Fast eine Stunde später war Charity nicht mehr davon überzeugt, daß es wirklich eine so gute Idee gewesen war, auf Leßter zu hören. Irgendwie hatten sie es geschafft, den Steg zu erreichen. Charity hatte bis jetzt nicht wirklich gewußt, was das Wort Schwindel überhaupt bedeutete. In ihrem früheren Leben, in jener längst vergangenen Zeit, als dieser Planet noch ihre Heimatwelt und keine Hölle gewesen war, in der die Menschen allerhöchstens noch geduldet wurden, war sie sogar zwei- oder dreimal auf einen Berg geklettert und hatte sich für eine vielleicht nicht begnadete, aber doch ganz passable Bergsteigerin gehalten. Aber sie hatte noch nie zuvor versucht, eine hundertfünfzig Meter hohe Leiter hinaufzuklettern!
Sie alle waren so erschöpft, daß sie sich für fast zehn Minuten reglos nebeneinander auf der winzigen Plattform am Ende der Leiter sinken ließen und warteten, bis das Gefühl wieder in ihre tauben Hände und Schultergelenke zurückkehrte.
Wie beinahe immer war es auch diesmal Skudder, der sich als erster erholte und wieder aufstand. Allerdings nur, um sich fast in der gleichen Bewegung sehr hastig wieder auf Hände und Knie herabsinken zu lassen.
Der Steg, der von unten betrachtet nicht viel mehr als ein silberfarbener Kratzer im Eisenhimmel der Halle gewesen war, war auch hier oben nicht sehr viel breiter; vielleicht einen Meter, und einen Luxus wie ein Geländer hatte er nie besessen.
Skudder wurde blaß, als er sich behutsam vorbeugte und in die Tiefe blickte. Der Hallenboden mit seinen bizarren Maschinen und seinen noch bizarreren Bewohnern schien unendlich tief unter ihnen zu liegen. Auch Charity schwindelte, als sie sich nach einer Weile ebenfalls aufrichtete und - wie Skudder auf Händen und Knien kriechend - ein Stück weit auf den Steg hinauskrabbelte, ehe sie sich sehr vorsichtig erhob. Alles in ihr krampfte sich zusammen, schon bei der Vorstellung, den Abgrund auf diesem kaum handtuchbreiten Metallstreifen überqueren zu sollen. Selbst wenn ein weiteres Wunder geschah und sie auch weiterhin unentdeckt blieben, würden sie irgendwo unterwegs einen Fehltritt tun und abstürzen oder von einem der mächtigen Stöße, die den Läufer immer wieder erschütterten, von dieser bizarren Brücke heruntergeschleudert werden.
Bevor sie Zeit fand, sich noch einige Dutzend weitere unerfreuliche Ausgänge ihres Unternehmens auszudenken - darin war sie schon immer sehr begabt gewesen -, standen auch Leßter und die beiden anderen Soldaten auf, und als Charity erneut das Flackern von Panik in Phillipsens Gesicht bemerkte, da tat sie das einzige, was ihr sinnvoll erschien - sie drehte sich ohne ein weiteres Wort herum und ging hoch aufgerichtet und mit Schritten, die sehr viel sicherer und selbstbewußter wirkten, als sie sich fühlte, den Steg entlang.
Es war nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Es war schlimmer.
Seit sie diese bizarre Riesenmaschine betreten hatte, hatte der Boden ununterbrochen gebebt und sich geschüttelt, war manchmal wie das Deck eines Schiffes auf hoher See von rechts nach links gekippt oder hatte sich aufgebäumt, wenn der stählerne Koloß einen Schritt machte. Sie hatte sich fast daran gewöhnt, so daß es Charity am Schluß kaum noch aufgefallen war - aber jetzt wurde jede Sekunde zu einem lebensgefährlichen Abenteuer. Mehr als einmal verlor sie das Gleichgewicht und stürzte auf Hände und Knie herab, und den anderen erging es nicht besser. Daß keiner von ihnen von dem schmalen Metallband herunterfiel, glich tatsächlich einem Wunder.
Aber vielleicht auch nicht.
Das Unvermeidliche geschah, noch ehe sie das erste Drittel ihres Weges zurückgelegt hatten. Charity hörte hinter sich plötzlich einen spitzen Schrei, und als sie erschrocken herumfuhr, da sah sie, wie Faller in einer grotesk nach hinten geneigten Haltung und mit wild rudernden Armen dastand, und sie wußte, noch bevor Leßter und Skudder gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen auf ihn zustürmten, daß sie beide zu spät kommen würden. Fallers Schreie wurden zu einem entsetzlichen Kreischen, während er weiter und weiter nach hinten kippte, bis er schließlich in einer unmöglich erscheinenden Neigung über dem Abgrund hing, noch immer mit wild wirbelnden Armen und vor Entsetzen verzerrtem Gesicht.
Und er blieb so.
Es war nicht der winzige Augenblick scheinbarer Schwerelosigkeit, in der ein Körper verharrte, ehe er zu stürzen begann. Eine halbe Sekunde verging, eine ganze, und plötzlich blieben sowohl Skudder als auch Fallers Kamerad stehen und starrten ihn an, und nach einer weiteren Sekunde hörte Faller auf, sich zu bewegen, und der Ausdruck von Todesangst auf seinem Gesicht wandelte sich in fassungsloses Staunen.
Er stürzte nicht. Schräg nach hinten, um mehr als fünfundvierzig Grad geneigt hing er über der Leere, aber irgendeine unsichtbare Kraft hielt ihn fest.
Eine weitere Sekunde verging, in der sie alle den jungen Soldaten einfach nur anstarrten, dann machte Leßter einen entschlossenen Schritt nach vorn, packte Faller und zerrte ihn mit einer kraftvollen Bewegung wieder ganz auf den Steg hinauf. Faller stolperte mit einer instinktiven Bewegung von seiner Kante fort - wobei er um ein Haar über den jenseitigen Rand gestürzt wäre -, drehte sich herum und starrte fassungslos nach unten.
Sekundenlang sagte niemand etwas, dann zog Skudder wortlos das Päckchen mit seiner Notration aus der Tasche, hielt es am ausgestreckten Arm über den Rand des Steges und ließ los.
Es fiel wie ein Stein einen halben Meter weit in die Tiefe, beschrieb dann einen eleganten Bogen und landete direkt vor Skudders Füßen.
Charity blickte das Lebensmittelpäckchen einen Moment lang fast angsterfüllt an, beugte sich vor und streckte zögernd die Hand aus. Sie fühlte sich sehr unsicher. Der Abgrund, der plötzlich unter ihr klaffte, schien sie magisch anzuziehen, und für einen Herzschlag wurde ihr wieder schwindelig, aber sie überwand ihre Angst und bewegte die Hand weiter - und stieß plötzlich auf Widerstand. Sie sah nichts, sie fühlte eigentlich auch nichts, und doch war es, als würden ihre Finger in eine nachgiebige, aber trotzdem sehr feste Wand aus Watte oder weichem Gummi eindringen, die sie mit sanfter Gewalt zurückstieß, ohne indes wirklich spürbar zu sein. Verblüfft richtete sie sich wieder auf.
Skudder sah sie ernst an. Er wirkte kein bißchen erleichtert, sondern eher erschrocken. »Überraschung, wie?« fragte er.
Charity nickte widerwillig. Ganz so primitiv schien diese Riesenmaschine doch nicht zu sein. Trotzdem war sie nicht sehr überrascht. Irgendwie paßte es ins Bild. Das Rätselhafteste an den Moroni überhaupt war vielleicht diese ständige Diskrepanz zwischen unvorstellbarer Übertechnologie und einfachen, ja, fast primitiven Gerätschaften.
»Zumindest wird der Rest des Weges jetzt einfacher«, sagte Leßter.
»Das stimmt«, murmelte Charity. Und fügte noch leiser hinzu: »Falls sie nicht eine genauso raffinierte Alarmanlage haben, heißt das.«
Sie gingen weiter und erreichten unbehelligt und ohne weitere Zwischenfälle das jenseitige Ende des Steges. Es kam Charity fast unheimlich vor, daß niemand sie entdeckt haben sollte. Sicher - sie befanden sich in mehr als hundert Metern Höhe über dem Boden der Halle, und der graugrün gemusterte Stoff ihrer Anzüge und noch viel mehr der beißende Qualm, der die Luft erfüllte, tarnte sie hervorragend. Trotzdem erschien es ihr unverständlich, daß die Kommandozentrale dieses Monstrums nicht besser bewacht sein sollte.
Auf der anderen Seite war dieses keine Kriegsmaschine, sondern eine wandelnde Fabrik, und schließlich hatten auch in den Fabriken der alten Erde keine bewaffneten Posten vor den Chefetagen gestanden.
Jedenfalls nicht vor allen.
Aber sie erreichten sein Ende, ohne entdeckt oder gleich abgeschossen zu werden - und damit hörte ihre Glückssträhne dann auch auf.
Der Steg endete in einer kleinen Plattform, ähnlich der, an der er auf der anderen Seite der Riesenhalle auch begonnen hatte, es gab sogar eine Treppe, eine wahrhaft atemberaubende Konstruktion aus dreieckigen Metallstufen, die ohne Verbindung zueinander an die Wand geschweißt worden waren und deren Abstand nicht stimmte. Aber sie führte nicht zur Halbkugel der Zentrale hinab, sondern dicht an ihr vorbei zu einer niedrigen dreieckigen Tür, die wieder ins Innere des Läufers hineinführte.
Charity stieß enttäuscht die Luft zwischen den Zähnen aus, als sie sah, wie knapp sie ihr Ziel verfehlt hatten. Aber sie ließ sich nichts von ihren wahren Gefühlen anmerken, sondern lächelte den drei Soldaten im Gegenteil aufmunternd zu und trat auf die erste Treppenstufe herab.
Obwohl sie jetzt wußte, daß die Gefahr abzustürzen nicht bestand, schwindele ihr im ersten Moment. So massiv die eisernen Treppenstufen aussahen, vibrierten sie doch fühlbar unter ihrem Gewicht, und der Läufer schwankte und bebte noch immer ununterbrochen. Es war nur ein knappes Dutzend Stufen, aber Charity war in Schweiß gebadet, als sie endlich durch die Tür trat und wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Auch Skudder war deutlich blasser als sonst, und Faller und Phillipsen zitterten am ganzen Leib. Nur Leßter zeigte nicht die geringste Spur von Unsicherheit.
Zumindest nicht bis zu dem Moment, in dem er sich als letzter durch die Tür bückte und mit seinem Instrumentengürtel am Rahmen hängenblieb. Er fing sich sofort wieder, aber sein Kompaß löste sich, prallte klirrend auf der untersten Treppenstufe auf, hüpfte wieder in die Höhe - und verschwand lautlos in der Tiefe.
Charity fuhr sichtbar zusammen, und jetzt verlor selbst Leßter einen Teil seiner unerschütterlichen Selbstsicherheit, als er begriff, daß es das unsichtbare Geländer, das sie oben auf dem Steg geschützt hatte, hier nicht mehr gab.
Eine Sekunde lang starrte er aus weit aufgerissenen Augen in die Halle hinab, dann drehte er sich abrupt zu Charity herum und wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber sie signalisierte ihm mit Blicken, still zu sein, und er verstand. Die beiden anderen Soldaten hatten von dem kleinen Zwischenfall nichts bemerkt, und es war wahrscheinlich auch besser so. Vor allem Phillipsen hatte seine Selbstbeherrschung längst noch nicht wiedergefunden. Charity war sicher, daß er - vielleicht auch Faller - bei der ersten Belastungsprobe zusammenbrechen würde.
Sie hatte längst eingesehen, daß es ein Fehler gewesen war, auf Hartmann zu hören und die drei Soldaten mitzunehmen, statt mit Skudder und Net allein hierher zu kommen, wie sie ursprünglich vorgehabt hatte.
Die drei Männer waren trotz ihrer relativen Jugend ausgebildete Elitesoldaten, die darauf trainiert waren, mit extremen Situationen fertig zu werden. Aber das hier war keine Extremsituation - es war Materie gewordener Wahnsinn. Nichts hier schien irgendwie logisch zu sein. Nichts war in irgendeiner Art voraussehbar. Und es war vor allem die Präsenz der Moroni, die an den Nerven der drei Soldaten zerrte. Skudder war in einer Welt geboren und aufgewachsen, die den Fremden gehörte. Sie selbst hatte von allen Menschen ihrer Generation vielleicht den intensivsten und längsten Kontakt zu den Invasoren der Sterne gehabt und sich in irgendeiner Form wohl an sie gewöhnt. Faller, Leßter und Phillipsen hatten diese Chance nie gehabt. Sie mußte sich immer wieder in Erinnerung rufen, daß die drei jungen Männer genau wie sie vor mehr als einem halben Jahrhundert in die Tiefschlafkammern der Bunkerfestung gestiegen und erst vor wenigen Wochen wieder erwacht waren. Obwohl es mehr als fünfzig Jahre her war, war der Schock über den Verlust und die furchtbare Veränderung ihrer Heimat für sie so frisch, als wäre es erst gestern geschehen.
Sie verscheuchte den Gedanken und wandte sich nach links; in die Richtung, in der die Zentrale des Läufers lag. Aber sie war erst ein paar Schritte gegangen, als sie ein Geräusch hörte und abrupt stehenblieb. Hastig hob sie die Hand, als Skudder etwas sagen wollte, und der Hopi verstummte und schloß die Augen, um ebenfalls zu lauschen.
Es waren Schritte. Nicht die Schritte von Menschen, sondern das harte, unrhythmische Klack-Klack horniger Insektenbeine, die in unmöglich zu schätzendem Tempo näher kamen. Und es mußt viele sein; mindestens ein Dutzend.
»In Deckungl« flüsterte sie erschrocken. »Versteckt euch irgendwo!«
Gleichzeitig fuhr sie selbst herum und zerrte Phillipsen, der vor Schrecken wie erstarrt hinter ihr stand, einfach mit sich. Aber sie blieb nach wenigen Schritten wieder stehen.
Der Gang erstreckte sich dreißig oder vierzig Schritte vor ihnen, bis er hinter der sanften Krümmung des riesigen Maschinenleibes verschwand, und es gab nirgendwo eine Tür oder auch nur eine Nische, die groß genug wäre, einen Menschen zu verbergen; geschweige denn fünf.
Charitys Gedanken überschlugen sich. Die Schritte der Ameisen waren bereits hörbar näher gekommen. In wenigen Augenblicken würden sie hinter ihnen um die Ecke biegen und sie sehen.
»Zurück auf die Treppe!« befahl sie.
Phillipsen wollte widersprechen, aber Charity versetzte ihm einen groben Stoß, der ihn haltlos auf die Tür zutaumeln ließ, und Skudder tat kurzerhand dasselbe mit Faller, während Leßter ohne zu zögern und als erster wieder auf die Irrsinnstreppe hinaustrat und ein paar Stufen nach oben lief, um Platz für sie zu machen.
»Ich gehe da nicht hinauf!« sagte Phillipsen und versuchte sich loszureißen.
Charity packte ohne ein Wort seinen Arm und verdrehte ihn mit einem Ruck. Phillipsen keuchte vor Schmerz, stellte aber seinen Widerstand ein und taumelte vor ihr her. Als sie aber die Tür erreichten, hielt er sich mit der freien Hand am Rahmen fest und stemmte sich mit aller Gewalt gegen Charity.
»Nein!« keuchte er. »Nicht! Wir werden abstürzen! Ich weiß es!«
»Verdammt, Mann - seien Sie doch vernünftig!« Charity wandte gehetzt den Blick und sah den Gang hinab. Die Schritte der Ameisen waren so nahe, daß höchstens noch Sekunden vergehen konnten, ehe sie erschienen. »Sie werden uns alle erwischen, wenn Sie sich nicht zusammenreißen!«
Phillipsen schien ihre Worte gar nicht zu hören. »Wir gehen sowieso drauf!« keuchte er. »Wir...«
Und plötzlich erschien eine Gestalt in einem grau-grün gefleckten Tarnanzug hinter ihm, packte ihn mit beiden Händen am Gürtel und im Nacken - und schleuderte ihn im hohen Bogen durch die Tür und in die Leere jenseits der Treppe hinaus!
Charitys Entsetzen war so gewaltig, daß sie in der ersten Sekunde überhaupt nicht begriff, was eigentlich passiert war. Völlig fassungslos stand sie da, und wahrscheinlich wäre sie auch weiter einfach so stehengeblieben, hätte Leßter im nächsten Augenblick nicht auch sie am Arm ergriffen und mit einem groben Ruck zu sich heraus auf die Treppe und dann zwei Stufen weit in die Höhe gezerrt. Fast in der gleichen Sekunde hörte sie, wie die Schritte der Moroni hinter ihm um die Gangbiegung kamen und sich der Tür näherten.
Sie wollte etwas sagen, aber Leßter bedeutete ihr mit einem fast entsetzten Blick, still zu sein, und preßte sich mit dem Rücken eng gegen die Wand. Charity folgte seinem Beispiel, zumal der Läufer in diesem Moment besonders heftig erzitterte und bebte, so daß sie fast ihr Gleichgewicht verloren hätte, aber es gelang ihr nicht mehr, sich auf die Schritte der Moroni auf dem Gang zu konzentrieren. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Leßter an, und es gelang ihr noch immer nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Auch Faller und Skudder standen wie erstarrt da und waren von dem, was sie beobachtet hatten, offenbar ebenso schockiert wie Charity.
Die Schritte der Moroni näherten sich der Tür, gingen an ihr vorbei und begannen wieder leiser zu werden. Als sie schließlich verklungen waren, schob sich Leßter vorsichtig an Charity vorbei, lugte in den Gang hinaus und trat dann mit einem erleichterten Aufatmen wieder von der Treppe herunter. »Ihr könnt kommen«, sagte er. »Sie sind fort.«
Charity folgte ihm. Der Gang war wieder so verlassen wie vorhin, und Leßter stand hoch aufgerichtet da und blickte in die Richtung, in die die Moroni verschwunden waren.
Als er sich herumdrehte, schlug Charity warnungslos und so hart die Faust unter das Kinn, daß er gegen die gegenüberliegende Wand taumelte und daran zu Boden sank.
Einem Moment lang blieb er benommen hocken, dann versuchte er, sich unsicher aufzurichten, und streckte die Hand aus.
Charity trat ihm entgegen, ergriff seine ausgestreckte Hand, zog ihn halb in die Höhe und verdrehte seinen Arm dann mit einem so plötzlichen Ruck auf den Rücken, daß er nicht die Spur einer Chance hatte, sich zu wehren. Gleichzeitig schlang sie den anderen Arm von hinten um seinen Hals und bog seinen Kopf zurück. »Skudder!« sagte sie. »Nimm seine Waffen!«
»Was soll das?« stöhnte Leßter. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. »Was tun Sie da?«
Charity bog seinen Kopf noch ein wenig weiter zurück, so daß Leßter sich das bißchen Luft, das er noch bekam, lieber dafür aufhob zu atmen, während Skudder ihn blitzschnell entwaffnete und dann wieder einen Schritt zurücktrat. Sein Gesicht war wie aus Stein, aber Charity sah den Ausdruck in seinen Augen und spürte, daß in dem Hopi dasselbe vorgehen mußte wie in ihr. Sie mußte sich beherrschen, um Leßter nicht auf der Stelle umzubringen. Und vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie es nicht tat, der, daß sie einfach nicht verstand, warum er das getan hatte.
Sie ließ Leßter los und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß, der ihn abermals schwer gegen die Wand prallen ließ. Im letzten Moment fing er seinen Sturz ab und drehte sich schwerfällig herum.
Charity zog die Strahlenpistole und richtete sie drohend auf Leßters Brust. »Eine falsche Bewegung«, sagte sie leise, »und ich werde Sie mit größtem Vergnügen erschießen, Leßter.«
Der Soldat starrte sie mit einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit an. »Was ... was tun Sie da?« stammelte er. »Was soll das?« Langsam hob er den Arm, fuhr sich mit dem Handrücken über seine aufgeplatzte Unterlippe und blickte fast vorwurfsvoll auf das Blut auf seiner Hand herab. »Sie haben mich geschlagen.«
»Warum haben Sie das getan?« flüsterte Charity. Plötzlich bebte ihre Stimme. Die Waffe in ihrer Hand zitterte so heftig, daß sie die zweite Hand zu Hilfe nehmen mußte, um sie ruhigzuhalten, und wieder spürte sie für eine Sekunde jenen schrecklichen, kaum noch zu unterdrückenden Impuls, einfach abzudrücken. »Warum haben Sie das getan?« fragte sie noch einmal. »Warum haben Sie ihn umgebracht?«
Leßter sah sie mit einem Ausdruck an, als begriffe er den Sinn dieser Frage überhaupt nicht. Dann sagte er: »Er war eine Gefahr für uns. Er hätte uns alle verraten.«
»Du verdammter Mistkerl!« sagte Faller gepreßt. »Dafür bringe ich dich um! Ich schwöre dir, daß du hier nicht lebend rauskommst!«
Der Ausdruck von Verblüffung auf Leßters Gesicht wurde immer tiefer. »Aber ich mußte es tun!« sagte er. »Es gab keine andere Möglichkeit. Er hätte uns verraten.«
»Er war Ihr Kamerad, Leßter«, sagte Charity leise.
»Er ist zu einer Gefahr für uns geworden«, erwiderte Leßter abermals.
Charity hatte das Gefühl, daß etwas in ihr zu Eis erstarrte. Was sie am meisten entsetzte, war vielleicht die Tatsache, daß Leßter diese Worte ganz genau so meinte, wie er sie aussprach. Es war keine Ausrede.
»Erschießen Sie ihn!« sagte Faller. »Bringen Sie ihn um ... oder ich tue es!«
»Vielleicht sollte ich das wirklich tun«, murmelte Charity. »Und vielleicht werde ich es sogar tun. Später.«
Sie gab Leßter einen befehlenden Wink mit der Waffe. »Drehen Sie sich herum. Und nehmen Sie die Hände auf den Rücken.«
Leßter blickte sie nur eine Sekunde lang verwirrt an, aber dann gehorchte er, und ohne ein weiteres Wort trat Skudder hinter ihn und band seine Hände so fest zusammen, daß sich Leßters Gesicht für einen Moment vor Schmerz verzerrte. »Warum tun Sie das?« fragte er verwirrt. »Ich...«
Skudder schlug ihm mit dem Handrücken über den Mund, und Leßter taumelte erneut gegen die Wand und brach mit einem schmerzhaften Keuchen ab.
»Wir müssen weiter«, sagte Charity. »Skudder ... du paßt auf ihn auf. Wenn er zu fliehen versucht, erschieße ihn.«
»Sie wollen diesen Kerl doch nicht mitnehmen!« fuhr Faller auf.
»Wir können ihn nicht hierlassen«, antwortete Charity. »Und wir können auch selbst nicht hierbleiben.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. »Wahrscheinlich haben sie die Leiche schon gefunden, falls sie ihnen nicht genau auf die Köpfe gefallen ist. In ein paar Minuten wird es hier von bewaffneten Ameisen nur so wimmeln.«
Faller wollte abermals auffahren, aber Charity brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen und ging dann ohne ein weiteres Wort los.
Sie waren der Kommandozentrale des Läufers näher, als sie zu hoffen gewagt hatte. Schon wenige Schritte hinter der Gangbiegung stießen sie auf eine massive Tür aus dem gleichen matt silbernen Metall, aus dem auch die Halbkugel drinnen in der Halle gefertigt war. Sie war nicht einmal verschlossen, sondern stand eine gute Handbreit offen, so daß sich Charity vorsichtig nähern und einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen konnte.
Es war die Zentrale. Der Raum hatte die Form einer im oberen Drittel abgeflachten Halbkugel, und der kleine Ausschnitt, den Charity davon erkennen konnte, ähnelte eher der Brücke eines altertümlichen Schlachtschiffes als der Kommandozentrale einer so bizarren Maschine wie dieser.
Charity beobachtete die Ameisen, die hinter fremdartig geformten Instrumentenpulten saßen oder aufrecht vor den Kontrollapparaten an der Wand standen und sie mit ihren vier Armen bedienten, einige Sekunden lang aufmerksam, dann schlich sie zu den anderen zurück. »Es sieht so aus, als hätten sie Phillipsen noch nicht gefunden«, sagte sie. »Dort drinnen ist jedenfalls alles ruhig.«
Skudder steckte wortlos die Pistole ein und nahm das Gewehr von den Schultern, aber Charity schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier und paßt auf Leßter auf«, befahl sie. »Faller und ich gehen.«
Fast zu ihrer eigenen Überraschung widersprach Skudder nicht, und Charity gab auch Faller keine Gelegenheit zu irgendwelchen Einwänden, sondern nahm das Gewehr von der Schulter, schnippte mit dem Daumen den kleinen Schalter um, der die Waffe von tödlicher Energieabgabe auf Betäubung umschaltete, und befahl Faller mit einer Kopfbewegung, dasselbe zu tun.
Hintereinander und lautlos näherten sie sich ein zweites Mal der Tür. Charity blieb noch einmal stehen, sah sich sichernd nach rechts und links um - und stieß die Tür dann mit der Schulter auf.
Die Überraschung war vollkommen. Die Zentrale war weitaus größer, als Charity geglaubt hatte, und insgesamt mußten sich fast ein Dutzend Moroni darin aufhalten. Aber keiner von ihnen war bewaffnet, und Faller und sie gaben den Insektenkreaturen keine Chance, sich auf sie zu stürzen und ihre überlegenen Körperkräfte einzusetzen. Mit zwei, drei langanhaltenden Energiestößen aus ihren Waffen deckten sie den ganzen Raum ab, so daß die Moroni gelähmt über ihren Pulten zusammenbrachen und nicht einmal Zeit fanden, Alarm zu geben. Hier und da stoben Funken auf, und aus einigen Geräten quoll plötzlich Qualm, als die Hochfrequenzschwingungen Kurzschlüsse in den Stromkreisen verursachten. Aber es kam zu keinen größeren Beschädigungen, und die wenigen Brände, die aufflackerten, erloschen fast sofort wieder. Die ganze Aktion dauerte nur zwei oder drei Sekunden, dann war die Zentrale in ihrer Gewalt. Es war beinahe zu leicht.
»Holen Sie Skudder!« befahl sie, während sie selbst einen Schritt zur Seite trat und den Lauf ihres Gewehres von rechts nach links und zurück schwenkte. Sie hatte genug Erfahrung mit den Ameisen, um sich nicht unbedingt auf die Wirkung der Schockwaffe zu verlassen. Diese Wesen waren unglaublich zäh.
Faller ging, und Charity nutzte die wenigen Augenblicke, die sie allein war, sich noch einmal und aufmerksamer in der Zentrale umzusehen. Ihr eigener Vergleich von vorhin fiel ihr wieder ein, und er erschien ihr jetzt noch viel treffender als das erste Mal. Jeder Quadratzentimeter der Wände - mit Ausnahme eines gut drei Meter durchmessenden, sechseckigen Bildschirmes genau auf der anderen Seite des Raumes - war mit Kontroll- und Steuerinstrumenten übersät, und es war ein unglaubliches Durcheinander aus hypermodernen, verwirrenden Computeranlagen und grobschlächtigen, fast primitiven, aber nicht weniger verwirrenden Hebeln, Schaltern und Skalen, die einer vollkommen anderen, um Jahrtausende rückständigeren Technologie zu entspringen schienen. Etwas wie Verzweiflung begann sich in ihr breitzumachen, als sie begriff, wie gering ihre Chancen waren, diese fremdartige Technologie zu verstehen. Nicht in der kurzen Zeit, die ihnen blieb.
Faller und Skudder kamen zurück. Der Hopi schleifte den noch immer völlig fassungslos dreinblickenden Leßter einfach hinter sich her, sah sich mit einem raschen, zufriedenen Blick in der Zentrale um und versetzte Leßter dann einen groben Stoß, der ihn gegen eines der Instrumentenpulte prallen und zu Boden stürzen ließ.
»Faller!« sagte er. »Helfen Sie mir!« Gleichzeitig bückte er sich, lud sich eine der reglosen Ameisen auf die Arme, als hätte sie gar kein Gewicht, und trug sie hinaus auf den Gang. Faller sah ihn einen Moment lang verständnislos an, aber dann begriff er, bückte sich nach einer zweiten Ameise und versuchte, sie ebenso hochzuheben wie Skudder vor ihm. Seine Kräfte reichten nicht. Ächzend ergriff er zwei der vier dürren Arme des Insektenwesens und schleifte es hinter sich her zur Tür.
Charity wollte ihm helfen, aber in diesem Moment kam Skudder zurück und schüttelte den Kopf. »Kümmere dich um die Instrumente«, befahl er. »Wir müssen den Laden hier dicht machen.«
Charity wandte sich widerstrebend um und ging zu dem zurück, was sie für das Steuerpult des Läufers hielt: einem hufeisenförmigen Gestell mit ausgezackten Kanten, das sich direkt unter dem sechseckigen Bildschirm befand. Der riesige Monitor zeigte nichts als das grau-weiße Toben des ewigen Schneesturmes, durch den sich der Läufer bewegte. Darunter befand sich ein sinnverwirrendes Durcheinander aus Skalen und kleinen Bildschirmen, über die Buchstaben- und Zahlenreihen in einer unleserlichen Schrift huschten. Sie begriff nichts.
Und dabei blieb es, bis Faller und der Hopi den letzten Moroni aus dem Raum geschleift und die Tür geschlossen hatten. Charity versuchte mit aller Macht, ihre Erregung zu unterdrücken und sich zu logischem Denken zu zwingen, aber vielleicht funktionierte diese Maschine nicht nach logischen Gesichtspunkten; oder wenn, so nach denen einer Logik, die ihr völlig fremd war. Sie wagte es nicht, irgendeines der Geräte anzurühren. Daß ihr Überfall auf die Zentrale bisher nicht bemerkt worden war, erschien ihr ebenso unglaublich wie die Leichtigkeit, mit der sie sie hatten erobern können. Wenn sie jetzt anfing, sinnlos hier herumzuexperimentieren, dann konnte sie ebensogut gleich hinausgehen und die Krieger rufen, denen sie vorhin um ein Haar entkommen waren. Außerdem hatten sie einfach nicht genug Zeit, um die Funktion der Maschine auf diese Weise herauszufinden. Charity begann sich einzugestehen, daß es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, auf Leßter zu hören. Und für einen Moment fragte sie sich allen Ernstes, warum sie es überhaupt getan hatte. Sie hätte sich an den Fingern einer Hand ausrechnen können, was sie erwartete.
»Wie weit bist du?« fragte Skudder ungeduldig.
Charity schüttelte enttäuscht den Kopf. »Das ist völlig sinnlos«, sagte sie. »Ich verstehe nichts von dem Kram hier. Absolut nichts.«
Skudder blickte sie mit einer Mischung aus Zweifel und allmählichem Erschrecken an. »Aber den Gleiter hast du doch aucn geflogen«, sagte er.
»Das war etwas anderes«, antwortete Charity. »Außerdem, hatte ich Hilfe. Ohne Kyle hätte ich nicht einmal die Triebwerke starten können.«
Skudders Blick irrte unstet zuerst über ihr Gesicht und dann über das verwirrende Durcheinander auf dem Pult vor ihr. »Aber du hast doch...«
»Ich kann Ihnen helfen«, sagte Leßter.
Charity fuhr herum und starrte ihn an. Der junge Soldat hockte mit untergeschlagenen Beinen dort, wo Skudder ihn zu Boden gestoßen hatte. Aus seiner aufgeplatzten Lippe lief noch immer Blut an seinem Kinn herab und tropfte auf seinen Anzug, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war noch immer der von Unverständnis und einem leichten Vorwurf.
»Wie bitte?« fragte Skudder mißtrauisch.
Leßter versuchte aufzustehen und sank mit einem Seufzen wieder zurück, als es ihm nicht gelang. »Ich kann Ihnen helfen«, sagte er noch einmal. »Nehmen Sie mir diese verdammten Fesseln ab, und ich sehe, was ich tun kann.«
»Wieso?« fragte Charity mißtrauisch. »Kennen Sie diese Maschine?«
Leßter schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber ich komme mit jeder Art von Maschinen klar. Irgendwie kann ich das.«
Charity glaubte ihm kein Wort. Irgend etwas war plötzlich an Leßter, das eine ganze Batterie schriller Alarmsirenen hinter ihrer Stirn aufheulen ließ. Verwirrt fragte sie sich, wieso es ihr nicht früher aufgefallen war.
»Ich traue ihm nicht«, sagte Skudder.
Charity erging es nicht anders, und trotzdem nickte sie nach einer weiteren Sekunde und gab dem Hopi einen Wink, Leßters Fesseln zu lösen. Skudder sah sie überrascht an, ohne sich zu rühren.
»Binde ihn los«, sagte Charity. »Es ist immerhin eine Chance.«
Skudder zögerte noch einmal, trat dann aber doch hinter Leßter und band seine Hände los.
»Versuchen Sie Ihr Glück«, sagte Charity.
Leßter trat an das Instrumentenpult heran, blickte einen Moment lang konzentriert darauf hinab und sah dann zum Bildschirm hoch. Der Anblick darauf hatte sich nicht geändert. Dann und wann tauchte ein verschwommener Umriß aus dem Toben des Sturmes auf und verschwand sofort wieder, und manchmal schwankte das Bild von rechts nach links, wenn der Läufer auf seinen gewaltigen Beinen über ein Hindernis kletterte.
»Nun?« fragte Charity nach einer Weile.
Leßter zog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne und begann darauf herumzukauen, obwohl sie noch immer heftig blutete. Der Anblick ließ Charity schaudern.
»Ich brauche eine halbe Stunde«, sagte er. »Glauben Sie, daß Sie sie mir so lange vom Hals halten können?«
»Wen?« fragte Skudder.
Leßter antwortete nicht darauf. Aber kaum eine Sekunde später traf ein dumpfer Schlag die Tür der Zentrale, und eine weitere Sekunde danach begann in jedem einzelnen Raum des Läufers eine Alarmsirene zu heulen.