4


Während der letzten halben Stunde hatte sich French allmählich mit dem Gedanken vertraut gemacht, zur Erde zurückzukehren. Und er hatte Angst davor. Panische Angst.

Er fragte sich, warum das so war. Sie alle mußten eines Tages zurück zur Erde, der eine eher, der andere später - obwohl das Gerücht ging, daß sich der Alte zum Beispiel wohl noch weitere drei Generationen im Hort halten würde, so wie er bereits drei Generationen überlebt hatte - und im Grunde war sogar diese Formulierung falsch. Denn war die Erde nicht das Paradies, in dem sie alle eines Tages für ihre Mühen und Entbehrungen im Hort belohnt werden würden? Jedenfalls hatte man ihm das erzählt. French fragte sich nur, warum er dann solche panische Angst vor der Heimkehr hatte.

Zum wahrscheinlich hundertsten Mal in den letzten zehn Minuten sah er auf die Anzeige seines Luftvorrates. Wenn er der kleinen roten Nadel glaubte, dann hätte er längst tot sein müssen, denn das Gerät zeigte ihm schon seit gut fünf Minuten nichts mehr an. Entweder war der Tank auf seinem Rücken tatsächlich leer und er atmete nur noch die Reste, die sich darin gesammelt hatten und zu gering waren, um den Zeiger noch zu bewegen - oder das Instrument hatte einfach vor der Schwere kapituliert. Aus naheliegenden Gründen favorisierte French im Moment die zweite Möglichkeit - zumal einiges dafür sprach.

Er war tiefer in die Schwere Zone vorgedrungen als jemals ein Mensch vor ihm. Zumindest als alle, die zurückgekommen waren. Jede Bewegung kostete ihn unendliche Kraft, und selbst das Atemholen war längst zu einer bewußten Tätigkeit geworden, die einen Großteil seiner Konzentration beanspruchte. Und es wurde schlimmer, mit jedem Schritt, den er sich weiterquälte. Manchmal sah er seine Umgebung nur noch wie durch einen blutigen Schleier, und French fühlte etwas, was die wenigsten Menschen jemals bewußt gefühlt hatten: das Gewicht seiner eigenen Organe. Es war, als hingen Bleigewichte an seinem Herz, den Lungen, dem Magen und allem anderen, und manchmal glaubte er, das Gleiten seines eigenen Blutes zu spüren, das sich nur noch mühsam durch plötzlich zu eng gewordene Adern zwängte. Kein Zweifel - er hatte die Gewichtskrankheit. Er würde wochenlang fiebernd daliegen und von Glück sagen können, wenn er keine bleibende Schäden oder gar Verkrüppelungen davontrug.

French hätte gelacht, hätte er noch den nötigen Atem dazu gehabt, als ihm die Absurdität dieses Gedankens zu Bewußtsein kam. Nein - um irgendwelche Verkrüppelungen oder bleibende Schäden brauchte er sich wirklich keine Sorge zu machen. Der einzige bleibende Schaden, der ihm im Moment zu denken gab, war ein ziemlich lang bleibender Tod...

Er taumelte weiter, erkannte unscharf eine schräg nach unten führende Rampe vor sich und erinnerte sich zu spät daran, daß er hier ungefähr dreißigmal soviel wog wie im Hort. Die klobige Atemmaske vor seinem Gesicht erstickte seinen Schrei, als er die Balance verlor und, sich immer wieder überschlagend, in die Tiefe stürzte.

Er mußte wohl das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, was er wahrnahm, war die Erkenntnis, auf dem Rücken zu liegen - und in das glotzäugige Gesicht einer Spinne zu blicken, die sich über ihn beugte und sich mit drei ihrer sechs Glieder an seinem Anzug zu schaffen machte. Ihre dürren Klauen packten das durchsichtige Kunststoffmaterial und rissen es einfach in Fetzen. French hörte ein schrilles, unmelodiöses Pfeifen. Er nahm an, daß es sich dabei um die Sprache der Spinnen handelte.

Ganz automatisch wollte er nach seiner Harpunenwaffe greifen, um wenigstens noch diese eine Bestie mit auf den Weg zur Erde zu nehmen. Und dann richtete sich die Spinne plötzlich auf, streckte nunmehr alle vier Arme aus - und zog ihn mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung auf die Füße. Ihr Pfeifen klang irgendwie ... besorgt? Um ein Haar hätte French sich verraten, aber es gab nur diese eine Erklärung: Obwohl sie ihm ganz nahe war, ja, ihn sogar berührt hatte, hatte sie seine Tarnung nicht durchschaut!

Aber das war unmöglich! Jeder im Hort war sich darüber im klaren, daß die plumpe Verkleidung allenfalls einem flüchtigen (einem sehr flüchtigen) Blick standhalten konnte...

Wankend unter seinem eigenen Gewicht - und auch der Wucht der Erkenntnis, daß hier einiges völlig anders zu sein schien, als sie bisher alle geglaubt hatten - stand French da und starrte die Spinne an, während diese fortfuhr, mit ihrer schrillen Stimme und mit allen vier Armen gestikulierend auf ihn einzureden. Anscheinend war ihr doch aufgefallen, daß mit ihrem Gegenüber irgend etwas nicht stimmte. Vielleicht, überlegte French, war sie ein wenig überrascht, sich einem Wesen gegenüberzusehen, das so aussah wie sie, aber eigentlich doch nicht, und ganz offensichtlich kein Wort von dem verstand, was sie ihm zuflötete und -pfiff. Noch mehr überraschte sie dann wahrscheinlich die Harpunenwaffe, die French plötzlich in der Hand hielt, und die größte Überraschung überhaupt war wohl der halbmeterlange Stahlpfeil, der sie durchbohrte und nach einem halben Salto rückwärts zu Boden schmetterte.

French taumelte. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre ebenfalls gestürzt, und wahrscheinlich hätte er nicht mehr die Kraft gehabt, sich in die Höhe zu stemmen. Schon die Anstrengung, die Waffe zu heben und auf die Spinne zu richten, war fast zuviel gewesen. Alles drehte sich um ihn. Er prallte gegen die Wand, ließ die plötzlich Zentner wiegende Harpune fallen und kämpfte mit verzweifelter Anstrengung darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Die Schleier vor seinen Augen waren jetzt schwarz, nicht mehr rot, und eine unsichtbare Klaue schien sein Herz gepackt zu haben und es langsam zusammenzudrücken. Er wollte atmen, aber es ging nicht mehr. Es war nicht die Gewichtskrankheit, die ihn umbrachte. Die Schwere würde ihn nicht töten, denn so viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er erstickte. Sein Luft vorrat war unwiderruflich aufgebraucht.

Er fiel auf die Knie und registrierte, schon halb bewußtlos, wie sich die totgeglaubten Spinne neben ihm bewegte. Vielleicht waren diese Biester noch zäher, als man allgemein annahm, vielleicht war es auch nur ein Reflex - aber eine ihrer schrecklichen Krallen zuckte plötzlich vor und zerfetzte Frenchs Tarnanzug. Ein häßliches Zischen erklang.

Und dann konnte er wieder atmen.

Загрузка...