Die Gleiter hatten schließlich doch das Feuer auf den Läufer eröffnet. Obwohl der Selbstverteidigungsmechanismus der Maschine zurückschlug, wurde der Widerstand immer verbissener, der sich ihm entgegenstemmte. Hinzu kam eine ganze Armee kleiner bewaffneter Bodenfahrzeuge - und buchstäblich Tausende von Ameisen, die aus dem Dschungel und den Ruinen hervorbrachen und die riesige, dahinstampfende Maschine zu entern versuchten. Leßter hatte - mit Ausnahme der stählernen Käferflügel, die die Hallendecke bildeten - sämtliche Ein- und Ausgänge des Läufers versiegelt, aber Charity sah auf einigen der Außenkameras, daß die Ameisen geschickt und scheinbar mühelos an den riesigen stählernen Beinen des Ungetüms emporkletterten. Nicht wenige von ihnen wurden von den Strahlenschüssen ihrer eigenen Gleiter getroffen, die den riesigen Roboter noch immer beschossen, aber ihre Zahl wuchs unaufhörlich. Charity schätzte, daß nur noch Minuten vergehen konnten, bis die ersten von ihnen durch die offenstehende Decke der Fabrikhalle hereingeströmt kamen.
Der Läufer zitterte jetzt immer stärker. Manchmal erschütterten schwere Explosionen die riesige Konstruktion, und sein eigenes Abwehrfeuer wurde schwächer, denn die angreifenden Gleiter konzentrierten sich jetzt auf die Geschütztürme des Läufers. Und auch aus den Bodenfahrzeugen stießen immer wieder grelle, weiße Lichtblitze in die Höhe und brannten rauchende Löcher in die Flanke des stampfenden Riesenroboters. Offensichtlich waren die Moroni entschlossen, den Läufer lieber in Stücke zu schießen, ehe sie es zuließen, daß er die Stadt erreichte.
»Wir sollten allmählich hier verschwinden«, sagte Skudder. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen der Schirme, auf dem eine Anzahl winziger schwarzer Gestalten zu erkennen war, die mit emsig wirbelnden Gliedern über die Flanke des Läufers krochen und sich seinem Rücken näherten. »Sie kommen garantiert als erstes hierher.«
»Sie haben recht«, sagte Leßter. »Öffnen Sie die Tür.«
»Und Sie?«
»Ich begleite Sie«, antwortete Leßter. »Aber vorher bereite ich eine kleine Überraschung für unsere Freunde vor.« Seine Finger huschten über die Schalter, drückten Tasten, legten Hebel um und hackten Zahlenkombinationen in die Tastatur fremdartig beschrifteter Computer. Dann trat er einen Schritt zurück, überzeugte sich mit einem langen, prüfenden Blick davon, daß er alles richtig gemacht hatte - und zog plötzlich die Strahlenpistole aus dem Gürtel, um rasch hintereinander zwei Schüsse auf das Pult abzugeben. In einem grellen Funkenschauer explodierten die meisten der empfindlichen Geräte. Geschmolzenes Metall lief zischend zu Boden, und kleine, orange-rote Flammen begannen aus dem Pult zu züngeln. Der sechseckige Riesenschirm an der Wand flackerte, wurde grau und erlosch dann ganz.
»Was haben Sie getan?« stieß Skudder erschrocken hervor.
Leßter drehte sich zu ihm herum und grinste. »Jetzt wird es ihnen eine Menge Kopfzerbrechen bereiten, dieses Ding aufzuhalten«, sagte er. »Ein Techniker könnte es wahrscheinlich - aber das da draußen sind Soldaten, und denen bereitet es schon Mühe, einen Schlüssel richtig herum ins Schloß zu stecken.« Er deutete auf die Tür. »Schweißen Sie sie auf.«
Skudder sah ihn noch einen Moment zweifelnd an, aber dann hob er seine Waffe und ließ einen bleistiftdünnen, weißen Energiestrahl über die Stelle gleiten, an der sie die Eisenplatte vor die Tür geschweißt hatten. Das zermürbte Metall gab schon nach Sekunden nach und fiel polternd nach draußen.
Hintereinander verließen sie die Steuerzentrale. Der Anblick draußen auf dem Gang hatte sich nicht verändert. Es war wärmer geworden, aber das graubraune Metall war noch immer unter einem dicken Panzer aus Eis verborgen. Es würde noch Stunden, wenn nicht Tage dauern, bis die grausame Kälte, die sie aus dem Sperrgürtel mitgebracht hatten, wich.
Charity wollte sich nach rechts wenden, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, aber Leßter schüttelte hastig den Kopf und deutete zur anderen Seite. Wortlos folgten sie ihm.
Das dumpfe Krachen und Donnern der Explosionen hielt an, und rings um sie herum wankte die riesige Maschine immer stärker, während sie Leßter durch ein Labyrinth von Gängen und schmalen, gewendelten Eisentreppen folgten. Einmal glaubte Charity eine Bewegung zu sehen, aber sie waren zu schnell vorbei, als daß sie sicher sein konnte, und kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, erschütterte eine gewaltige Explosion den Läufer und warf ihn fast um. Der Ruck, mit dem er wieder in die Waagerechte kippte und in den Rhythmus seiner stampfenden Beine zurückfand, riß sie allesamt von den Füßen und warf sie durcheinander.
»Ich glaube, sie machen allmählich ernst«, sagte Skudder, während er sich umständlich wieder in die Höhe stemmte. »Noch ein paar solcher Treffer, und das ganze verdammte Ding fällt auseinander.«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Leßter. Er deutete auf eine Tür am Ende des Korridors, vor der ein formloses Etwas hockte, zum Teil aus Metall, zum Teil aus wildwuchernden Eisgewächsen bestehend, die sein mechanisches Leben erstickt hatten. »Schnell!«
Sie folgten ihm. Die Tür klemmte. Der Mechanismus war eingefroren, so daß Skudder mit einem kurzen Feuerstoß aus seiner Waffe nachhelfen mußte, aber danach war das Metall verzogen, so daß sie sich nur einen Spaltbreit öffnete, gerade weit genug, daß sie sich hindurchzwängen konnten.
Dahinter lag ein halbrunder, flacher Hangar, in dem ein gutes Dutzend bizarr geformter Fahrzeuge stand. Die meisten von ihnen waren zu klein, um mehr als einer Person Platz zu bieten, und wie das gesamte Innere des Läufers in einen Panzer aus gesprungenem milchigem Eis eingeschlossen. Leßter deutete auf einen der wenigen größeren Umrisse und lief los, ohne auf sie zu warten. Erst als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatten, erkannte Charity die Form unter dem Gebirge aus Eis, das sich darüber aufgetürmt hatte. Das Fahrzeug ähnelte einem nach vorn flacher werdenden Keil und hatte drei kurze Stummelflügel, die einer total irrsinnigen Geometrie folgend an den Rumpf angeschweißt waren. Der Position des einzigen Fensters nach zu schließen mußte es so gut wie unmöglich sein, darin zu sitzen.
Leßter zerrte vergebens an der Tür. Sie war zugefroren, und sie rührte sich auch nicht, als Skudder die Eisschicht über dem Fahrzeug mit einem breitgefächerten Schuß aus seiner Waffe verdampfen ließ. Leßter fluchte, zerrte sich die Handschuhe herunter und fluchte erneut, als er sich die Finger an dem plötzlich glühendheißen Metall des Fahrzeuges verbrannte. Aber nach einigen Augenblicken erscholl ein wimmerndes Geräusch aus dem Inneren, und die Tür begann sich widerwillig und knirschend zu öffnen.
Der Raum dahinter war groß genug für vier oder fünf Personen, aber so flach, daß sie nebeneinander liegen mußten, und die Liegen waren nicht für menschliche, sondern für die Gestalten der riesigen Ameisenkrieger geschaffen. Charity blickte entgeistert auf das Durcheinander fremdartiger Kontrollinstrumente und anzeigen herab. Aber Leßter gab ihr auch jetzt keine Gelegenheit, irgendeine Frage zu stellen, sondern drängte Skudder und sie vor sich her durch die niedrige Tür und kroch als letzter auf Händen und Knien in das Fahrzeug hinein. Noch bevor sich der Eingang zu schließen begann, flogen seine Finger über die Tasten und Schalter, und das Steuerpult des Flugzeuges begann zu blinkendem Leben zu erwachen. Gleichzeitig fauchte ein warmer Luftstrom aus den Schlitzen der Klimaanlage.
»Sie werden uns eine Menge Fragen beantworten müssen, Leßter, wenn wir hier herauskommen«, knurrte Skudder drohend.
»Das werde ich«, antwortete Leßter. »Wenn wir hier herauskommen.«
Unter ihnen begann das Triebwerk des Flugzeuges mit einem Geräusch wie dem Pochen eines mechanischen Herzens anzulaufen, und gleichzeitig verschwand auch der letzte Rest von Eis von dem Fenster vor ihnen. Eine Anzahl starker Scheinwerfer flammte auf und schnitt Bahnen aus ungewohnt greller Helligkeit in den Hangar. Charity blinzelte, als Leßter eine weitere Taste auf seinem Pult drückte und sich das große Tor am entgegengesetzten Ende des Raumes knirschend zu öffnen begann.
Das Triebwerk stotterte ein paarmal, fand dann aber in seinen Rhythmus und lief gleichmäßig. Die Tore glitten weiter auf, und jetzt konnten sie sehen, daß der Himmel draußen noch immer voller Gleiter war. Ab und zu blitzte es grell zwischen ihnen auf, und der Läufer erbebte wieder unter einem Einschlag. Charity verstand allmählich nicht mehr, wieso sich die Maschine noch bewegte. Der Läufer war ein unvorstellbarer Koloß, aber die Moroni überschütteten ihn auch mit einem unvorstellbaren Feuer. Die Energien, die sie in den riesigen Stahlkörper pumpten, hätten ausgereicht, einen Flugzeugträger verdampfen zu lassen.
»Worauf warten Sie?« fragte sie nervös.
Leßter sah sie flüchtig an, machte aber keine Anstalten, das Fahrzeug zu starten. »Wollen Sie abgeschossen werden?« fragte er statt dessen.
Wieder tat er irgend etwas an den Kontrollen, das Charity nicht verstand, aber einen Augenblick später sah sie, wie plötzlich überall im Hangar Lichter im Inneren der Fahrzeuge aufglommen. In das Dröhnen des Triebwerkes mischten sich die Geräusche anderer anspringender Motoren.
Plötzlich sah Charity eine schwarze Gestalt unter den offenstehenden Toren. Ein zweiter, spinnengliedriger Schatten erschien neben der ersten Ameise, dann ein dritter und vierter, und schließlich strömten mehr und mehr der zwei Meter großen Insektenkrieger herein.
»Starten Sie!« rief Skudder erschrocken.
Leßter nickte, startete das Fahrzeug aber trotzdem nicht, sondern hämmerte verbissen weiter auf den Kontrollen vor sich herum. Und plötzlich brüllten die Triebwerke eines der anderen Flugzeuge vor ihnen auf. Mit einem Satz schoß das silberfarbene Dreieck los, schüttelte den Rest seines Eispanzers ab und raste aus dem Tor, wobei es eine Spur aus sterbenden und verletzten Moroni hinterließ. Die überlebenden Ameisen suchten hastig Schutz hinter den geparkten Fahrzeugen, aber das war vielleicht nicht besonders klug - eines nach dem anderen lösten sich die Flugzeuge aus ihren eisigen Fesseln und rasten mit aufheulenden Triebwerken aus dem Hangar heraus. Charity sah, wie es draußen am Himmel wieder grell aufblitzte, und eines der pfeilflügeligen Fahrzeuge explodierte in einer grellen Feuerwolke, kaum daß es den Hangar verlassen hatte.
»Jetzt!« schrie Leßter. »Festhalten!«
Es gab kein allmähliches Beschleunigen, nur einen plötzlichen ungeheuer harten Ruck, mit dem der Jäger wie aus einem Katapult geschnellt aus dem Hangar heraussprang und im Bruchteil von Sekunden auf zwei- oder dreihundert Meilen Geschwindigkeit beschleunigte.
Charity schrie auf und versuchte, sich irgendwo festzuklammern, aber sie wurde mit solcher Macht in die fremdartig geformten Polster gepreßt, daß ihr die Luft wegblieb. Ein greller Energiestrahl stach nach ihnen, verfehlte sie und ließ eines der anderen Fahrzeuge unmittelbar neben ihnen explodieren. Leßter riß den Jäger in einer engen Kurve herum, und ein weiteres Flugzeug explodierte in der Luft, als die Gleiter hoch über ihnen ihr Feuer auf die kleine Flotte konzentrierten, die aus dem Läufer herausgebrochen war. Der Boden schien ihnen regelrecht entgegenzuspringen, als Leßter die Nase des Jägers senkte und noch stärker beschleunigte. Charity schrie abermals auf, aber der junge Soldat riß das Fahrzeug im allerletzten Moment wieder hoch, ließ es in einem irrsinnigen Zickzack von rechts nach links und wieder zurückspringen und stieg dann ein Stück weit fast senkrecht in die Höhe, um sofort wieder in den Sturzflug überzugehen. Er entging dem wütenden Laserfeuer der Gleiter auf diese Weise eine Weile. Aber nicht auf Dauer.
Die Türme Manhattans waren scheinbar zum Greifen nah gekommen, seit sie die Zentrale des Läufers verlassen hatten. Vor ihnen lagen nur noch zwei oder drei Meilen von Unkraut und Dschungel überwucherten Trümmergeländes, das an den Hudson River grenzte. Die Stadt dahinter schien völlig unbeschädigt zu sein.
Sie wurden getroffen, als sie sich dem Fluß näherten. Leßter hatte stark abgebremst und suchte offensichtlich nach einem Landeplatz am Ufer. Das Fahrzeug tanzte noch immer in irrsinnigen, völlig willkürlichen Sprüngen hin und her, aber offensichtlich reichten diese Bewegungen nicht mehr, die Zielcomputer der Moronigleiter zu irritieren. Charity schloß stöhnend die Augen, als eine Flut unerträglich grellen weißen Lichtes durch das Fenster hereinbrach, und im gleichen Sekundenbruchteil spürte sie einen Hauch mörderischer Hitze, und irgend etwas im Heck des Fahrzeuges explodierte. Der Jäger bäumte sich auf, schoß sich ununterbrochen überschlagend und drehend noch einmal ein Stück weit in die Höhe und begann dann zu stürzen.
Alles ging so schnell, daß keiner von ihnen wirklich begriff, was wirklich geschah, oder die Dinge hinterher in der richtigen Reihenfolge hätte benennen können. Ein blutrotes, ungeheuer heißes Licht überflutete das Innere des Jägers. Leßters Faust hämmerte auf eine dreieckige gelbe Taste auf dem Pult vor ihm, und plötzlich flog das gesamte Oberteil des Jägers in Stücke gesprengt in alle Richtungen davon, und Charity, Skudder und Leßter wurden aus der abstürzenden Maschine herausgeschleudert.
Sie begann wie ein Stein in die Tiefe zu stürzen, aber der tödliche Aufprall, auf den sie mit angehaltenem Atem wartete, kam nicht. Im letzten Moment schien etwas wie eine unsichtbare Hand nach ihr zu greifen und machte ein fast sanftes Gleiten aus ihrem Sturz. Unweit des nördlichen Ufers des Hudson fiel sie ins Wasser, tauchte für einen Moment unter und kam keuchend und heftig mit Armen und Beinen paddelnd wieder in die Höhe. Leßter und der Hopi fielen nur wenige Meter entfernt von ihr vom Himmel, ebenso sanft wie sie, von der gleichen, unsichtbaren Kraft beschützt, die wohl das Moroni-Äquivalent eines Schleudersitzes gewesen war.
Nach der tödlichen Kälte, die sie aus dem Inneren des Läufers mitgebracht hatte, kam ihr das Wasser beinahe heiß vor. Für einige Sekunden tat sie nichts anderes, als das Gefühl der Wärme auf der Haut zu genießen, aber dann erinnerte sie sich wieder daran, daß sie keineswegs außer Gefahr waren. Ihr Flugzeug war irgendwo weit entfernt in den Fluß gestürzt und explodiert, aber sie mußten damit rechnen, daß die Moroni ihren Absprung beobachtet hatten und kamen, um nachzuholen, was ihnen im ersten Anlauf mißlungen war.
Sie verständigte sich mit knappen Gesten mit Skudder und begann mit kräftigen Kraulbewegungen auf das Ufer loszuschwimmen.
Der Weg war weiter, als sie im ersten Moment geglaubt hatte. Es waren nur einige hundert Meter, aber sie war völlig erschöpft, und in ihrem gemarterten Körper waren einfach keine Kraftreserven mehr, die sie noch anzapfen konnte. Vielleicht hätte sie es gar nicht geschafft, wäre nicht plötzlich (was sonst?) Leßter neben ihr erschienen und hätte sie gestützt. Trotzdem war sie so erschöpft, daß sie sich am Rande einer Bewußtlosigkeit bewegte, als sie endlich das Ufer erreichten und unter ihren Füßen wieder fester Boden war. Keuchend richtete sie sich auf, watete die letzten Meter durch das Wasser und fiel zu Boden, noch ehe sie das Ufer völlig erreicht hatte. Leßter griff unter ihre Schultern und zerrte sie ganz auf die gemauerte Uferbefestigung hinauf, und sie registrierte nur noch wie durch einen immer dichter werdenden grauen Nebel, wie Skudder dicht neben ihnen auf Händen und Knien ans Ufer kroch und dann ebenfalls zusammenbrach.
Aber sie konnten sich keine Bewußtlosigkeit leisten; nicht einmal die allerkleinste Atempause.
»Wir müssen weg hier«, sagte Leßter. Seine Stimme klang gehetzt, und zum allerersten Mal glaube Charity so etwas wie Angst darin zu hören. »Sie haben uns gesehen. Sie werden garantiert nach uns suchen!«
Mühsam wälzte sie sich herum und versuchte, sich in die Höhe zu stemmen, aber ihre Kräfte reichten nicht mehr. Sie fiel zurück und schlug sich abermals das Gesicht auf.
Eine Hand berührte sie an der Schulter, und plötzlich spürte sie wieder jenen Strom prickelnder, unsichtbarer Energie, der ihren Körper durchflutete und ihr neue Kraft gab. Er war längst nicht mehr so mächtig wie vorhin in der Zentrale des Läufers, aber immer noch stark genug, die Wand der Bewußtlosigkeit zu durchbrechen und ihr die Energie zu geben, sich in die Höhe zu stemmen und aus eigener Kraft stehenzubleiben.
Als sie sich zu Leßter herumdrehte, sah sie, wie er sich zu Skudder herabbeugte und dasselbe mit ihm tat. Aber er zitterte, und sein Gesicht war grau vor Erschöpfung.
Es war absurd - aber der Gedanke, daß sich selbst die Kräfte dieses unheimlichen Mannes allmählich dem Ende zuneigten, erleichterte sie in diesem Moment beinahe. Und plötzlich wußte sie auch, woran Leßter sie erinnerte - oder glaubte zumindest, es zu wissen. Aber der Gedanke war einfach zu absurd, um ihn weiterzuverfolgen. Sie schob ihn von sich, sah sich sichernd nach allen Seiten um und wandte sich nach Süden, um zu dem Läufer hinüberzusehen.
Der Anblick ließ sie schaudern. Die riesige Maschine brannte. Aus Dutzenden von großen, ausgezackten Löchern schlugen Flammen oder ergossen sich Ströme von geschmolzenem Metall wie Lava. Schwarze, fettige Qualmwolken stiegen aus seinem offenstehenden Rückenpanzer, und eine Spur brennender, rotglühender Trümmerstücke markierte den Weg, den er gekommen war. Eines seiner riesigen Beine war abgebrochen, so daß sein Gehen zu einem torkelnden Hin und Her geworden war, und noch immer überschütteten die Gleiter und die Bodenfahrzeuge die gigantische Maschine mit Lasersalven und ganzen Schwärmen kleiner Raketengeschosse, die beim Aufprall explodierten und weitere Löcher in seine Panzerhaut rissen.
Aber er marschierte weiter. Jeder Schritt brachte ihn hundert Meter weiter an den Hudson River heran, jede taumelnde Bewegung der Stadt und ihren verwundbaren Wolkenkratzer näher. Charity fragte sich entsetzt, was geschehen würde, wenn dieser Maschinenkoloß in die Häuserfront hineinrannte.
Die Moroni fragten sich offensichtlich dasselbe, denn sie konzentrierten ihr Feuer jetzt ganz auf die riesigen Stahlbeine des Läufers. Ein zweites Bein glühte auf und zerbrach unter dem Gewicht von hunderttausend Tonnen Stahl, und eine weitere Folge schwerer Explosionen erschütterte die wandernde Fabrik. Flammen und Rauch hüllten den Koloß ein, und rotglühendes Metall lief wie brennendes Blut an seinem Leib herab. Aber er stampfte weiter, wie eine bizarre Karikatur eines Apokalyptischen Reiters, selbst schon tot, aber unentwegt Tod und Vernichtung verbreitend und unaufhaltsam. Noch zwei oder drei Schritte, und er mußte die Brücke und den Fluß erreicht haben, der für ihn kein nennenswertes Hindernis darstellte.
Eine Berührung an der Schulter riß Charity in die Wirklichkeit zurück. Es war Leßter. Er deutete heftig gestikulierend auf einen Punkt hinter ihr. »Sie kommen!« rief er.
Charity fuhr herum und gewahrte tatsächlich eine Anzahl schwarzer, spinnengliedriger Gestalten, die mit abgehackten, eckigen Bewegungen auf sie zurannten. Sie wollte nach ihrer Waffe greifen, aber Leßter schüttelte den Kopf und versetzte ihr einen sanften Stoß, der sie vorwärtstaumeln ließ.
Hinter ihnen erscholl ein schriller Pfiff, dann stieß ein Lichtblitz in ihre Richtung, verfehlte sie aber und explodierte harmlos weit entfernt am Boden. Ein zweiter Energiestrahl verfehlte sie noch weiter, und bevor die Moroni Gelegenheit fanden, sich einzuschießen, hatten sie eines der heruntergekommenen Gebäude am Flußufer erreicht und waren für Sekunden in Sicherheit.
Charity sah sich wild um. Sie befanden sich in einer alten Lagerhalle, deren Dach zum Teil eingestürzt war, so daß das rostige Metallgerippe und darüber der strahlendblaue Sommerhimmel sichtbar wurden. Die linke Seite der Halle war leer und nur von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt, in der rechten stapelten sich seit fünfzig Jahren vergessene Kisten und Ballen. Es roch nach Fäulnis und Alter.
Instinktiv wollte sie auf diesen Teil der Halle zulaufen, um in dem Durcheinander aus Kisten und Packstücken Deckung zu suchen, aber wieder riß sie Leßter herum und lief mit weit ausgreifenden Schritten auf die gegenüberliegende Wand zu.
Als sie sie erreichten, stürmten die ersten Moroni durch das Tor und eröffneten das Feuer, und eine halbe Sekunde später war Charity sehr froh, nicht ihrem ersten Impuls gefolgt zu sein, denn die uralten Holzkisten fingen mit einem einzigen gewaltigen Schlag Feuer; binnen weniger Sekunden verwandelte sich die rechte Seite der riesigen Halle in einen lodernden Scheiterhaufen, als die Flammen rasend schnell um sich griffen.
Sie rannten durch eine kleine Tür an der Rückseite des Gebäudes, waren für einen Moment wieder unter freiem Himmel und stürmten dann in eine weitere Lagerhalle hinein. Auch sie war alt und zum Teil zerstört, aber völlig ausgeräumt.
Offensichtlich hatten die Waren, die sie enthielt, das Interesse der Invasoren gefunden.
Hinter ihnen erscholl ein Chor schriller Pfiffe und Klicklaute, und plötzlich glühte ein Teil der Wand hinter Skudder dunkelrot auf, und eine intensive Hitzewelle streifte ihre Gesichter, als die Ameisen das Feuer auf das Gebäude eröffneten.
Sie liefen weiter, und sie fanden auch eine weitere Tür, durch die sie die Halle wieder verlassen konnten, aber die Moroni konnten einfach schneller laufen als ein Mensch. Die ersten Ameisenkrieger stürmten in die Halle, als sie noch zwanzig oder dreißig Schritte von der Tür entfernt waren, und plötzlich schössen rechts und links von ihnen weiß-glühende Geysire aus geschmolzenem Beton in die Höhe, als die Moroni das Feuer auf sie eröffneten.
Charity warf sich in einer verzweifelten Bewegung nach links, rollte über die Schulter ab und schoß, ohne lange zu zielen. Der Laserstrahl verfehlte die Ameise, auf die sie angelegt hatte, aber er traf die Tür hinter ihr, und die Insektenkreatur ging mit einem Schmerzlaut zu Boden, als ein Hagel geschmolzener Metalltropfen sie überschüttete. Auch Skudder und Leßter erwiderten das Feuer der Angreifer, und zumindest einer von ihnen schoß mit der Präzision einer Maschine - die grellen Lichtblitze zuckten genau im Abstand einer halben Sekunde nacheinander auf, und jeder einzelne traf sein Ziel. Von dem halben Dutzend Ameisen, das ihnen gefolgt war, überlebte keine einzige.
Charity stemmte sich in die Höhe und war nicht sonderlich überrascht, als sie sah, daß es Leßter gewesen war, der die Moroni fast ganz allein erledigt hatte. Auch Skudder starrte den Soldaten an, und der Ausdruck auf seinem Gesicht schwankte zwischen Verblüffung und Schrecken. Aber wieder bekam keiner von ihnen eine Gelegenheit, auch nur eine Frage zu stellen, denn Leßter gestikulierte ungeduldig mit der freien Hand und sagte: »Schnell! Ich bin sicher, es kommen noch mehr.«
Und damit hatte er nur zu recht. Es gelang ihnen, die Halle und auch den größten Teil des Hafenviertels unbehelligt hinter sich zu bringen, aber es war nur eine winzige Atempause, die ihnen gegönnt wurde. Auf der anderen Seite des Hudson River schlugen noch immer turmhohe Flammen in den Himmel, und fettiger, schwarzer Qualm verdunkelte ein Drittel des Horizonts. Eine ununterbrochene Folge schwerer, krachender Explosionen rollte über die Stadt, und ganze Schwärme von Gleitern schössen über den Himmel und spieen grellweißes Feuer über ein Ziel, das Charity nicht mehr sehen konnte. Aber sie wußte, daß es ihnen irgendwie gelungen war, den Läufer aufzuhalten. Das Ziel, auf das die Gleiter schössen, bewegte sich nicht mehr.
Aus einem Grund, den sie im ersten Moment selbst nicht wirklich verstand, war sie erleichtert. Zwar hätten sie sich im Grunde nichts besseres wünschen können, als daß es der gigantischen Maschine gelang, den Fluß zu überwinden und in die Stadt einzudringen, denn das hätte die Insektenkrieger nachhaltig davon abgehalten, Jagd auf sie zu machen. Und trotzdem wäre ihr die Vorstellung unerträglich gewesen.
Diese Stadt mochte jetzt zu einer Festung der Außerirdischen geworden sein. Sie hatten sie erobert, bis auf den letzten Winkel, und zweifellos jedes menschliche Wesen daraus vertrieben. Aber es blieb eine menschliche Stadt. New York - und vor allem Manhattan - war stets mehr als eine Stadt gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte dieser Name allein für alles gestanden, wofür Menschen je gekämpft hatten: Freiheit, Frieden und Gleichheit. Und auch wenn diese Ideale hier vielleicht weniger als an vielen anderen Orten auf der Welt verwirklicht worden waren, wäre es Charity unerträglich gewesen, die Skyline Manhattans von einem fünfhundert Meter großen Käfer aus Metall verwüstet zu sehen.
Die Kehrseite der Medaille war, daß nun auch über dem Hafenviertel mehr und mehr Gleiter auftauchten. Sie flogen sehr tief und zu langsam, als das Charity sich überzeugend einreden konnte, daß sie irgend etwas anderes taten als nach ihnen zu suchen. Und durch das unablässige Donnern der Explosionen und das Heulen der Gleiter hindurch hörte sie jetzt immer öfter die charakteristischen Pfiffe und schrillen Schreie, mit denen sich die Insektenkrieger von den Sternen verständigten. Zwar sahen sie keine der schwarzen Ameisengestalten, aber Charity spürte einfach, daß sich der Ring um sie herum enger zusammenzog.
Leßter blieb plötzlich stehen und hob die Hand. »Da ist etwas!« sagte er.
Auch Charity und Skudder erstarrten mitten im Schritt und lauschten, hörten aber nichts. Aber Leßter ging nicht weiter, sondern begann plötzlich heftiger mit dem Arm zu gestikulieren und deutete auf die Tür eines halbverfallenen Gebäudes zur Rechten. »Dort hinein! Schnell!«
Sie gehorchten. Davon abgesehen, daß dies wirklich nicht der Zeitpunkt für Diskussionen war, hatte Leßter seit ihrer Flucht aus dem brennenden Läufer so selbstverständlich das Kommando übernommen, das Charity bisher nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, ihm zu widersprechen.
Und es war auch gut, daß sie es nicht tat, denn sie hatte kaum als letzte das Gebäude erreicht und sich durch die Tür geworfen, als eine ganze Abteilung schwerbewaffneter Moroni am Ende der Straße auftauchte. Skudder hob sein Gewehr, stützte den Lauf auf dem angezogenen Knie ab und zielte sorgfältig, schoß aber noch nicht. Und auch Charity zögerte, das Feuer zu eröffnen, obwohl die Moroni sie sichtlich nicht entdeckt und sie somit den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite hatten.
Aber die Ameisenkrieger machten keine Anstalten, sich ihnen zu nähern. Ein gutes Dutzend von ihnen marschierte zu einer langen Kette auf, die die Straße auf voller Breite absperrte, und noch einmal so viele drangen in die Gebäude rechts und links der Straßenkreuzung ein.
»Was geht da vor?« flüsterte Skudder erstaunt.
Charity zuckte mit den Achseln, aber sie antwortete trotzdem. »Ich fürchte, sie sperren das ganze Viertel ab. Sie suchen uns.«
»Damit war zu rechnen«, sagte Leßter, aber Charity unterbrach ihn in sehr ernstem Tonfall.
»Sie verstehen nicht, Leßter. Sie suchen uns. Mich und Skudder, und alle, die bei uns sind.«
Leßter sah sie zweifelnd an. »Sie können unmöglich wissen, wer wir sind.«
»Ich habe mir abgewöhnt, das Wort unmöglich in den Mund zu nehmen, wenn ich über die Moroni rede«, sagte Charity ernst. »Außerdem gibt es zumindest einen Menschen hier in der Stadt, der ziemlich genau weiß, wen er zu erwarten hat.«
»Stone?« Skudders Zweifel war nicht zu überhören.
Charity zuckte abermals mit den Schultern, zog sich vorsichtig einige Schritte weiter in den staubigen Hausflur zurück und lehnte das Gewehr griffbereit neben sich an die Wand. Dann griff sie in die Tasche, zog den Kommunikator heraus und schaltete ihn ein. Auf dem winzigen Bildschirm erschien Daniel Stones Gesicht, und es hatte sich kaum stabilisiert, da machte sich ein vorwurfsvoller Ausdruck darauf breit.
»Captain Laird!« sagte er. »Ich sehe, Sie haben nicht auf meinen Rat gehört und sind...«
»Halten Sie den Mund, Stone«, unterbrach ihn Charity grob. Albern oder nicht - sie empfand dieser winzigen Holographie gegenüber den gleichen Zorn, wie sie ihn dem echten Daniel Stone entgegengebracht hätte. »Wir sitzen in der Falle. Ihre Freunde wissen ganz genau, wer wir sind. Und sie fangen gerade an, ein Kesseltreiben auf uns zu veranstalten.«
Stone wirkte bestürzt. »Was ist passiert?« fragte er knapp.
Charity erklärte es ihm mit wenigen gehetzten Worten, und Stones Gesicht nahm einen immer besorgteren Ausdruck an. »Und was erwarten Sie jetzt von mir?« fragte er, nachdem sie mit ihrem Bericht zum Ende gekommen war. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, habe ich Ihnen davon abgeraten, den Läufer zu kapern. Daß es Ihnen gelungen ist und daß Sie noch leben, ist schon ein Wunder. Aber lassen wir das. Sie beginnen die Straßen abzusperren, sagen Sie?«
Charity nickte.
»Das kann zweierlei bedeuten«, fuhr Stone nachdenklich fort. »Entweder sie machen das gesamte Viertel dem Erdboden gleich - was ich nicht glaube -, oder sie setzen einen Sucher ein.«
Charity glaubte aus den Augenwinkeln zu sehen, wie Leßter erschrocken zusammenfuhr, war sich aber nicht sicher. »Ein Sucher?« wiederholte sie. »Was ist das?«
»Sie werden ihn erkennen, wenn Sie ihn sehen«, antwortete Stone geheimnisvoll. »Wenn das geschieht, Captain Laird, dann schalten Sie dieses Gerät ein und lassen Sie es liegen, wo es ist, und laufen Sie, so schnell Sie können.«
»Das klingt richtig beruhigend«, murrte Skudder. »Sie haben eine herzerfrischende Art, einem Mut zu machen. Was zum Teufel ist ein Sucher?«
Stone seufzte. »Also gut«, sagte er. »Sie erinnern sich an das Wesen, auf das Sie in den Ruinen von Köln gestoßen sind?«
Skudder nickte. Er war ein bißchen blaß geworden.
»Und jetzt stellen Sie sich ein Geschöpf vor, das Jagd auf solche Wesen macht«, fuhr Stone seelenruhig fort.
Skudder wurde noch blasser und zog es vor, keine Fragen mehr zu stellen.
»Wo befinden Sie sich jetzt?« fragte Stone, wieder an Charity gewandt.
Es fiel ihr nicht leicht, zu antworten. Ihr Mißtrauen Daniel Stone gegenüber war noch immer nicht völlig ausgeräumt. Aber dann sagte ihr ihr logisches Überlegen, daß sie ohnehin verloren waren, wenn Stone sie wirklich verriet. Sie beantwortete seine Frage.
»Das heißt, Sie sind nur noch ein paar Straßenzüge vom World Trade Center entfernt«, sagte Stone. »Wenn es Ihnen gelingt, dem Suchtrupp zu entfliehen, haben Sie eine reelle Chance.«
»Das Trade Center?«
Stone lächelte. »Die Rechenzentrale, von der ich Ihnen erzählt habe, befindet sich in seinen unteren acht Stockwerken. Und meine eigenen bescheidenen Räume im Penthouse.«
»Das paßt irgendwie«, murmelte Charity.
»Ich war schon immer ein Mann von gutem Geschmack«, sagte Stone lächelnd.
»Man könnte es auch Größenwahn nennen«, erwiderte Charity, machte aber eine hastige Handbewegung, als Stone darauf antworten wollte. »Es gibt noch ein Problem«, sagte sie.
Stone blickte sie fragend an.
»Wir können den Computer nicht mehr zerstören«, fuhr sie fort. »Unsere gesamte Ausrüstung wurde zerstört, als wir das Flugzeug verloren.«
»Das ist bedauerlich«, antwortete Stone gelassen, »aber nicht zu ändern. Sie hätten der Computeranlage mit einer Bombe sowieso keinen nennenswerten Schaden zufügen können. Die Moroni sind zwar manchmal erschreckend naiv, aber nicht dumm. Sie müßten schon das gesamte Gebäude sprengen, um den ganzen Rechner zu zerstören.«
»Aber dann...«
»Es reicht vollkommen aus, wenn Sie eine bestimmte Speicherbank zerstören«, fuhr Stone fort. »Sie finden sie in einem Raum auf der dritten Etage. Freundlicherweise waren die Moroni zuvorkommend genug, die alte Zimmernumerierung beizubehalten. Das Apartment trägt die Nummer 3211.«
»Und Sie glauben, wir könnten dort einfach hereinspazieren und wild um uns schießen?«
»Niemand hat behauptet, daß es einfach sein wird«, antwortete Stone unwillig. »Aber es ist auch nicht unmöglich. Ich bin nicht das einzige menschliche Wesen in New York, Captain Laird. Wenn Sie sich unauffällig verhalten und den Impulsgeber verwenden, den ich Ihnen gegeben habe, wird niemand Ihre Berechtigung anzweifeln, das Gebäude zu betreten. Das ist der Vorteil einer Militärdiktatur.«
»Und dann?« schnappte Skudder. »Was dann, Stone? Sie können mir nicht erzählen, daß der gesamte Militärapparat Ihrer Freunde zusammenbricht, nur weil wir irgendeinen Computer zerstören.«
»Natürlich nicht«, antwortete Stone in leicht genervtem Tonfall. »Die entsprechenden Daten sind noch in drei oder vier weiteren Orten gespeichert, von denen ich weiß, und wahrscheinlich einem Dutzend, von denen ich nicht weiß. Aber mit ein wenig Glück verlieren sie für Stunden die Kontrolle über den größten Teil ihrer Flotte, vielleicht für Tage. Wenn Ihre Freunde in Köln ihr Handwerk verstehen, dann sollte diese Zeit ausreichen, die Transmitterstation am Nordpol in die Luft zu jagen.«
Etwas sagte Charity, daß es nicht so einfach sein würde. Sie hatte den Plan ein dutzendmal mit Hartmann besprochen, und der neue Kommandant des Eifel-Bunkers hatte ihr versichert, daß es kein Problem war, eine seiner Nuklear-Raketen so präzise auf den Nordpol abzufeuern, daß von dem dort gelandeten Riesenschiff der Moroni und dem Materietransmitter nichts als ein radioaktiver Krater zurückbleiben würde. Aber das war die Theorie. In der Praxis hatte dieser Plan so viele Wenns und Abers, daß sie es irgendwann aufgegeben hatte, darüber nachzudenken, was alles schiefgehen konnte. Davon ganz abgesehen, war dies erst der zweite Schritt ihres wahnwitzigen Unternehmens. Der erste bestand in der Kleinigkeit, an einen Ort zu gehen, von dem sie nicht wußten, wo er war, dort etwas zu finden, von dem keiner von ihnen eine Ahnung hatte, wie es aussah, und etwas zu tun, von dem ihnen nicht einmal Stone hatte sagen können, was. Ganz abgesehen von dem Detail, dieses Irrsinnsunternehmen auch noch zu überleben und mit heiler Haut zurückzukommen.
»Irgend etwas geht hier vor«, sagte Skudder von der Tür her.
Charity warf ihm einen hastigen Blick zu und wandte sich dann wieder an Stone.
»Gehen Sie jetzt, Captain Laird«, sagte Stone. »Tun Sie genau, was ich Ihnen gesagt habe. Hier im Trade Center gibt es einen Transmitter auf jeder Etage. Ich werde sämtliche Geräte so programmieren, daß sie zur Relais-Station am Nordpol gebracht und von dort sofort zum Sonnensatelliten weitergeleitet werden, und zwar genau für eine Minute.«
»Ab wann?«
»Ab dem Moment, in dem Sie den Computer zerstört haben.«
»Und wenn es uns nicht gelingt?«
»Gibt es auch keine Freifahrt zur Sonne«, sagte Stone fröhlich.
»Irgendwann unterhalten wir uns noch einmal über dieses Gespräch«, drohte Charity, aber das Grinsen des elektronischen Ebenbildes Daniel Stones' auf dem Bildschirm wurde nur noch breiter.
»Das hätte wenig Sinn, Captain Laird«, sagte er. »Sie vergessen anscheinend immer wieder, daß Sie nur mit einem Computer reden. Der wirkliche Daniel Stone hat keine Ahnung von dem, was wir besprechen.«
»Vielleicht könntest du endlich aufhören, dich mit diesem Transistorradio zu streiten und hierher kommen!« sagte Skudder scharf. Charity sah ihn fast erschrocken an, bewegte sich aber gehorsam auf ihn zu und warf einen Blick auf die Straße hinaus.
Die Zahl der Moroni, die die Straße absperrten, war auf das gut dreifache angewachsen. Sie standen nicht mehr reglos da, sondern bewegten sich nervös durcheinander; viele hatten die Blicke gehoben und sahen in den Himmel, als suchten sie etwas.
Das Wort weckte eine unangenehme Assoziation in Charity, so daß sie beschloß, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, und sich mit einem Ruck umwandte. »Verschwinden wir von hier«, sagte sie.
Sie gingen weiter durch den Hausflur und traten nach einigen Augenblicken durch die Hintertür auf einen kleinen, an allen Seiten von Mauern umschlossenen Hinterhof hinaus. Charity zögerte einen Moment. Ihr Blick glitt sichernd über die leeren Fensterhöhlen, aber nirgends war das Glitzern von Hörn oder das Schimmern ausdrucksloser Insektenaugen zu sehen, so daß sie schließlich im Laufschritt das kleine gemauerte Viereck überquerten und in das nächste Haus eindrangen.
Sie legten auf diese Weise eine Entfernung von sicher zwei oder drei Meilen zurück; sieben oder acht Häuserblocks, an deren Ende sie jedesmal derselbe Anblick empfing: eine Kette reglos dastehender, bewaffneter Moroni, die die Straße absperrte. Es war so, wie Charity vermutet hatte: die Moroni hatten das gesamte Viertel abgeriegelt.
»Dort!« sagte Skudder plötzlich und deutete in den Himmel hinauf. Charitys Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Sie erwartete, einen Gleiter zu sehen, oder irgendein anderes Fahrzeug, aber statt dessen entdeckte sie etwas, das ihr auf den ersten Blick wie ein riesiges Stück schwarzes Leder erschien, ein flatternder Lappen mit ausgefransten Rändern, der scheinbar gewichtslos auf dem Wind dahintrieb.
»Was ist das?« flüsterte Skudder.
»Der Sucher«, sagte Leßter.
Charity warf ihm einen fragenden Blick zu, konzentrierte sich dann aber wieder auf das sonderbare Etwas am Himmel. Irgendwie kam es ihr bekannt vor, und nach einigen Augenblicken erinnerte sie sich auch: Es war lange her, endlos lange, wie es schien. Sie hatte ein Wesen wie dieses schon einmal gesehen, vor fünfzig Jahren. Auch damals war es ihr auf den ersten Blick harmlos und allenfalls bizarr vorgekommen, wie ein Stück geronnener Dunkelheit, das den Himmel entlangglitt.
Aber sie hatte auch gesehen, wie dieses scheinbar harmlose Etwas einen schwerbewaffneten Kampfhubschrauber umschlungen und einfach zermalmt hatte.
Sie dachte an das, was ihr Stone gesagt hatte, und zog den Kommunikator wieder aus der Tasche, überlegte es sich dann aber anders. Zumindest im Moment schien dieses Ding ihre Spur noch nicht aufgenommen zu haben.
Sie wichen wieder in das leerstehende Gebäude zurück und arbeiteten sich zur anderen Seite des Häuserblocks vor, ehe sie es wagten, wieder auf die Straße hinauszutreten. Aber sie waren erst wenige Schritte gelaufen, als Leßter abermals stehenblieb und nach oben deutete.
Das formlose, schwarze Etwas glitt - merklich tiefer als vorhin - über die Dächer der Häuser dahin, taumelte scheinbar ziellos hin und her und verlor dabei immer mehr an Höhe. Hastig wichen sie wieder in Deckung zurück und blieben stehen. Charity beobachtete den Sucher aufmerksam aus dem Schutz der Toreinfahrt heraus, in der sie Deckung gesucht hatten. Dieses formlose Etwas machte immer noch keinen besonders gefährlichen Eindruck, und sie hatte immer noch das Gefühl, daß es nicht genau wußte, wonach es suchte. Aber es kam näher, und es war diese fast maschinenhafte Beharrlichkeit, die Charity trotz alledem erschreckte.
»Wenn wir in den Häusern bleiben, kann es uns nicht gefährlich werden«, sagte Skudder.
Charity sah ihn zweifelnd an, und der Hopi fügte mit einem Ton, als spreche er diese Worte nur, um sich selbst zu beruhigen, hinzu: »Es ist viel zu groß.«
Leßters Mimik verriet, daß er etwas sagen wollte, doch dann überlegte er es sich im letzten Moment anders und schüttelte nur stumm den Kopf.
Der Sucher glitt in kleiner werdenden Kreisen über die Häuserblocks dahin, entschwand manchmal ihren Blicken, tauchte aber immer sofort wieder auf und sank dabei unaufhörlich tiefer. Obwohl er ihnen jetzt nahe war, konnte Charity seine Struktur noch immer nicht genau erkennen. Er schien eine riesige, formlose Masse mit einer lichtschluckenden Oberfläche zu bleiben, unter der ein körperloses Brodeln und Gleiten zu erahnen war.
Sie wichen weiter in das Haus zurück und beobachteten, wie das bizarre Geschöpf wenige hundert Schritte von ihnen entfernt auf der anderen Seite der Straße den Boden berührte. Charity war ein wenig verwirrt. Das Wesen kam ihr plötzlich kleiner vor - vorhin, als sie es das erste Mal am Himmel gesehen hatte, hatte sie seine Größe auf hundert, wenn nicht mehr Meter geschätzt, jetzt hatte es kaum mehr die Abmessungen eines kleinen Lastwagens; noch immer gigantisch, aber nicht mehr so monströs wie bisher.
Dann zerfiel es in zwei Teile. Es geschah lautlos und sehr schnell. Die riesige, formlose Masse schnürte sich in der Mitte zusammen wie eine absurd große Zelle, die sich teilte, gerann zu zwei brodelnden Klumpen, zwischen denen sich für Momente noch dünne glitzernde Fäden spannten, ehe sie lautlos rissen und wie peitschende Arme in die Hauptmasse des nunmehr geteilten Körpers zurückschnellten. Der eine Teil dieses riesigen Etwas bewegte sich mit gleitenden Bewegungen die Straße hinab, der andere blieb reglos dort, wo er war.
Für einige Sekunden. Dann teilte er sich wieder. Und wieder. Und wieder.
Nach kaum einer Minute bedeckte ein Teppich aus sicherlich zwanzig oder dreißig großen, zitternden Klumpen formloser Schwärze die Straße, von denen sich einige unentwegt weiter teilten, andere mit pumpenden, mühsamen Bewegungen davonzukriechen begannen. Einige bewegten sich weiter die Straße hinab, andere drangen in die Häuser rechts und links des Weges ein.
»Ich glaube, ich verstehe allmählich, was Stone gemeint hat«, flüsterte Charity.
Skudder nahm sein Gewehr von der Schulter, aber Leßter machte eine abwehrende Bewegung. »Das ist völlig sinnlos«, sagt er. »Die einzelnen Teile stehen miteinander in telepathischer Verbindung. Wenn uns eines dieser Dinger entdeckt, dann weiß der Rest sofort, wo wir sind.«
Skudders Gesicht verlor noch ein bißchen mehr von seiner ohnehin blassen Farbe, und auch Charity fuhr unmerklich zusammen. Gebannt beobachtete sie die Invasion immer kleiner - aber auch immer zahlreicher - werdender schwarzer Plasmaklumpen, die die Straße bedeckten und sich dabei immer weiter ausbreiteten. Wenn sich dieses bizarre Etwas weiter im gleichen Tempo teilte, dann würden es bald Millionen winziger, einzelner Einheiten sein, die das Viertel überfluteten. Der Moment, in dem sie einem davon über den Weg laufen mußten, war an den Fingern einer Hand abzuzählen.
»Wenn Sie so gut darüber Bescheid wissen, dann haben Sie vielleicht auch eine Idee, wie wir es überlisten können.«
Leßter schüttelte wortlos den Kopf.
Charity zögerte noch einige Sekunden, dann zog sie endgültig den Kommunikator aus der Tasche, schaltete ihn ein und legte ihn, mit der Bildschirmseite nach unten, auf den Boden. Sie wartete darauf, daß irgend etwas geschah, zuckte schließlich mit den Achseln und trat ein paar Schritte zurück.
Erst dann begriff sie, daß doch etwas geschehen war. Etwas im Muster der kriechenden, gleitenden Bewegung draußen auf der Straße hatte sich geändert - es war nicht bewußt wahrzunehmen, denn die Zahl der einzelnen Körperteile des Suchers war einfach zu groß, um sie nicht mit einem Blick zu erfassen, aber das Kriechen und Krabbeln dort draußen schien ihr nicht mehr ganz so ziellos wie noch vor Augenblicken.
»Sie kommen hierher«, sagte Skudder leise.
Tatsächlich bewegten sich die ersten winzigen Teile des aufgespaltenen Kolosses nicht sehr zielgerichtet, aber doch stetig, auf das Gebäude und die Toreinfahrt zu. Und auch in den Fenstern und Türen der gegenüberliegenden Häuser, die sie aus ihrem Versteck heraus erkennen konnte, erschienen plötzlich wieder schwarze, formlose Körper, die den Weg zurückkrochen, den sie gerade erst gegangen waren. Irgendwie schien der Kommunikator das Wesen anzulocken.
Sie warteten nicht mehr länger, sondern liefen los und kletterten über die niedrige Mauer, die den Hinterhof abschloß. Dahinter erstreckte sich ein weiterer, mit Trümmern und Unrat übersäter freier Raum, der an drei Seiten von den brandgeschwärzten Mauern zerstörter Gebäude flankiert wurde. Charity rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf den einzig sichtbaren Ausgang zu - und blieb wie erstarrt stehen.
Auf der Schwelle erschien ein zitternder, schwarzer Plasmaklumpen. Selbst aus allernächster Nähe blieb sein Körper formlos, ohne irgendwelche sichtbaren Sinnesorgane oder Glieder, und er war kaum größer als eine junge Katze. Trotzdem spürte Charity die entsetzliche Gefahr, die von diesem Ding ausging.
»Nicht bewegen!« rief Leßter entsetzt.
Charity gehorchte, aber Skudder hob seine Waffe und zielte auf das formlose Etwas. Leßter fuhr mit einem halb unterdrückten Fluch herum und schlug den Lauf des Gewehrs herunter. »Sind Sie wahnsinnig?!« schnappte er. »Ein einziger Schuß, und wir sind tot.«
Für einen Moment verzerrte sich Skudders Gesicht zu einer wütenden Grimasse, aber er sagte nichts und er rührte sich auch nicht, sondern starrte abwechselnd Leßter und den Sucher an. Für weitere endlose Sekunden blieb das formlose Etwas zitternd auf der Schwelle des Hauses hocken, dann setzte es sich langsam, mit mühsamen, grotesken Bewegungen wie eine übergroße schwarze Schnecke in Bewegung und glitt die Stufen hinab.
Charitys Herz schlug, als wolle es jeden Moment zerspringen, und etwas in ihr krümmte sich vor Angst und Ekel zusammen, als das Ding auf sie zu und kaum eine Handbreit neben ihr vorbeiglitt. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, sondern folgte seiner Bewegung aus den Augenwinkeln, bis es einen guten Meter hinter ihr war. Erst dann drehte sie sich herum und starrte ihm nach.
Das Ding kroch weiter, erreichte die Mauer, die sie gerade überstiegen hatten und begann, daran hinaufzugleiten.
»Stone!« flüsterte sie. »Irgendwie zieht er es an.«
Leßter nickte, bedeutete ihnen aber mit Gesten, weiter ruhig stehenzubleiben. Erst als das ekelerregende Etwas die Mauerkrone erreicht und sich darüber hinweggeschoben hatte, erwachte er aus seiner Erstarrung und deutete hastig auf die Tür, aus der der Sucher hervorgekrochen war. »Schnell!« rief er. »Wir haben nicht viel Zeit!«
Sie rannten los. Das Innere des Gebäudes war genauso heruntergekommen und verfallen wie die anderen, durch die sie bisher gekommen waren, aber sie trafen noch dreimal auf Teile des riesigen, aufgespalteten Wesens, die langsam, jetzt aber sehr zielsicher an ihnen vorbeiglitten, wie Motten, die magisch von einem unsichtbaren Licht angezogen wurden.
Schließlich erreichten sie eine weitere Straßensperre. Es war nur eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern, keine Straße, sondern einfach ein vier oder fünf Meter breiter Streifen, der niemals bebaut worden war, und an seinem Ende standen nicht Dutzende, sondern nur drei Ameisenkrieger. Wenn sie eine Chance hatten, den Sperrgütel zu durchbrechen, dann hier.
Skudder wollte seine Waffe heben, aber wieder hielt ihn Leßter zurück. »Noch nicht«, sagte er. »Warte.«
»Worauf?« fragte Skudder schlechtgelaunt. »Daß sie uns entdecken?«
»Warte«, sagte Leßter einfach.
Und sie warteten. Eine Minute verging, dann zwei, drei, fünf - und plötzlich erschütterte eine ungeheure Explosion das Stadtviertel. Die Gebäude rings um sie herum wankten. Ein grellrotes Licht löschte den Sonnenschein aus, und in das Krachen der Explosion, das noch gar nicht ganz verklungen war, mischte sich das Poltern und Bersten zusammenbrechender Häuser. Staub und Steintrümmer regneten von der Decke herab, und draußen auf der Straße schlugen zerbrochene Dachziegel und Steine auf, die sich aus den mürben Wänden gelöst hatten. Die drei Moroni zogen sich hastig ein Stück weit zurück, um nicht von den herabstürzenden Trümmerstücken erschlagen zu werden.
»Jetzt!« befahl Leßter und sprang als erster auf die Straße hinaus. Charity und Skudder folgten ihm fast im gleichen Sekundenbruchteil, aber wie vorhin in der Lagerhalle war Leßter einfach schneller als sie. Sein Gewehr stieß drei kurze, grellweiße Lichtblitze aus, und die drei Ameisen sanken nebeneinander getroffen zu Boden, ehe sie auch nur einen Warnruf ausstoßen konnten.
»Was war das?« schrie Charity, während sie neben Leßter die Straße hinunterrannte.
»Der Sucher«, antwortete Leßter. »Das Gerät hat ihn angelockt und sich dann selbst gesprengt. Es sieht so aus, als hätte Ihr Freund die Wahrheit gesagt.«
»Er ist nicht mein Freund«, antwortete Charity automatisch. Aber das hörte Leßter wahrscheinlich gar nicht mehr, denn er lief plötzlich schneller und entfernte sich so rasch von ihnen, daß Skudder und Charity keine Chance hatten, zu ihm aufzuholen.
Einen Moment später stürmte er auf die Straße hinauf, vor der die drei Ameisen Wache gestanden hatten, warf sich mitten in der Bewegung nach links, rollte über die Schulter ab und begann zu schießen, noch ehe er wieder vollends in die Höhe gekommen war, Charity konnte nicht erkennen, worauf er feuerte, hörte aber einen schrillen Pfiff, und fast im gleichen Moment wurde der Laserbeschuß erwidert: Vor und neben Leßter explodierten grelle Lichtblitze im Boden. Auch Skudder und sie erreichten das Ende der Gasse und stürmten auf die Straße hinaus. Es war ein knappes Dutzend Moroni, das von dem plötzlichen Angriff offensichtlich vollkommen überrascht worden war, denn drei oder vier der schwarzen Gestalten lagen bereits reglos am Boden, in Haltungen, die verrieten, daß sie nicht einmal dazu gekommen waren, ihre Waffen zu ziehen.
Aber sie überwanden ihre Überraschung sehr schnell. Leßter tötete mit der Präzision einer Maschine einen Krieger nach dem anderen, und auch Charity und Skudder begannen, vielleicht nicht ganz so zielsicher wie er, dafür aber mit um so verbissenerer Wut, auf die Moroni zu schießen. Ihre Zahl schmolz rasend schnell, aber sie wehrten sich mit erbitterter Kraft. Skudder fiel mit einem Schmerzlaut auf die Knie, als einer der dünnen, weißen Lichtblitze seinen Oberschenkel streifte und eine rauchende Spur im Stoff seiner Hose hinterließ, und plötzlich schrie Leßter auf und kippte rücklings auf die Straße. Kleine Flammen züngelten aus Brust und Rücken seiner Jacke und erloschen sofort wieder.
Charity schaltete mit einem Fluch ihre Waffe auf Dauerfeuer um und schwenkte den Lauf langsam von recht nach links. Der grellweiße Strahl mähte wie eine Sense aus Licht über die Straße und streckte die letzten verbliebenen Ameisen nieder, aber die Waffe wurde in ihrer Hand glühend heiß, und auf ihrer Oberseite begann ein kleines, rotes Licht warnend zu blinken.
Es war wie ein Wettlauf mit der Zeit, und sie gewann ihn nur ganz knapp. Das Gewehr versagte ihr den Dienst, fast im gleichen Sekundenbruchteil, in dem der Laserstrahl den letzten Moroni traf und tötete. Das Metall war so heiß geworden, daß sie trotz der dicken Handschuhe einen heftigen Schmerz verspürte.
Hastig warf sie die Waffe zu Boden, überzeugte sich mit einem Blick davon, daß Skudder nicht ernsthaft verletzt war, und rannte dann auf Leßter zu. In der Brust seiner gefleckten Uniformjacke, nur ein kleines Stück unter dem Herzen, war ein winziges, rauchendes Loch. Aber zu Charitys Verblüffung öffnete Leßter die Augen, als er ihre Schritte hörte, und lächelte ihr mit schmerzverzerrtem Gesicht zu.
»Sieht so aus, als hätte ich den Mund ein bißchen zu voll genommen«, sagte er gepreßt.
Charity kniete neben ihm nieder. »Nicht reden«, sagte sie. »Bewegen Sie sich nicht. Wir bringen Sie hier weg.«
»Ob Sie es glauben oder nicht, Captain Laird«, stöhnte Leßter mit zusammengebissenen Zähnen, »Ich hatte nicht vor, davonzulaufen.«
Charity öffnete mit fliehenden Fingern seine Jacke, riß das dünne Hemd darunter einfach entzwei und sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie die schreckliche Wunde sah, die der Laserstrahl in seinen Körper geschlagen hatte. Daß Leßter überhaupt noch am Leben war, grenzte an ein Wunder.
»Wie sieht es aus?« stöhnte Leßter.
Sie versuchte zumindest, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte sie.
Leßter nickte. »Ja. Vermutlich im Kino.«
»Halten Sie den Mund«, sagte Charity streng. »Wir bringen Sie irgendwie hier weg. Keine Angst.«
Skudder langte humpelnd neben ihnen an, warf einen nur flüchtigen Blick auf Leßters Brust und schüttelte fast unmerklich den Kopf. So sachte die Bewegung gewesen war, Leßter hatte sie gesehen.
»Freu dich nicht zu früh, Rothaut«, sagte er. »So schnell bin ich nicht kleinzukriegen.«
Und wie um seine Worte unter Beweis zu stellen, versuchte er, sich in die Höhe zu stemmen. Aber seine Kraft reichte nicht. Mit einem halblauten Schmerzensschrei fiel er zurück und schloß die Augen.
»Hilf mir!« verlangte Charity. »Wir müssen ihn hier wegschaffen.«
Sie wollte Leßter unter den Achseln ergreifen, aber Skudder schob sie einfach zur Seite, hob den Verletzten auf und warf ihn sich über die Schulter. Leßter stöhnte, öffnete aber nicht die Augen, und Skudder drehte sich herum und begann mit gewaltigen Sätzen die Straße zu überqueren.
Sie erreichten die nächste Abzweigung nie. Plötzlich zuckte ein greller Lichtblitz auf und schnitt kaum einen Meter vor Skudder durch die Luft, und als Charity herumfuhr, sah sie sich einem weiteren halben Dutzend zwei Meter großer Insektenkrieger gegenüber, die urplötzlich am Ende der Straße aufgetaucht waren. Automatisch hob sie ihre Waffe, aber das rote Licht auf dem Gewehr hatte nicht aufgehört zu flackern. Der Laser war überhitzt. Und es hätte ihr auch nicht viel genutzt, denn plötzlich stieß Skudder einen überraschten Ruf aus, und Charity drehte sich herum und blickte in die entgegengesetzte Richtung.
Am ändern Ende der Straße war ein buckeliges, silberfarbenes Fahrzeug mit dem roten Flammen-›M‹ Morons auf dem Bug erschienen. Rechts und links des asymmetrisch geformten Fensters ragten die stumpfen Läufe schwerer Laserkanonen aus dem Rumpf.
Skudder schrie abermals auf, ließ sich auf ein Knie herabfallen und versuchte, seine Waffe zu heben, und im gleichen Sekundenbruchteil eröffnete das Fahrzeug das Feuer...
*
»Der Gefangene ist entkommen.«
Stones Logik und seine dreijährige Erfahrung im Umgang mit den Ameisen sagten ihm sehr deutlich, daß es unmöglich war - und trotzdem war er für einen Moment sicher, in den kalten Kristallaugen des Inspektors so etwas wie Wut aufblitzen zu sehen.
So ruhig wie es ihm möglich war antwortete er: »Ich weiß.«
Der Inspektor schwieg eine Sekunde. Auch die beiden anderen riesigen Albinoameisen wandten sich um und starrten Stone an, und er begann sich unter den Blicken ihrer kalten, schimmernden Facettenaugen immer unwohler zu fühlen.
»Erklären Sie das, Governor Stone«, fuhr der Inspektor fort. »Wir haben die Situation analysiert. Die Auswertung der Daten ergibt, daß eine Flucht des Gefangenen nur mit fremder Hilfe möglich war. Der Zwerg verfügte über einen Impulsgeber, der Ihrem persönlichen Sicherheitscode entsprach.«
»Das ist kein Wunder«, antwortete Stone lächelnd. »Es war mein eigener.«
»Sie haben dem Zwerg die Flucht ermöglicht? Warum?«
Täuschte er sich, oder lag plötzlich etwas Drohendes in der ansonsten so ausdruckslosen Computerstimme des Inspektors?
Statt direkt zu antworten, trat Stone einen Schritt beiseite und machte eine weitausholende Handbewegung nach Süden. Über der Skyline der Stadt stiegen schwarze Qualmwolken in die Höhe, manchmal zuckten Flammen durch diesen Qualm, und selbst jetzt war dann und wann noch das Krachen einer Explosion zu hören. »Auch ich habe die Situation analysiert«, sagte er, wobei er sich bemühte, den Tonfall des Inspektors spöttisch nachzuäffen. »Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß niemand anderes als Captain Laird und ihre Verbündeten diesen Läufer gekapert haben.«
»Das ist richtig«, antwortete der Inspektor. »Ihre Spur wurde bereits aufgenommen. Das Gebiet, in dem sie vermutet werden, wurde weitläufig abgeriegelt. Es ist nur eine Frage der Zeit bis zu ihrer Festnahme.«
»Oder ihrem Entkommen«, fügte Stone hinzu. Keiner der Inspektoren hatte es ihm gesagt, aber er war lange genug hier, um auch das zu hören, was sie nicht aussprachen. Er wußte, daß es Charity und ihren Freunden irgendwie gelungen sein mußte, den Sucher auszuschalten. »Es tut mir leid«, fuhr er in perfekt geschauspielertem, leicht aggressivem Ton fort, »aber ich kenne Captain Laird zu gut. Es wäre nicht das erste Mal, daß sie unseren Kriegern entkommt - ganz egal, wie aussichtslos es scheint.«
Der Inspektor schwieg einige Sekunden. Dann sagte er: »Ich sehe den Zusammenhang zwischen der Jagd auf die Rebellen und der Tatsache, daß Sie den Gefangenen entkommen ließen, nicht.«
Stone seufzte. »Ich sagte bereits, ich glaube nicht, daß Ihre Krieger Captain Laird stellen. Deshalb habe ich meine eigenen Maßnahmen in die Wege geleitet.«
»Erklären Sie das«, verlangte der Inspektor.
Stone tat es.
*
...auf die Ameisenkrieger. Es ging viel zu schnell, als daß Charity wirklich begriff, was geschah: Ein halbes Dutzend grellweißer, unterarmstarker Laserblitze zuckte aus den Geschützläufen des Fahrzeuges, raste an Charity und Skudder vorbei und verwandelte die Straße hinter ihnen in ein Inferno aus Flammen und Hitze. Die Ameisen verbrannten in der höllischen Glut zu Asche, ohne auch nur zu begreifen, was sie tötete.
Die Druckwelle schleuderte sowohl Charity als auch Skudder von den Füßen. Sie stürzte, riß schützend die Arme über das Gesicht, als ein höllischer Gluthauch ihre Haut streifte, und sah aus tränenden Augen, wie sich Skudder schützend über den verletzten Leßter warf. Für eine halbe Sekunde hatte sie das Gefühl, Feuer zu atmen. Sie schrie vor Schmerz, krümmte sich und roch den Gestank ihres eigenen, verkohlenden Haares, dann war die Druckwelle über sie hinweg und zertrümmerte beiderseits der Straße die wenigen Fensterscheiben, die noch in den Ruinen verblieben waren.
Mühsam stemmte sich Charity hoch, hob den Kopf und blickte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf das Fahrzeug, das langsam und lautlos näher zu gleiten begann. Die Geschützläufe bewegten sich, verharrten für einen Moment direkt auf ihr und Skudder und richteten sich dann wieder auf das hintere Ende der Straße aus, obwohl es dort nichts mehr gab, worauf zu schießen sich gelohnt hätte.
»Was...« murmelte Skudder und brach verblüfft mitten im Satz ab, als an der rechten Seite des Fahrzeugs eine Tür aufschwang. Ein dürrer, in zerfetzten braunen Stoff gehüllter Arm streckte sich heraus und winkte, und eine Sekunde später erschien hinter diesem ein grinsendes Zwergengesicht unter einem gewaltigen Kahlkopf.
»Gurk!« rief Charity überrascht.
»In voller Größe«, antwortete Gurk und hüpfte auf die Straße herab. Mit kleinen trippelnden Schritten kam er näher, deutete eine spöttische Verbeugung an und streckte die Hand aus, um Charity auf die Füße zu helfen.
Sie ignorierte seinen ausgestreckten Arm und stand aus eigener Kraft auf. Gurk zog eine Grimasse, dann wandte er sich zu Skudder um, der sich ebenfalls wieder auf die Knie hochgestemmt hatte und sich um Leßter bemühte.
»Was ist mit ihm?« fragte Gurk. »Ist er tot?«
Skudder schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber ich fürchte, er hat keine große Chance.«
»Wo kommst du her?« fragte Charity fassungslos.
Gurk legte den Kopf schräg und blickte zu ihr hoch. Dann hob er die Hand und deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Von dort«, sagte er. »Und wie es aussieht, wieder einmal gerade im richtigen Moment, um eure Hintern zu retten.«
Charitys Blick tastete verwirrt über das buckelige Fahrzeug mit dem feuerroten Emblem der Invasoren, das reglos einen halben Meter über der Straße in der Luft schwebte. Sie hörte das kaum wahrnehmbare Zischen eines Luftkissens, das das Fahrzeug in der Schwebe hielt. »Hast du die Seiten gewechselt, oder ist das wieder einer deiner Taschenspielertricks?« fragte sie. Sie versuchte zu lächeln, aber die Reaktion auf Gurks Gesicht verriet ihr, daß ihm der leise Unterton von Mißtrauen in ihrer Stimme keineswegs entgangen war.
»Weder - noch«, antwortete er plötzlich sehr ernst. »Aber das ist eine komplizierte Geschichte, und ich schlage vor, wir besprechen sie weder hier noch jetzt. Falls es euch entgangen sein sollte - es wimmelt hier von Ameisen, die ganz wild darauf sind, euch guten Tag zu sagen.«
»Wer ist da drinnen?« fragte Skudder und deutete auf das Luftkissenfahrzeug.
»Niemand«, antwortete Gurk. »Ich war schon immer ein Autonarr, wußtest du das nicht?«
Charity beendete dieses fruchtlose Gespräch, indem sie Skudder ein Zeichen gab. »Leg ihn in den Wagen«, sagte sie mit einer Geste auf Leßter. »Aber sei vorsichtig.«
»Und paß auf, daß du mir die Polster nicht versaust«, fügte Gurk hinzu. »Die Karre ist nagelneu. Die Garantie ist nicht mal abgelaufen.«
Gegen ihren Willen mußte Charity lächeln. Aber sie wurde sofort wieder ernst und behielt voller Ungeduld die Straße im Auge, während Skudder den verletzten Soldaten vorsichtig in das Fahrzeug hineinbugsierte und quer über die rückwärtigen Sitze legte.
Danach kletterte sie hastig selbst in das Fahrzeug hinein, blickte eine Sekunde lang mit wachsender Verwirrung auf die komplizierten Steuer- und Kontrollinstrumente hinab und entschied dann, daß es klüger war, weiterhin dem Zwerg das Fahrzeug anzuvertrauen.
Gurk schloß die Tür, startete das Fahrzeug und ließ es rückwärts die Straße wieder hinuntergleiten. Er wendete, richtete den Bug des Fahrzeuges auf das Stadtzentrum aus und beschleunigte. Charitys Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie auf der nächsten Querstraße eine ganze Abteilung bewaffneter Ameisen erkannte, die dem Fahrzeug mißtrauisch entgegenblickten, aber Gurk grinste nur und beschleunigte noch mehr, und zu Charitys großer Überraschung wichen die Insektenkreaturen respektvoll vor dem Fahrzeug zurück.
»Keine Sorge«, sagte Gurk, der ihre Gedanken erraten zu haben schien - wahrscheinlich war es auch nicht allzu schwer, sie auf ihrem Gesicht abzulesen. »Falls sie nicht gesehen haben, wie ich eure Freunde gerade gegrillt habe, kann uns nichts passieren.« Er schlug grinsend mit der Handfläche auf das Steuer. »Das hier ist Stones Privatwagen. Niemand würde es wagen, ihn aufzuhalten.«
»Wie kommst du dazu?« fragte Charity mißtrauisch.
Gurk seufzte tief. »Geklaut«, sagte er. »Habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich auf vierunddreißig Planeten der Milchstraße als Autodieb gesucht werde?«
»Hör mit dem Blödsinn auf«, sagte Charity verärgert. »Was in Dreiteufelsnamen geht hier vor?«
Gurk lenkte das Fahrzeug in eine Seitenstraße und beschleunigte noch mehr. Die Fassaden der halb zerstörten Häuser huschten so schnell an ihnen vorüber, daß Charity nur noch ein Durcheinander aus verschwommenen Farben wahrnehmen konnte. »Ich schlage vor, wir suchen uns irgendwo ein ruhiges Plätzchen und warten, bis die ganze Aufregung vorbei ist«, sagte er. »Wir haben eine Menge zu besprechen.«