9

Eine halbe Periode später, nachdem sie lange Strecken unvertrauter Gänge hinter sich hatten, blieb Jared stehen und lauschte angestrengt.

Da war es wieder! Ein schwaches Flügelschlagen — viel zu leise für Dellas Ohren allerdings.

»Jared, was ist denn?« Sie preßte sich an ihn.

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, meinte er leichthin.

In Wirklichkeit argwöhnte er schon seit einiger Zeit, daß der Vampir sie verfolgte.

»Vielleicht einer der Zerver!« meinte sie freudig.

»Das hatte ich zuerst auch gehofft. Aber es war ein Irrtum. Nichts zu hören.« Es hatte keinen Sinn, sie zu ängstigen — noch nicht.

Solange er das Gespräch in Gang zu halten vermochte, brauchte er sich über im Weg befindliche Gruben keine Sorgen zu machen. Die Worte lieferten deutliche Echos. Aber die Auswahl der Themen schien nicht unerschöpflich, und schließlich wurde es manchmal still. In diesen Pausen mußte er zur List Zuflucht nehmen, um das Mädchen nicht merken zu lassen, daß er kein Zerver war. Ein Husten im richtigen Moment, ein Klappern der Speere, ein unnötiges Schleifen am Boden, das einen Stein entlangkullern ließ — all diese Improvisationen halfen ihm weiter.

Er ließ einen Speer gegen Fels schlagen und entdeckte eine Biegung des Tunnels. Als er ihr folgte, warnte Della: »Paß auf, ein hängender Stein!«

Ihre Worte lieferten den Eindruck der schmalen Felsnadel in aller Deutlichkeit. Aber zu spät.

Peng!

Der Aufprall seines Schädels ließ die Nadel bersten; die Bruchstücke flogen an die Felswand.

»Jared«, fragte sie verwirrt, »zervst du denn nicht?«

Er heuchelte ein Stöhnen, um nicht antworten zu müssen — obgleich die Schwellung an seiner Stirn Rechtfertigung genug für einen Schmerzenslaut bot.

»Bist du verletzt?«

»Nein.« Er marschierte weiter.

»Und du zervst auch nicht.«

Er atmete schneller. Hatte sie es schon bemerkt? Verlor er jetzt seine einzige Chance, in die Zerverwelt gelangen zu können?

Aber obgleich sie davon überzeugt war, daß er nicht zervte, lachte sie. »Du hast dieselben Schwierigkeiten wie ich — bis ich mir sagte ›Zur Strahlung mit allem, was die Leute denken! Ich zerve, soviel ich will!‹«

Er benützte den Widerhall ihrer Worte, sich die Einzelheiten des Gebiets unmittelbar vor ihm genau einzuprägen. »Du hast recht. Ich habe nicht gezervt.«

»Wir brauchen unsere Fähigkeit nicht mehr zu verbergen, Jared.« Sie hängte sich an seinen Arm. »Das liegt alles hinter uns. Wir können zum erstenmal wir selber sein — wirklich und ganz! Ist das nicht herrlich?«

»Gewiß.« Er rieb sich die Beule an seiner Stirn. »Herrlich.«

»Dieses Mädchen, das dich beim Unteren Schacht erwartet hat —«

»Zelda?«

»Was für ein seltsamer Name — und dann auch noch Haar vor dem Gesicht! War sie — eine Freundin?«

Wenigstens lief die echoerzeugende Unterhaltung wieder. Und jetzt konnte er auch alle Hindernisse deutlich hören.

»Ja, man kann sie wohl so nennen.«

»Eine gute Freundin?«

Selbstbewußt führte er sie um einen flachen Krater herum; er rechnete halb mit einem lobenden: »Jetzt zervst du endlich!« Aber es blieb aus.

»Ja, eine gute Freundin«, erwiderte er. »Das habe ich mir gedacht — nachdem sie auch so treu auf dich gewartet hat.«

Er wandte den Kopf ab und lächelte. Den Zervern mangelte es also anscheinend nicht an normaler menschlicher Empfindlichkeit. Es machte ihm Spaß, als sie schmollend fragte: »Wirst du sie — sehr vermissen?«

Seine Belustigung verbergend, sagte er tapfer: »Ich denke, ich werde schon darüber hinwegkommen.«

Er hustete wieder einmal unnötigerweise und entdeckte einen undeutlichen Hohlraum. Glücklicherweise traf er beim nächsten Schritt einen kleinen Stein, der am Boden entlangrollte. Die Echos zeigten Einzelheiten einer Kluft, die sich quer durch den halben Tunnel erstreckte.

Della warnte. »Zerv diese —«

»Ich habe sie schon gezervt!« gab er sofort zurück und führte sie um das Hindernis. Nach einer Weile meinte sie: »Du hast viele Freunde gehabt, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht, daß ich jemals einsam gewesen bin.« Sofort bedauerte er diesen Satz, da er vermutete, daß ein Zerver in seiner Lage automatisch einsam gewesen sein mußte — unzufrieden mit seinem Schicksal.

»Du wußtest nicht einmal, daß du anders warst als alle anderen?«

»Ich meinte, die meisten Leute waren so nett, daß ich beinahe mein Anderssein vergessen konnte«, ergänzte er rasch.

»Du hast sogar das arme Zerverkind gekannt«, sagte sie nachdenklich.

»Estel. Ich habe sie vorher nur einmal gehört — gezervt.« Er berichtete von seiner Begegnung mit dem flüchtenden Kind.

Als er zu Ende gekommen war, fragte sie: »Du hast Mogan und die anderen fortgehen lassen, ohne ihnen zu sagen, daß du auch ein Zerver bist?«

»Ich — das heißt —« Er schluckte krampfhaft.

»Oh«, rief sie, plötzlich begreifend, »ich habe vergessen — du hattest ja deinen Freund Owen bei dir. Und er hätte dein Geheimnis sonst erfahren.«

»Ganz richtig.«

»Auf jeden Fall konntest du den Unteren Schacht nicht verlassen, weil man dich dort so dringend brauchte.«

Er horchte argwöhnisch. Warum war sie so schnell bei der Hand, die Antworten zu liefern, nach denen er mühsam gesucht hatte? Es schien, als hätte sie ihn hübsch säuberlich aufgespießt, um ihn dann wieder freizulassen. Wußte sie denn, daß er kein Zerver war? Irgendwie machte alles den Eindruck, als verschwände sein ganzer Plan zur Erforschung der Zusammenhänge der Zerver-Dunkelheit-Augen-Licht in einer geheimnisvollen Echoleere.

Wieder wurde er von Flügelschlägen aus seinen Gedanken gerissen — Della konnte es wegen der Ferne immer noch nicht hören. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, konzentrierte er sich auf das Geräusch. Jetzt wurden sie schon von zwei Bestien verfolgt!

Das Klügste wäre gewesen, Deckung zu suchen und sofort dem Angriff der Vampire zu begegnen — bevor sie noch andere Artgenossen herbeilockten. Er verzichtete darauf in der Hoffnung, der Tunnel würde sich so weit verengen, daß er zwar ihn und das Mädchen, aber nicht mehr die Vampire durchließ. Er wurde langsamer und wartete darauf, daß Della etwas sagte, um mehr Echos zu gewinnen.

Peng!

Der Anprall der Schulter gegen einen hängenden Stein war diesmal nicht ganz so heftig. Er wurde nur herumgeworfen.

Wütend nahm er ein Paar Echosteine aus seinem Beutel und schlug sie gegeneinander. Zur Strahlung mit ihren Gedanken! Bitte, dann kam eben heraus, daß er kein Zerver war!

Della lachte nur. »Benütze nur deine Steine, wenn du dich damit sicherer fühlst. Mir ging es genauso, als ich anfing, ständig zu zerven.«

»Tatsächlich?« Er schlug jetzt eine schnellere Gangart an, da alles vor ihm deutlich zu hören war.

»Du wirst dich bald daran gewöhnen. Es liegt an den Luftströmungen. Sie sind wunderschön, aber sie ermüden sehr.«

Strömungen? Hieß das, daß sie eine Möglichkeit hatte, langsam strömende Luft in den Tunnels zu erkennen — er selbst konnte sie nur hören, wenn sie durch einen fliegenden Speer oder Pfeil in größere Unruhe gebracht wurde.

Diesmal stolperte Della. Sie prallte gegen ihn, wodurch sie beide das Gleichgewicht verloren und gegen die Wand taumelten.

Sie klammerte sich an ihn, und er fühlte die feuchte Wärme ihres Atems an seiner Brust, die zarte Weichheit ihres Körpers an dem seinen.

Er hielt sie einen Augenblick fest, und sie flüsterte: »Oh, Jared! Wir werden ja so glücklich sein! Niemals hatten zwei Leute so viel gemeinsam!«

Ihre glatte Wange preßte sich gegen seine Schulter, und ihr zusammengebundenes Haar lag weich über seinem Arm.

Er ließ die Speere fallen, berührte ihr Gesicht und fühlte die ebenmäßigen Züge. Ihre Taille war schmal unter seiner Hand, darunter rundeten sich die Hüften.

Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht klar erkannt, daß sie weit mehr werden konnte als ein Mittel zum Zweck. Und er war davon überzeugt, sich getäuscht zu haben, als er annahm, sie wolle ihn täuschen — so überzeugt, daß er daran dachte, alles zu vergessen und sich mit ihr in irgendeiner fernen Welt niederzulassen.

Aber ernüchternde Logik meldete sich zu Wort; er hob abrupt die Speere auf und machte sich wieder auf den Weg. Della gehörte zu den Zervern; er nicht. Sie würde ihr Glück in der Zerverwelt finden, und er mußte sich mit seiner Suche nach Licht begnügen — wenn er sein Eindringen in die Zerverwelt überlebte.

»Zervst du jetzt, Della?« fragte er vorsichtig.

»Ja, die ganze Zeit. Du wirst es auch bald tun.«

Zur Probe lauschte er angestrengt, in der vagen Hoffnung, irgendeine kaum merkliche Veränderung in ihrer Umgebung zu erkennen. Aber er hörte nichts. Es mußte sein, wie er früher vermutet hatte: Die gesuchte Abnahme war so geringfügig, daß er eine ganze Anzahl von Zervern gleichzeitig belauschen mußte, um die insgesamt hervorgerufene Wirkung zu bemerken.

Aber halt! Es gab einen direkten Weg.

»Della, sag mir — was denkst du über die Dunkelheit?«

Und er konnte durch die Echos ihr Stirnrunzeln hören, als sie die Frage wiederholte und unsicher meinte: »Dunkelheit erfüllt die Welten —«

»Die Sünde und das Böse, ohne Zweifel.«

»Selbstverständlich. Was sonst?«

Es war klar, daß sie nichts von der Dunkelheit wußte. Und selbst wenn sie Dunkelheit erkennen konnte, begriff sie nicht, was sie vor sich hatte.

»Warum zerbrichst du dir über die Dunkelheit so sehr den Kopf?« fragte sie.

»Ich dachte gerade«, improvisierte er, »daß das Zerven etwas der Dunkelheit Entgegengesetztes sein muß — etwas Gutes.«

»Natürlich ist es gut«, versicherte sie und folgte ihm am Ufer eines plötzlich aufgetauchten Flusses entlang. »Wie könnte etwas so Schönes schlecht sein?«

»Es ist — schön?« Er bemühte sich, im letzten Augenblick den Frageton zu unterdrücken. Aber trotzdem klang der Satz eher wißbegierig als feststellend.

»Dieser Felsen dort vorne — zerv, wie er sich gegen den Hintergrund kühler Erde abzeichnet, wie warm und sanft er ist«, schilderte sie angeregt. »Jetzt ist er nicht mehr da, aber nur für einen Herzschlag — bis dieser Schwall warmer Luft vorüberzieht. Hier kommt er wieder.«

Sein Mund stand offen. Wie konnte der Felsen hier und im nächsten Moment verschwunden sein? Er hatte doch die ganze Zeit die Echos seiner Steine zurückgeworfen. Nicht um die Breite eines Fingers war der Felsen von der Stelle gewichen!

Jared hörte, daß der Tunnel breit war und gerade verlief. Er legte die Steine wieder in den Beutel.

»Du zervst jetzt, nicht wahr, Jared? Was kannst du zerven?«

Er zögerte zunächst, sagte dann impulsiv: »Dort — mitten im Fluß — zerve ich einen Fisch. Einen großen, der sich gegen das kühle Flußbett abhebt.«

»Wie ist das möglich?« fragte sie skeptisch. »Ich kann ihn nicht zerven.«

Aber der Fisch war doch da! Er konnte die Bewegung der Flossen im Wasser hören. »Er ist aber da.«

»Ein Fisch ist doch nicht wärmer oder kälter als das Wasser, in dem er schwimmt. Außerdem habe ich weder Steine noch irgend etwas anderes in Wasser zerven können — nicht einmal, wenn ich es selbst eben erst hineingeworfen hatte.«

Jetzt konnte nur noch Kühnheit helfen. »Ich kann Fische zerven. Vielleicht zerve ich anders als du.«

Sie war hörbar erregt. »Daran habe ich nicht gedacht. Oh, Jared, wenn ich nun gar kein richtiger Zerver bin!«

»Du bist schon einer, keine Angst.« Er versank in grübelndes Schweigen. Wie konnte man jemals hoffen, daß sich ein Zerver überlisten ließ?

Das erschreckende Flattern ledriger Flügel erreichte ihn, und er staunte darüber, daß etwas so deutlich Vernehmbares der Aufmerksamkeit Dellas entging. Die Bestien hatten ein Teilstück des Tunnels mit größerem Durchmesser erreicht und schossen jetzt mit zunehmender Geschwindigkeit dahin.

Er blieb stehen und lauschte. Sie wurden nicht mehr von nur zwei Vampiren verfolgt. Man hörte deutlich, daß sich ihre Zahl inzwischen mindestens verdoppelt haben mußte.

»Was ist denn, Jared?« erkundigte sich Della.

Eine der Bestien ließ ihren kreischenden Ruf hören.

»Vampire!« erschrak Della.

»Nur einer.« Er durfte sie nicht ängstigen, solange eine Chance bestand, den Fledermäusen ungeschoren zu entrinnen. »Geh du voran. Ich bleibe ab jetzt hinter dir — für den Fall, daß die Vampire angreifen.«

Er freute sich, aus der Situation vorübergehend einen Vorteil gewonnen zu haben. Solange sie vorausging, brauchte er nicht von Zeit zu Zeit den Beweis dafür zu liefern, daß er zervte. Sie hatte seine Hand gefaßt, und er hatte nur zu folgen. Trotzdem waren die Echos von Worten nützlicher, weshalb er wieder ein Gespräch anfing.

»Wenn du mich so bei der Hand führst«, sagte er scherzhaft, »erinnerst du mich an die Gute Frau.«

»Wer ist denn das?«

Er berichtete von der Frau, die ihn in seinen Kindheitsträumen zu dem Jungen geführt hatte, der bei ihr lebte.

»Kleiner Lauscher?« wiederholte sie. »So wurde der Junge genannt?«

»In meinen Träumen. Er konnte nichts als die lautlosen Geräusche hören, die manche Grillen hervorbrachten.«

»Wenn sie lautlos waren, woher weißt du denn, daß die Grillen überhaupt Töne von sich gaben?« Sie führte ihn über einen schmalen Spalt.

»Soweit ich mich erinnern kann, erzählte mir die Frau, daß solche Geräusche existieren. Aber nur der Junge konnte sie hören. Sie vernahm sie jedoch auch, wenn sie seine Gedanken belauschte.«

»Das konnte sie?«

»Ohne Anstrengung.« Sein Lachen stellte klar, daß ihn die Albernheit seiner Phantasie belustigte. »Auf diese Weise konnte sie auch mit mir Kontakt aufnehmen. Ich erinnere mich, wie sie zu sagen pflegte, daß sie überall die Gedanken beinahe jedes Menschen belauschen könnte — nur nicht die eines Zervers.«

Della blieb neben einer Felssäule stehen. »Aber du bist doch ein Zerver. Sie konnte dich erreichen. Wie erklärst du dir das?«

Da! Er hatte sich wieder verplappert. Und ausgerechnet bei einer harmlosen Unterhaltung, die er nur angefangen hatte, um Echos zu gewinnen. Aber er faßte sich sofort. »Oh, ich war auch der einzige Zerver, dessen Gedanken sie zu hören vermochte. Nimm das alles nicht zu ernst. Träume sind selten logisch.«

Sie erreichten eine breitere Tunnelstrecke. »Bei dir zum Teil schon.«

»Was meinst du?«

»Wenn ich dir nun sage, daß ich von einem Säugling weiß, der in die Richtung lauschte, aus der eine Stimme kam; sobald aber seine Mutter ihn zur Wand horchen hörte, fand sie dort eine Grille.«

Irgendwie kam ihm das bekannt vor. »Hat es dieses Kind wirklich gegeben?«

»Im Oberen Schacht — bevor ich zur Welt kam.«

»Was wurde aus ihm?«

»Man entschied, daß der Junge andersartig sei. Er war noch nicht einmal vier Schwangerschaftsperioden alt, als man ihn forttrieb.«

Jetzt erinnerte sich Jared dunkel, daß ihm seine Eltern dieselbe Geschichte über das andersartige Kind im Oberen Schacht erzählt hatten.

»Woran denkst du, Jared?«

Er schwieg lange Zeit. Schließlich lachte er. »Daran, daß ich endlich verstehe, warum ich von einem Kleinen Lauscher zu träumen pflegte. Hörst du nicht? Man hatte mir von einer solchen Person tatsächlich erzählt. Aber die Erinnerung drang nicht an die Oberfläche.«

»Und deine — Gute Frau?«

Wieder hob sich ein Schleier von einem Winkel des Gedächtnisses. »Ich kann mich jetzt sogar entsinnen, die Geschichte einer Andersartigen gehört zu haben, die lange vor meiner Geburt aus dem Unteren Schacht verbannt worden war — eine junge Frau, die immer zu wissen schien, was andere Leute dachten!«

»Na, also!« Della führte Jared um eine Biegung. »Jetzt sind ja alle deine seltsamen Träume erklärt.«

Beinahe. Der psychologische Ursprung des Ewigen Mannes in seinen Träumen blieb noch aufzufinden.

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Weg vor ihnen und lauschte einer fernen, riesigen Hohlheit, in der das Dröhnen eines Wasserfalls vernehmbar wurde. Sie näherten sich dem Tunnelende, und vor ihnen lag eine riesige Welt, dessen war er sicher — die Zerverwelt? Er bezweifelte es, denn der Zervergeruch war längst nicht mehr wahrnehmbar.

»Es ist schrecklich, wie die Leute Andersartige einfach verstoßen«, meinte Della nachdenklich.

»Der erste Zerver war ein Andersartiger.« Er übernahm wieder die Führung und bediente sich seiner Echosteine. »Aber als man ihn verbannte, war er schon alt genug, zurückzuschleichen und sich eine Partnerin zu holen.«

Sie traten aus dem Tunnel, und Jared hörte den Strom durch ebenen Grund fließen, zur fernen Felswand hinüber. Er rief laut, und die Echos hallten von unglaublich hohen Gewölben zurück. Die Worte wurden von vereinzelten bizarren Felsgebilden hin- und hergejagt, zu schrillen Mißtönen vereinigt.

»Jared, es ist herrlich!« rief Della; sie drehte den Kopf nach allen Seiten. »Ich habe noch nie so etwas gezervt!«

»Wir müssen möglichst schnell die andere Seite erreichen«, erwiderte er gelassen. »Wo der Fluß in die Felswand strömt, müßten wir einen Tunnel finden.«

»Der Vampir?« fragte sie voller Besorgnis.

Ohne zu antworten führte er sie schnell am Fluß entlang. Viele Atemzüge später stürmten sie durch die Tunnelmündung in der gegenüberliegenden Wand — gerade als die Bestien aus dem hinter ihnen liegenden Tunnel schossen und durch die hohe Felskammer flatterten.

»Wir müssen uns verbergen!« rief Jared. »Sie holen uns binnen eines Herzschlags ein!«

Sie stapften durch den Fluß, und die Echos verrieten eine Öffnung in der Felswand zur Linken, die eben groß genug war, sie aufzunehmen. Er folgte Della durch den Spalt und fand sich in einer Nische, die kaum größer war als eine Wohngrotte. Della sank erschöpft zu Boden; Jared setzte sich neben sie und lauschte dem Kreischen der Fledermäuse, die sich draußen versammelt hatten.

Della lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Glaubst du, daß wir die Zerverwelt jemals finden werden?«

»Warum willst du denn um jeden Preis dorthin?«

»Ich — nun, vielleicht aus demselben Grund wie du.«

Sie konnte natürlich seinen wirklichen Beweggrund nicht kennen — oder doch? »Wir gehören einfach in diese Welt, nicht wahr?«

»Mehr als das, Jared. Bist du sicher, daß du dort nicht doch — auch Leute findest?«

»Was für Leute?«

Sie zögerte. »Deine Verwandten.«

Er runzelte die Stirn. »Ich habe dort keine Verwandten.«

»Dann mußt du wohl ein Originalzerver sein.«

»Bist du denn das nicht auch?«

»O nein. Weißt du, ich bin — unehelich geboren.« Und schnell fügte sie hinzu: »Ändert das irgend etwas — zwischen uns, meine ich?«

»Aber nein.« Das klang noch zu förmlich. »Bei der Strahlung, nein!«

»Ich bin so froh, Jared.« Ihre Wange berührte seinen Arm. »Natürlich wußte niemand als meine Mutter davon.«

»Sie war auch Zerver?«

»Nein. Mein Vater.«

Er horchte nach draußen. Die kreischenden Vampire begannen sich enttäuscht zurückzuziehen.

»Aber das verstehe ich nicht«, meinte er.

»Es ist doch ganz einfach.« Sie zuckte die Achseln. »Als meine Mutter wußte, daß sie mich erwartete, ging sie eine Verbindung mit einem Überlebenden vom Oberen Schacht ein. Man dachte allgemein, ich sei nur ein bißchen zu früh gekommen.« — »Du meinst«, fragte er vorsichtig, »deine Mutter und — ein Zerver —?«

»Oh, so war es nun auch nicht. Sie wollten offiziell eine Verbindung eingehen. Zufällig begegneten sie einander einmal in einem Tunnel — und danach noch sehr oft. Schließlich beschlossen sie, davonzugehen, eine kleine Welt für sich allein zu finden. Auf dem Weg dorthin stürzte sie in einen Krater, und er kam ums Leben, als er sie rettete. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zum Oberen Schacht zurückzukehren.«

Jared empfand starkes Mitgefühl mit dem Mädchen. Er konnte verstehen, wie sehr sich Della nach der Zerverwelt gesehnt haben mußte. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie zu sich herangezogen. Aber jetzt ließ er sie los, weil ihm die Verschiedenheit allzu deutlich zum Bewußtsein kam. Es lag nicht nur am körperlichen Unterschied zwischen Zerver und Nicht-Zerver. Eine große Kluft anderen Denkens mit eigenen Werten und Maßstäben lag dazwischen. Und er konnte beinahe begreifen, daß der Zerver mit Verachtung auf jeden herabsah, für den Zerven eine unverständliche Funktion blieb.

Im Korridor hielten sich keine Vampire mehr auf. Er sagte: »Wir machen uns am besten wieder auf den Weg.«

Aber sie blieb sitzen, starr und atemlos. Er glaubte, in diesem Augenblick schwache, raschelnde Laute zu vernehmen. Um sicherzugehen, holte er seine Echosteine hervor. Sofort gewann er Eindrücke vieler kleiner, bepelzter Formen. Jetzt hörte er auch das federleichte Tappen von Insektenfüßen auf Gestein.

Della schrie auf und sprang in die Höhe. »Jared, das ist eine Spinnenwelt! Gerade hat mich eine in den Arm gebissen!«

Als sie auf den Ausgang zurannten, taumelte sie schon. Sie brach zusammen, und er fing sie auf, schob sie in den Tunnel hinaus und kroch hinter ihr nach. Aber zu spät. Eines der winzigen, haarigen Wesen hatte sich auf seine Schulter fallen lassen. Bevor er es abschütteln konnte, spürte er den heißen, scharfen Stich des giftigen Stachels.

Ohne seine Speere loszulassen, stemmte er Della auf seine Schulter und wankte den Tunnel entlang. Das Gift verbreitete sich in seinem Arm, griff in die Brust, in den Kopf.

Aber er quälte sich aus mehr als einem zwingenden Grund weiter: Er durfte hier nicht das Bewußtsein verlieren — die Vampire konnten jederzeit zurückkommen; er durfte auch nicht stehenbleiben, bevor sie eine heiße Quelle erreichten, wo er dampfende Umschläge herstellen und sich um die Wunden kümmern konnte.

Er stieß gegen einen Felsblock, taumelte, stand eine Weile schwankend da und stolperte dann weiter. Nach der nächsten Biegung watete er durch einen Flußarm und brach zusammen, als er wieder trockenen Boden unter den Füßen hatte.

Der Fluß strömte durch die Felswand davon, und vor ihnen erstreckte sich ein breiter, trockener Tunnel. Er zog sich mit der Hand vorwärts, die noch die Speere umklammert hielt, und zerrte Della mit sich. Dann blieb er liegen und lauschte einem tropfenden Geräusch, das mit melodiöser Monotonie immer wiederkehrte. Seine Speerspitze berührte Fels, und das Echo vermittelte einen Eindruck des Tunnels.

Er schien seltsam vertraut, mit dem schlanken, hängenden Stein, von dem kaltes Wasser in den kleinen Teich tropfte, nicht allzuweit von einem einzelnen, scharf abgezeichneten Krater entfernt. Jared fühlte, daß er schon oft hiergewesen war, daß er neben der feuchten Felsnadel gestanden und sie mit den Händen berührt hatte.

Und im letzten Augenblick, bevor er das Bewußtsein verlor, erkannte er alle Einzelheiten des Ganges aus der geträumten Welt der Guten Frau.

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