»Da kommen Sie!« Leßters ausgestreckte Hand deutete auf die drei Gleiter, die als blitzende Silberfunken am Himmel zu erkennen waren. Sie hatten sich sehr schnell genähert, verloren jetzt aber rasch an Geschwindigkeit und hielten schließlich in zwei oder drei Meilen Entfernung des Läufers an. Charity war nicht sicher, glaubte aber zu erkennen, daß es sich um die großen, buckeligen Kampfmaschinen handelte, mit denen sie und die anderen schon über Paris und später Köln Bekanntschaft gemacht hatten. Der Anblick trug nicht unbedingt dazu bei, ihre Nervosität zu lindern. Sie kannte die Feuerkraft dieser fünfzig Meter durchmessenden Flugscheiben. Die Maschinen waren schwer genug bewaffnet, selbst einem Koloß wie dem Läufer ernsthaften Schaden zuzufügen.
»Wieso greifen sie nicht an?« wunderte sich Faller, »Keine Ahnung«, murmelte Leßter. »Vielleicht sind sie nicht sicher, was hier passiert ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Eine Maschine wie diese muß unglaublich wertvoll sein. So etwas zerstört man nicht einfach so.«
Niemand antwortete darauf. Selbst wenn Leßter recht hatte, würde ihnen das allerhöchstem eine Gnadenfrist verschaffen. Die Moroni dort oben würden sehr rasch merken, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Und spätestens wenn sie begriffen, daß diese Maschine ihren Kurs nicht ändern würde, dann würden sie etwas unternehmen.
Auf dem Pult vor Leßter begann eine Reihe verschiedenfarbiger Lichter hektisch zu blinken. Leßter blickte einen Moment lang konzentriert darauf, drückte dann rasch hintereinander drei Schalter, und bis auf eines erloschen die kleinen Lampen.
»Was tun Sie?« fragte Skudder.
»Vermutlich versuchen sie, Verbindung mit uns aufzunehmen«, antwortete Leßter. »Aber ich fürchte, es wird niemand antworten.«
»Dann werden sie herkommen und nachschauen.« Skudder trat heftig auf der Stelle, um die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Trotz der Metallplatte vor der Tür waren die Temperaturen auch hier drinnen weiter gesunken. Es war so kalt, daß sie sich kaum noch bewegen konnten. Boden, Decke und Wände hatten sich mit einer dünnen Rauhreifschicht überzogen, und die Zentrale glich eher einer Eisgrotte als dem Kommandostand eines gewaltigen Roboters. Leßter fuhr manchmal mit dem Handschuh über die Instrumente vor sich, um das Eis wegzuwischen. Und es würde immer noch kälter.
Eine der drei Maschinen löste sich aus der Formation und kam langsam näher. Das winzige grüne Licht auf dem Kontrollpult flackerte heftiger, und Leßters Finger begannen wieder, über Schalter und Tasten zu huschen. Der Gleiter verlor allmählich an Höhe und wuchs von einem formlosen, silbernen Funkeln zu einer buckeligen Scheibe mit zahllosen Auswüchsen und Beulen heran.
Plötzlich hörte Charity ein mahlendes Knirschen, und neben ihr löste sich eine Platte aus dem Eispanzer, der das Pult überzog. Darunter kam eine vieleckige Metallskulptur zum Vorschein, die sich knirschend in die Höhe hob und auf deren Oberseite verschiedenfarbige Lichter zu blinken begannen. Etwas wie ein Griff, der nicht für menschliche Hände geschaffen war, ragte aus seiner linken Seite heraus. Gleichzeitig erschien auf dem Hauptbildschirm ein dünnes Spinnennetz aus roten Linien, das eine Art Fadenkreuz über dem näherkommenden Gleiter bildete.
»Übernehmen Sie es, Captain Laird«, sagte Leßter. »Das System ist das gleiche wie das in dem Gleiter, den Sie in Paris erbeutet haben.«
Charity blickte ihn verblüfft an. Leßter hatte recht - aber das konnte er unmöglich wissen! Sie hatte weder ihm noch den beiden anderen je erzählt, daß Kyle ihr gezeigt hatte, wie man die Bewaffnung der Gleiter bediente!
»Feuern Sie!« sagte Leßter. Seine Stimme klang plötzlich angespannt, aber auch so befehlend, daß Charity automatisch gehorchte. Obwohl das Metall so kalt war, daß eine Berührung selbst durch die dicken Handschuhe hindurch wie Feuer auf ihrer Haut brannte, packte sie den Griff, dirigierte das Fadenkreuz auf dem Bildschirm über den näherkommenden Gleiter - und drückte den Feuerknopf.
Ein grellweißer Blitz schoß aus dem oberen Drittel des Läufers, hüllte den Gleiter ein und ließ ihn in einer ungeheuren Explosion auseinanderbersten.
Charity zog hastig den Arm zurück und preßte die schmerzende Handfläche gegen die Brust. Ihr Blick hing wie gebannt am Bildschirm.
Die beiden anderen Gleiter verharrten für eine Sekunde reglos auf ihrer Position, zwei oder drei Meilen vor und eine über den Läufer, dann schössen sie mit einem jähen Ruck in die Höhe, beschrieben eine enge Schleife - und rasten mit irrsinniger Geschwindigkeit wieder heran!
Charity und die anderen schlossen geblendet die Augen, als dünne, grellweiße Laserblitze aus ihren Flanken brachen und krachend in den Metallkörper des Riesenroboters einschlugen. Der Boden zitterte, und für einen Moment glaubte Charity zu spüren, wie die ganze Maschine kippte.
Aber dann fand der Läufer sein Gleichgewicht wieder. Die Strahlensalve hatte ihn erschüttert, aber nicht ernsthaft beschädigen können.
Sie erwachte endlich aus ihrer Erstarrung und wollte wieder nach dem Feuerhebel greifen, aber es war nicht mehr nötig. Die beiden Gleiter rasten nur wenige Dutzend Meter über den Läufer hinweg, schwenkten herum und versuchten, an Höhe zu gewinnen, um zu einem zweiten Angriff anzusetzen, aber sie kamen nicht mehr dazu. Plötzlich zuckte ein halbes Dutzend greller Blitze aus den Flanken des Läufers hervor, tasteten wie dürre Finger aus Licht nach den beiden Flugmaschinen und zerfetzten sie!
»Was ... was war das?« fragte Skudder verblüfft.
Leßter lächelte leicht. »Das, was ich gehofft habe«, sagte er. »Ich war nicht ganz sicher, wenn ich ehrlich sein soll. Aber dieses Ding hat einen Selbstverteidigungsmechanismus. Es schlägt zurück, wenn es angegriffen wird. Völlig egal, von wem.«
»Und das haben Sie nur vermutet?« fragte Skudder böse. »Verdammt, Leßter, für wie dumm halten Sie uns? Sie kennen sich mit diesem Ding ein bißchen zu gut aus, als daß ich Ihnen die Geschichte von einem Zufall noch glaube.«
»Ich sagte bereits, ich begreife seine grundlegenden Funktionen«, antwortete Leßter gleichmütig. »Aber wenn Sie mir nicht glauben ...« Er machte eine einladende Geste auf das Pult und trat zurück. »Sie können gern das Kommando übernehmen.«
Charity blickte immer noch ungläubig auf den Bildschirm, auf dem die Feuerbälle der explodierenden Gleiter nur allmählich auseinandertrieben.
Ein dumpfes Stöhnen und das Geräusch eines schweren Körpers, der zu Boden stürzte, ließ Charity herumfahren. Sie sah gerade noch, wie Faller mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden stürzte und sich krümmte. Mit einem Satz war sie bei ihm und kniete neben ihm nieder. Der junge Soldat stöhnte. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesicht war wie eine weiße Maske aus Eis. Im ersten Moment glaubte sie schon, er wäre tot, denn seine Haut fühlte sich so kalt an wie der Stahl, auf dem er lag, aber dann verzog er unter ihrer Berührung schmerzlich die Lippen.
»Was ist mit ihm?« fragte Skudder, der hastig hinter sie getreten war.
»Er erfriert«, sagte Charity. Mit einem Gefühl von heftigem Schuldbewußtsein erinnerte sie sich daran, daß Faller anders als sie keinen Anzug trug, der für eine kurze Zeit sogar der Weltraumkälte standhalten konnte, sondern nur eine ganz normale Montur; zwar isoliert, aber nicht für diese Temperaturen gedacht.
»Wir müssen ihn wärmen«, sagte sie. »Irgendwie.«
»Aber wie?« Skudder sah sich fast gehetzt in der Zentrale um. Der Raum war riesig und vollgestopft mit Instrumenten und Geräten, aber es gab absolut nichts, was brennbar gewesen wäre.
»Leßter!« sagte sie. »Tun Sie etwas!«
»Das kann ich nicht«, antwortete Leßter. »Es tut mir leid.«
Skudder blickte auf den bewußtlosen Soldaten hinab. Charity konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Plötzlich streifte er das Gewehr von der Schulter, zielte auf den Teil der Rückwand, den der grüne Energiestrahl der Moroni bereits halb aufgelöst hatte, und drückte drei-, viermal hintereinander ab.
Charity schloß geblendet die Augen, als die grellweißen Energieblitze in das Metall fuhren und es kirschrot aufglühen ließen. Die Luft in der Zentrale füllte sich schlagartig mit Dampf.
»Hilf mir!« Skudder ging hinter Fallers Kopf in die Hocke und ergriff den Reglosen unter den Achselhöhlen, während Charity seine Beine nahm. Gemeinsam schleiften sie ihn durch die Zentrale und legten ihn behutsam dicht vor der rotglühenden hinteren Wand wieder zu Boden.
Nach der grausamen Kälte spürte Charity die Hitze, die das Metall ausstrahlte, doppelt schmerzhaft. Sie hatte das Gefühl, ihr Gesicht stünde in Flammen, und auch Skudder blinzelte heftig und drehte das Gesicht zur Seite.
»Eine etwas dramatische Art, die Heizung einzuschalten, finden Sie nicht?« fragte Leßter ruhig.
Charity zuckte mit den Schultern. »Aber es funktioniert.« An die radioaktive Strahlung, die sie alle drei in diesem Moment abbekamen, wagte sie vorsichtshalber gar nicht zu denken. Es spielte auch keine Rolle.
Wenn die Gammastrahlung sie nicht umbrachte, dann würde es die Kälte tun. Der Läufer marschierte weiter nach Norden, weiter auf den Ring künstlich erzeugter Weltraumkälte zu, der New York zu einer uneinnehmbaren Festung machte. Es würde bald noch sehr viel kälter hier drinnen werden.
»Paß auf ihn auf«, sagte sie zu Skudder, während sie aufstand. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den rotglühenden Teil der Wand. Skudders Schüsse hatten ungefähr einen Quadratmeter des Metalls zum Schmelzen gebracht, aber die Hitze ließ bereits nach. Und sie war nur auf einen kleinen Bereich vor der Wand beschränkt. Wenn es hier drinnen noch kälter wurde, dachte sie bitter, dann hatten sie die Wahl, gegrillt oder tiefgefroren zu werden. Wahrscheinlich beides. Gleichzeitig und von zwei verschiedenen Seiten.
Sie verscheuchte den Gedanken und trat wieder neben Leßter. Automatisch glitt ihr Blick über den Bildschirm, ehe sie sich an den Soldaten wandte. »Was haben Sie eigentlich vor?« fragte sie. »Uns umzubringen?«
Leßter schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Wir sind hier sicher«, sagte er. »Diese Maschine kann ganz gut auf sich aufpassen. Sie müssen schon eine ganze Flotte aufbieten, um sie zu stoppen.«
»Ja«, entgegnete Charity, »oder eine einzelne Rakete mit einem großen Sprengkopf. Haben Sie schon einmal an diese Möglichkeit gedacht?«
Leßter lächelte, dann schüttelte er wieder den Kopf. »Natürlich«, sagte er. »Aber das werden sie nicht wagen.«
»Und wieso nicht?« erkundigte sich Charity. Leßter machte eine Handbewegung zum Bildschirm.
»Wir befinden uns keine zwanzig Meilen mehr von der Stadt entfernt«, sagte er. »Dieser Läufer ist groß, Captain Laird. Verdammt groß. Um einen solchen Koloß zu stoppen, brauchen sie eine Wasserstoffbombe. Und eine solche Waffe so nah bei ihrem Hauptquartier zu zünden, das wagen sie nicht.«
Charity hoffte zumindest, daß er recht hatte.
»Selbst wenn«, sagte sie. »Wir kommen niemals in die Stadt hinein, Leßter. Sie werden uns mit einer ganzen Armee erwarten.«
»Davon gehe ich aus«, sagte Leßter ruhig. »Keine Sorge, Captain Laird - ich werde dafür sorgen, daß sie anderes zu tun haben als nach uns zu suchen.«
Sie sagte nichts mehr darauf - und sei es nur aus dem Grund, daß sie nicht mehr sicher war, sich wirklich noch beherrschen zu können, wenn sie weiter mit Leßter sprach.
Wortlos wandte sie sich um und ging zu Skudder und dem bewußtlosen Faller zurück.