wir schaffen es!« schrie Leßter. »Ja! Sie kommt hoch! Los, Baby, los - flieg! Wir schaffen es!«

»Nein«, sagte Phillipsen ganz ruhig. »Wir schaffen es nicht.«

Der Läufer war noch hundert oder zweihundert Meter entfernt. Sieben oder acht Schritte, die halbe Zahl von Sekunden. Sein gewaltiges, klaffendes Stahlmaul und die schnappenden Mandibeln, die nichts anderes als riesenhafte Greifer mit messerscharfen Kanten waren, befanden sich fast auf gleicher Höhe mit der Pilotenkanzel des Flugzeuges.

Ein weiterer Schritt. Eine halbe Sekunde. Das Flugzeug stieg weiter. Dann schrie Leßter auf, und Charity spürte, wie die Superguppy II über die rechte Tragfläche abkippte.

Der Läufer befand sich noch fünfzig Meter vor ihnen, als sich das Flugzeug krachend in den Schnee bohrte und zerbrach.

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