»Ich habe euch gesagt, es ist eine Falle!«
Skudders Stimme überschlug sich fast, und was Charity darin hörte, das war längst nicht nur Panik und Zorn, sondern auch Vorwurf, der ihr galt.
Allerdings fand sie im Moment nicht die Zeit, darauf zu antworten. Sie hatte vollauf damit zu tun, den grellen Laserblitzen auszuweichen, die rings um sie einschlugen.
Vielleicht hatte Skudder ja recht, und es war tatsächlich eine Falle. Vielleicht auch nicht. Im Grunde interessierte sie das im Moment am allerwenigsten. Ihr vordringliches (und im Grunde einziges) Interesse galt im Moment dem Vorhaben, am Leben zu bleiben. Und sie war ganz und gar nicht sicher, daß ihr das gelingen würde.
Das Sperrfeuer ließ für einen Moment nach, und Charity nutzte die Gelegenheit, hinter ihrer Deckung aufzuspringen und im Zickzack auf die Bodensenke zuzulaufen, in der sie das Schneemobil geparkt hatten. Das wiederum veranlaßte die beiden Roboter hinter der Schneewehe, erneut das Feuer auf sie zu eröffnen. Im dichten Schneetreiben und vor dem Hintergrund der schier endlosen Eiswüste sah Charity die grellen, weißen Lichtnadeln kaum, aber rings um sie herum kochte der Boden. Graue Explosionen aus Dampf und schmelzender Erde rasten in einer irrsinnig schnellen Linie auf sie zu, wie die Einschläge einer MG-Salve, nur ungleich schneller und präziser. Mit einer verzweifelten Bewegung warf sie sich nach vorne und gleichzeitig zur Seite, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und hetzte weiter. Ein Hauch glühender Luft streifte ihr Gesicht, und im gleichen Sekundenbruchteil explodierte links von ihr ein scheunentorgroßes Stück einer Schneewehe und überschüttete sie mit glühenden Trümmern und kochendheißem Wasser. Sie schrie auf - mehr vor Schrecken als vor Schmerz, denn der eingeschaltete Körperschild ihres Anzugs bewahrte sie vor schweren Verletzungen -, war aber trotzdem geistesgegenwärtig genug, weiter auf die brodelnde Dampfwolke zuzurennen statt davon weg, was ihre erste, instinktive Reaktion gewesen wäre.
Die Rechnung ging auf. Das Feuer der beiden Killermaschinen wurde unpräzise. Offensichtlich blendete die Wand aus kochendem Dampf die Infrarotsensoren der Maschinen hinreichend, sie ihr Ziel nur noch schemenhaft erkennen zu lassen. Ein unangenehm großer Teil der Laserschüsse explodierte noch immer vor und hinter ihr im Schnee, aber anscheinend feuerten die Roboter einfach wild drauflos in die Richtung, in der sie Charity vermuteten.
Charity wartete nicht ab, bis sich der Dampf verzog, sondern änderte blitzschnell abermals ihre Richtung und rannte geduckt auf den Hügelkamm zu, hinter dem das Schneemobil wartete.
Eine zweite Gestalt tauchte neben ihr aus dem Schneetreiben auf und brüllte ihr etwas zu, als sie den Hügel überquerte und sich schlitternd und mit wirbelnden Armen um ihr Gleichgewicht kämpfend dem Kettenfahrzeug näherte. Skudder. Sie achtete gar nicht darauf, was er rief, sondern rannte nur noch schneller, während sie einen hastigen Blick über die Schulter zurückwarf. Das Laserfeuer hatte aufgehört, aber das mußte nicht unbedingt bedeuten, daß sie in Sicherheit waren. Da verlor sie auf dem spiegelglatten Boden, der sich unter der dünnen Schneedecke verbarg, den Halt und stürzte kopfüber den Rest des Hügels hinunter. In einer gewaltigen Wolke aus staubfeinem Schnee kam sie direkt vor der offenstehenden Tür des Schneemobils zur Ruhe.
Eine Hand griff aus dem Innern des Fahrzeuges heraus und zerrte sie in die Höhe. Eine zweite packte sie von hinten und stieß sie so grob durch die Tür, daß sie erneut das Gleichgewicht verlor und den Mann im Schneemobil mit sich von den Füßen riß. Der andere sprang hinter ihr in das Fahrzeug, schmetterte die Tür zu und drehte sich mit einer zornigen Bewegung zu Charity herum, kam aber nicht dazu, irgend etwas zu sagen, denn genau in diesem Moment heulte der Motor des Schneemobils auf, und das Fahrzeug schoß mit einem solchen Satz los, daß auch Skudder von den Füßen gerissen wurde und der Länge nach über Charity und Faller stürzte, die sich gerade gegenseitig auf die Füße zu helfen versuchten. Mit dem schrillen Kreischen eines überdrehten Motors schoß das Kettenfahrzeug die Hügelflanke empor und wandte die stumpfe Nase nach Süden. Ein Blitz aus grellem, kalkweißem Licht überwand die Filter vor den Scheiben und tauchte das Innere des Fahrzeugs für Bruchteile von Sekunden in schattenloses Weiß. Irgend etwas explodierte in unmittelbarer Nähe, und eine Sekunde später erbebte das ganze Fahrzeug unter einem Bombardement aus Erd- und Schneeklumpen. Dann hatten sie die Hügelkuppe überwunden und waren wieder in der Sicherheit eines weiteren Tales.
Trotzdem blieb Charity noch sekundenlang mit angehaltenem Atem und reglos liegen, ehe sie es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Jeden Augenblick rechnete sie damit, das fürchterliche Splittern von zerberstendem Metall zu hören, oder das dumpfe Krachen einer Explosion, die das Schneemobil samt seiner vorwitzigen Insassen in Stücke reißen würde.
Aber das geschah nicht. Statt dessen sank das trommelfellzermürbende Wimmern des Motors wieder zu erträglicher Lautstärke herab, und einen Moment später hörte auch der Boden unter ihnen auf, wie ein bockendes Pferd auf und ab zu hüpfen. Sie waren noch einmal davongekommen. Aber es war knapp gewesen. Sehr knapp.
»Ich habe euch gesagt, es ist eine Falle!« sagte Skudder, der quer über Faller und ihr lag und sich anscheinend irgendwo verheddert hatte, denn es gelang ihm nicht, aufzustehen.
»Das hast du sogar mehrmals gesagt«, antwortete Charity. »Aber wenn man etwas dauernd wiederholt, wird es dadurch nicht wahrer, weißt du?« Sie schob Skudders rechten Fuß aus ihrem Gesicht und versuchte sich in die Höhe zu stemmen, ließ es aber sofort wieder bleiben, als Faller ein schmerzhaftes Keuchen ausstieß. Skudder und sie waren so unglücklich über ihn gestürzt, daß sie den armen Kerl regelrecht an den Boden des Schneemobils nagelten.
»Alles in Ordnung da hinten?« drang die Stimme des Fahrers aus dem Cockpit.
»Klar!« brüllte Skudder zurück. »Uns geht es blendend! Wir sind kein bißchen tot.«
»Alles okay«, sagte Charity.
»Ich glaube, es ist niemand verletzt.«
»Umpf«, fügte Faller hinzu. Mehr konnte er nicht sagen, denn er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und Skudders ganzes Körpergewicht drückte ihn gegen die geriffelten Metallplatten.
»Ich bin nicht sicher, wem ich im Moment lieber den Hals herumdrehen würde«, knurrte Skudder, »Stone oder dir. Auf einen so plumpen Trick hereinzufallen!«
»Laß den Quatsch und steh lieber auf«, antwortete Charity. Sie verdrehte sich den Hals, um dem Hopi-Indianer einen mißmutigen Blick zuzuwerfen. »Und wenn möglich, ohne einen von uns dabei umzubringen.«
Skudder wäre nicht Skudder gewesen, hätte er darauf nicht mit einer weiteren ärgerlichen Bemerkung geantwortet. Trotzdem tat er, was sie verlangte, und wälzte sich vorsichtig zur Seite, bis er mit der ausgestreckten Hand etwas ergreifen und sich daran in die Höhe ziehen konnte. Einen Augenblick später half er auch Charity auf die Füße.
Keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht stemmte sich auch Faller in die Höhe, stand einen Moment schwankend da und ließ sich dann mit einem dumpfen Stöhnen auf eine der schmalen Sitzbänke fallen, um den Kopf zwischen den Händen zu verbergen. Er war sehr blaß.
»Haben Sie sich verletzt?« fragte Charity besorgt.
Faller schüttelte den Kopf - was er sichtlich besser nicht getan hätte, denn sein Gesicht verlor noch mehr Farbe, und er stöhnte erneut. Trotzdem murmelte er: »Nein. Ich ... glaube jedenfalls nicht. Aber mein Schädel dröhnt, als hätte ein ganzer Indianerstamm seinen Kriegstanz darauf abgehalten.«
»So falsch liegen Sie damit gar nicht«, antwortete Charity und grinste Skudder schief an. Dann wandte sie sich um und ging ins Cockpit des Schneemobils, wobei sie die Arme weit ausstreckte, um auf dem wankenden Boden das Gleichgewicht zu halten.
Leßter und Phillipsen saßen nebeneinander hinter den Kontrollen des Mehrzweckfahrzeuges. Keiner von ihnen blickte auch nur auf, als sie die winzige Kabine betrat. Leßter umklammerte mit beiden Händen den Steuerknüppel und jagte das Schneemobil mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch ein schmales Tal aus Eis und trügerisch eben aussehenden Schneeflächen, unter denen sich alles Mögliche verbergen konnte, während Phillipsen mit gebanntem Gesichtsausdruck auf das Sammelsurium von Instrumenten und Minidisplays starrte, das das halbrunde Pult vor ihm bedeckte.
»Alles in Ordnung?« fragte Charity.
»Bis jetzt ja«, knurrte Phillipsen. »Wenn sie uns nicht verfolgen, sind wir in zwei Minuten außer Schußweite. Wenn die Kiste das so lange aushält.«
»Wird sie«, warf Leßter ein und gab noch mehr Gas. Unter den wirbelnden Ketten stoben zehn Meter hohe Schneefontänen in die Höhe, und die Wände des Eiskanals schienen ihnen regelrecht entgegenzuspringen. Charity suchte instinktiv mit der Hand an der Rückenlehne des Pilotensitzes Halt.
»Wo zum Teufel haben Sie so fahren gelernt?« fragte sie. »Auf der Geisterbahn?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Leßter in einem Ton, der es ihr unmöglich machte zu entscheiden, ob er das ernst meinte oder nicht. »Ich bin begeisterter Video-Spieler. Das übt ungemein. Die Kiste hier zu fahren, ist nichts gegen eine Runde INTERCEPTOR oder RETALIATOR. Sie sollten es mal versuchen.«
Charity verdrehte mit einem lautlosen Seufzen die Augen und beschloß das einzige zu tun, was ihr im Moment sinnvoll erschien: dieses unfruchtbare Gespräch zu beenden und in den hinteren Teil des Fahrzeuges zurückzugehen. Skudder stand breitbeinig über Faller gebeugt da und tastete mit spitzen Fingern dessen Kopf und die Schläfen ab.
»Alles in Ordnung?« fragte sie.
Skudder nickte und richtete sich auf. »Ich möchte im Moment nicht mit ihm tauschen, aber ich glaube nicht, daß er verletzt ist. Wie sieht es vorne aus?«
Charity zuckte unglücklich mit den Schultern. »Ich denke, wir werden es schaffen.«
Als hätte Leßter diese Worte gehört und reagiere darauf, machte das Fahrzeug in diesem Moment einen Satz und krachte in den Schnee zurück, so daß Charity schon wieder wankte und halb gegen Skudder fiel. Er fing sie auf und hielt ihre Schultern einen Moment länger fest, als eigentlich nötig gewesen wäre.
»Ich weiß, wovon du redest«, sagte er. »Meinst du, daß wir den Angriff der Moroni überleben - oder Leßters Fahrkünste?«
Charity lächelte flüchtig. Skudder wußte so gut wie sie, daß sie dem jungen deutschen Soldaten Unrecht taten. Hartmann hatte gesagt, daß die drei seine besten Männer wären, und er hatte recht damit. Was Leßter und Phillipsen auf dem Weg hierher mit der Transportmaschine gemacht hatten, das grenzte an Zauberei. Aber es änderte nichts daran, daß die beiden vorne im Cockpit sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheiten wie Kinder aufführten. Sie war nicht ganz sicher, ob Leßter nun ein Genie oder einfach ein Trottel war. Wahrscheinlich beides.
»Das war verdammt knapp, weißt du das?« Skudder wurde übergangslos ernst. »Wir können wirklich von Glück sagen, daß diese Maschinen so miserable Schützen sind.«
Charity sah nachdenklich auf den handtellergroßen Brandfleck auf ihrer Montur herunter. Ohne den eingeschalteten Körperschild ihres Kampfanzuges wäre sie jetzt tot. So miserabel schossen die Moroni gar nicht. »Wahrscheinlich sind sie eher Meisterschützen«, antwortete sie.
Skudder sah sie fragend an.
»Nur wahre Meisterschützen treffen so exakt daneben«, führte Charity den Gedanken zu Ende.
In Skudders Augen blitzte es auf. Sein Vorrat an Humor schien heute reichlich begrenzt zu sein. »Ich bin gespannt, ob du auch noch blöde Witze reißt, wenn gleich ein Kampfschiff der Moroni auftaucht und das Feuer auf uns eröffnet«, knurrte er. »Aber wenn du schon so schlau bist - hast du dann vielleicht auch eine Idee, wie wir an diesen schießwütigen Küchenschaben vorbeikommen?«
Nein, die hatte sie nicht. Aber wozu gab es jemanden, der ihnen - fast - alle Fragen beantworten konnte? Statt das kleine Geplänkel mit Skudder weiterzuführen, ließ sie sich auf die ungepolsterte Sitzbank sinken und zog den Kommunikator aus der Tasche. Skudders Gesicht verdüsterte sich, als er sah, wie sie den Code eintastete und darauf wartete, daß der briefmarkengroße Bildschirm aufleuchtete. Aber dann trat er doch mit einem Schritt hinter sie, so daß er über ihre Schulter blicken konnte.
Auf dem winzigen Display fügten sich bunte Farbschleier zu Daniel Stones Gesicht zusammen. »Captain Laird!« sagte die Holographie. »Wie schön, Sie wiederzusehen.« Selbst der erfreute Ton in seiner Stimme klang echt, und Charity mußte sich beherrschen, um nicht so wütend mit dieser Maschine zu sprechen, als hätte sie tatsächlich den lebenden Menschen vor sich, den sie simulierte.
»Wir wären um ein Haar umgebracht worden«, sagte sie.
Stone runzelte für eine halbe Sekunde die Stirn, als überrasche ihn das Gehörte tatsächlich. »Wo sind Sie jetzt?« fragte er dann.
Charity sagte es ihm, und ein leiser Anflug von Bedauern huschte über die dreidimensionale Simulation des Gesichtes von Daniel Stone. »Ja«, sagte er, »damit war zu rechnen. Es gibt automatische Wächter, die an der Grenze der Kältebarriere patrouillieren. Nicht besonders viele, und auch nicht regelmäßig. Wahrscheinlich sind Sie zufällig einer solchen Patrouille über den Weg gelaufen.«
»Und Sie hatten es nicht ebenso zufällig nötig, uns zu warnen?« knurrte Skudder.
Das winzige Gesicht auf dem Bildschirm bewegte sich, um den Blick in die Richtung zu wenden, aus der Skudders Stimme gekommen war. Charity unterdrückte ein Schaudern. Sie hatte gedacht, sich an diese unheimliche Maschine gewöhnen zu können, aber das Gegenteil war der Fall - ihr Anblick erschreckte sie jedes Mal mehr. Das Ding war einfach nicht richtig. Für Charity hatte es etwas Perverses, ein menschliches Wesen so perfekt zu simulieren. Was sie in der Hand hielt, trug nur pro forma die Bezeichnung ›Kommunikator‹. Sie sprach nicht mit Stone, der am anderen Ende einer Funkverbindung saß und antwortete, sondern mit einer Maschine.
»Aber Sie wissen doch, daß ich nur auf direkte Fragen antworten kann, Mister Skudder«, sagte Stone, wobei seine Stimme einen leicht genervten Tonfall annahm. Das habe ich dir schon ein Dutzend Mal erklärt, du Trottel, fügte sein Blick hinzu.
»Okay«, sagte Charity hastig, als sie sah, wie sich Skudders Augenbrauen zusammenzogen. »Gibt es sonst noch etwas, was wir zu fragen vergessen haben?«
»Oh, sicher«, antwortete Stone. »Eine Menge. Bitte, fragen Sie nur.«
Täuschte sie sich, oder sah sie so etwas wie ein spöttisches Funkeln in den Augen des simulierten Gesichts? Plötzlich spürte auch sie Zorn. Ihre Finger schlossen sich so fest um den kleinen Kommunikator, daß das Kunststoffgehäuse knirschte.
»Bitte, seien Sie vorsichtig mit dem Gerät, Captain Laird«, sagte Stone. »Es ist sehr wertvoll.«
»Hören Sie mit dem Blödsinn auf, Stone«, sagte Charity verärgert, lockerte ihren Griff aber auch wieder. »Also - wie zum Teufel kommen wir an diesen Maschinen vorbei?«
»Das ist kein Problem«, antwortete Stone. »Sie sind darauf programmiert, jeden Eindringling zu vernichten oder zu vertreiben. Sobald Sie aus der Reichweite ihrer Sensoren gelangen, werden sie weitermarschieren. Wie gesagt - die Chance, daß Sie auf eine zweite Patrouille stoßen, ist äußerst gering.«
»Na wunderbar«, sagte Skudder. »Dann können wir ja einfach so in die Stadt hineinmarschieren.«
»So einfach wird es leider nicht sein«, antwortete Stones Gesicht bekümmert. »Ich schließe anhand der Außengeräusche, daß sie sich an Bord eines Fahrzeuges befinden.«
»Das ist richtig«, antwortete Charity. »Warum?«
»Captain Laird, New York City ist das Hauptquartier der Besatzungstruppen«, antwortete Stone tadelnd. »Denken sie wirklich, daß sie so einfach mit einem Fahrzeug in die Stadt hineingelangen können? Es gibt einen zweiten Sperrgürtel, zwanzig Meilen nördlich Ihres Standortes. Und die Maschinen dort schießen auf alles, was sich bewegt.«
»Aber es gibt einen Weg, hindurch zu kommen?«
»Natürlich.«
»Und wie?« blaffte Skudder. »Verdammt, rede, oder ich baue dich zu einem Transistorradio um!«
Stone schüttelte den Kopf. »Mister Skudder, ich bitte Sie! Ich kann Ihnen den offiziellen Zugang zur Stadt nicht verraten. Vergessen Sie nicht, daß ich scheinbar zur Gegenseite gehöre. Und ohne an Ihren sicherlich vorhandenen Fähigkeiten zweifeln zu wollen - es besteht die nicht geringe Chance, daß Sie gefaßt werden. Was, glauben Sie, würden meine Freunde aus der Galaxis sagen, wenn sie herausbekämen, wie Sie in die Stadt gekommen sind?«
»Sie werden überhaupt nichts sagen, weil wir die Stadt nicht betreten«, antwortete Skudder wütend. »Wir brechen das Unternehmen ab!«
»Das bezweifle ich«, sagte Stone gelassen. »Sie wollen doch diesen albernen Zwerg wiedersehen, der sich in meiner Gewalt befindet, oder etwa nicht? Ganz davon zu schweigen, was sie noch in New York zu finden hoffen.«
Ehe die Situation völlig entgleisen und sich Skudder in einen Streit mit einem Computer verwickeln konnte, schaltete Charity das Gerät ab und steckte es weg.
»Er hat recht, Skudder«, sagte sie. »Im Moment ist er unser einziger Verbündeter.« Sie hob die Stimme ein wenig, als Skudder widersprechen wollte. »Ich kann ihn ebensowenig ausstehen wie du. Und ich traue ihm genausowenig wie du. Aber wenn er uns hätte umbringen wollen, dann hätte er das in Köln gekonnt ohne die geringste Gefahr für sich selbst. Wir müssen ihm vertrauen. Und solange die Moroni nicht wissen, daß er ein doppeltes Spiel spielt, ist er sehr wertvoll für uns.«
»Genau das ist das Wort, nach dem ich gesucht habe«, knurrte Skudder. »Spiel. Der Kerl macht sich einen Spaß mit uns. Wahrscheinlich sitzt er in seinem Rattenbau in New York und lacht sich gerade halb tot.«
»Nein«, antwortete Charity ernst. »Das tut er nicht.«
Ihre Gedanken kehrten zurück zu jenem Tag vor mittlerweile fast drei Monaten, an dem sie Stone das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten nur wenige Sätze miteinander gewechselt, und Stone war überheblich und zynisch wie immer gewesen. Aber sie hatte auch die Angst in seinem Blick gesehen. Irgend etwas war geschehen, das ihn vor Angst fast um den Verstand brachte. Stone log nicht. Er hatte ihnen den Weg gezeigt, die außerirdischen Invasoren zu schlagen, und sie war sicher, daß er sehr, sehr gute Gründe dafür hatte.
Einen Teil der Geschichte hatten sie bereits gekannt - den weniger angenehmen, um genau zu sein. Um ganz genau zu sein, den, aus dem hervorging, was passieren würde, wenn es ihnen gegen jede Logik doch gelang, die Invasoren zu besiegen.
Es wäre unwahrscheinlich, aber nicht das erste Mal. Moron hatte Tausende von Welten versklavt, auf seinem Raubzug durch die Galaxis, und es hatte ein paar gegeben, an dem sich die Insektenkrieger von den Sternen die Zähne ausgebissen hatten. Gurks Heimatwelt gehörte dazu. Oder hatte dazugehört, um präzise zu sein. Gurks Volk hatte den Invasoren erbitterten Widerstand geleistet und sie am Ende geschlagen, und jetzt bestand sein Volk nur noch aus ihm und vielleicht hundert anderen Überlebenden, die auf ebenso viele Welten der Galaxis verstreut waren, und seine Heimatwelt umkreiste als ausgeglühter Schlackeball das, was von seiner Sonne übrig war, nachdem die Moroni sie zur Nova hatten werden lassen.
Was hatte sie erwartet? dachte sie bitter. Daß die Invasoren sich entschuldigen und diskret wieder abzogen, nachdem sie hinter sich aufgeräumt hatten? Ganz bestimmt nicht. Moron, diese gesichtslose Macht von den Sternen, die die halbe Galaxis erobert hatte und zweifellos auch noch die andere Hälfte kassieren würde, hielt nichts von Diplomatie oder feinen Umgangsformen. Was sie nicht haben konnten, zerstörten sie. So einfach war das.
Aber das war nur die Hälfte der Geschichte gewesen, die Stone ihr in diesen wenigen Minuten erzählt hatte. Die andere Hälfte war, daß es jetzt auch in ihrem System eine Bombe gab, die nur darauf wartete, gezündet zu werden und die ganze Sonne in eine Fackel zu verwandeln. Und Stone hatte ihnen sowohl verraten, wo sie war, als auch, wie sie sie zerstören konnte. Sie verstand immer noch nicht, warum er es getan hatte, aber sie zweifelte keine Sekunde lang daran, daß er die Wahrheit sprach.
Sie verscheuchte den Gedanken, stand auf, warf Skudder einen letzten, beinahe resignierenden Blick zu und ging abermals nach vorne ins Cockpit. Das Fahrzeug hatte den Eiskanal verlassen und rollte jetzt wieder über die sanft gewellte Schnee- und Matschebene, die den äußeren Rand der Kältebarriere bildete. Die roten Lichter auf dem Pult vor Phillipsen hatten aufgehört zu blinken. Offensichtlich hatten die Sensoren der Robotwächter das Fahrzeug endgültig verloren.
»Halten Sie an«, sagte sie.
Leßter ließ das Fahrzeug ausrollen, und er schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er drehte den Panzer auf der Stelle, so daß sich sein Bug wieder nach Norden wandte, ehe er den Motor ausschaltete.
Der Anblick ließ Charity schaudern - obwohl es im Grunde gar nichts zu sehen gab. Vor ihnen erstreckte sich auf anderthalb Meilen ein Flickenteppich aus Braun und Weiß, wobei das Weiß mit zunehmender Entfernung immer mehr wurde, und alles, was dahinter lag, war im Schneegestöber des nie endenden Hurrikans verborgen, der die eigentliche Grenze des Kälteschirmes markierte. In dem Augenblick, bevor sie ins Feuer der Wachroboter gelaufen waren, hatte sie auf das Außenthermometer ihres Anzugs geblickt. Dort drüben herrschten vier Grad unter Null. Und die Temperaturen würden mit jedem Schritt fallen, den sie sich weiter nach Norden bewegten. Zwanzig Meilen nördlich von New York - und das im August!
Nein, es war nicht das, was sie sah, was sie so sehr erschreckte. Es war das, was sie eben nicht sah.
New York.
Die Türme von Manhattan.
Verschwunden. Selbst wenn es den Schneesturm nicht gegeben hätte, hätte sie sie nicht sehen können, denn sie waren hinter einem Schutzwall verborgen, der vielleicht undurchdringlicher als jeder Energieschirm, jedes noch so perfekte Erzeugnis irgendeiner Science-Fiction-Technik von den Sternen sein mochte. Die Technik der Moroni war der der Menschen auf einigen wenigen Gebieten um Jahrhunderttausende voraus, aber auf den meisten allenfalls ebenbürtig, und auf nicht wenigen sogar unterlegen. Aber sie arbeiteten nach einem Prinzip, das auch auf der Erde wohlbekannt war und nur zu oft funktioniert hatte: Sie ersetzten Klasse durch Masse. Die Moroni waren viele, unvorstellbar viele. Und sie verfügten über etwas, das zu guter Letzt jede technologische Überlegenheit wettmachen mußte: über einen im wahrsten Sinne des Wortes unbegrenzten Nachschub. Problem Nummer zwei auf ihrer Liste. Sie würden sich ihm zuwenden, wenn sie Problem Nummer eins gelöst hatten und dann noch lebten. Das hieß, verbesserte sie sich in Gedanken selbst, eigentlich Problem Nummer eins-A. Problem Nummer eins war:
»Hat jemand eine gute Idee, wie wir in diese Scheiß-Stadt hineinkommen?« fragte sie laut.
Die drei jungen Soldaten und Skudder hatten sogar jede Menge Ideen, und einige davon waren durchaus originell.
Aber das war auch schon alles.