3

Am Eingang zum Oberen Schacht brachten die fremden Töne des Zentralechowerfers Jared grobe Eindrücke einer Welt, die in vielem der seinigen glich, mit Grotten, Arbeitsgebieten und Ställen. Dazu kam noch ein natürlicher Sims, der an der rechten Wand entlanglief und sich in der Nähe dem Boden zuneigte.

Während er auf den Empfangsbegleiter wartete, kehrten seine Gedanken zur Entdeckung der Waffen seines Freundes auf der anderen Seite der Barriere zurück. Er konnte im ersten Augenblick annehmen, daß die Bestie vom Licht als Strafe für seine lästerliche Ablehnung aller hergebrachten Glaubenssätze geschickt worden war. Sicherlich hatte er sich getäuscht. Die Barriere war schließlich errichtet worden, den Menschen vor dem Ungeheuer zu schützen.

Aber er wußte trotzdem, daß er die Suche nach der Dunkelheit nicht aufgeben würde. Auch die Ungewißheit über Owens Schicksal würde ihn nicht lange ruhen lassen.

»Jared Fenton?«

Die Stimme, hinter einem Felsblock zu seiner Linken hervordringend, überraschte ihn. Der Mann trat heraus in den Bereich des Echowerfers und sagte: »Ich bin Lorenz, Berater von Boß Anselm.«

Lorenz' Stimme verriet eine kleine Gestalt, geringe Lungenkapazität, eingesunkenen Brustkasten. Dazu kam der Lauteindruck eines Gesichts, dessen hörbare Züge viele Falten aufwiesen und die weiche Feuchtigkeit von Augäpfeln vermissen ließen.

»Zehn Proben der Begegnung?« bot Jared höflich an.

Aber der Berater lehnte ab. »Meine Fähigkeiten sind ausreichend. Ich vergesse niemals Höreffekte.« Er ging einen Pfad hinauf, der sich durch das Gebiet der heißen Quellen wand.

Jared folgte ihm. »Der Boß erwartet mich?« Diese Frage war unnötig, da ein Läufer vorausgeschickt worden war.

»Ich wäre nicht hier, Sie abzuholen, wenn er Sie nicht erwartete.«

Jared entdeckte Feindseligkeiten in den knappen Antworten des Beraters und widmete ihm seine ganze Aufmerksamkeit. Die Echowerfertöne wurden durch seine Miene beleidigter Entschlossenheit verändert.

»Ihr wollt mich hier nicht haben, wie?« fragte Jared geradeheraus.

»Ich habe dagegen gestimmt. Ich höre nicht ein, wie wir durch enge Verbindung mit Ihrer Welt etwas gewinnen sollten.«

Die mürrische Art des Beraters verwirrte ihn einen Augenblick — bis ihm klar wurde, daß eine Vereinigung von Oberem und Unterem Schacht Lorenz' Stellung erheblich beeinträchtigen mußte.

Der ausgetretene Pfad verlief jetzt schnurgerade an der rechten Felswand entlang. Wohnnischen klangen im Lautmuster dumpf als Hohlräume auf. Und Jared vermochte die neugierigen Menschengruppen, die seinen Weg verfolgten, eher zu spüren als deutlich zu hören.

Kurz darauf packte ihn der Berater bei der Schulter und drehte ihn nach rechts. »Das ist die Grotte Anselms.«

Jared zögerte, versuchte sich zurechtzufinden. Die Grotte war tief in die Wand eingelassen und mit vielen Lagerregalen ausgestattet. Im Raum vor dem Eingang befand sich ein großer Steinblock, unter den man die Beine strecken konnte. Von der Platte kamen die symmetrischen Laute leerer Mannaschalen, insgesamt den Eindruck einer präzisen Ordnung für ein Mahl vieler Personen vermittelnd.

»Willkommen im Oberen Schacht! Ich bin Noris Anselm, der Boß!«

Jared lauschte diesem mehr als umfangreichen Gastgeber, der ihn mit ausgestrecktem Arm empfing. Daß er Jareds Hand auf Anhieb fand, sprach für das gut ausgebildete Wahrnehmungsvermögen Anselms.

„Ich habe viel über dich gehört, mein Junge!« Er schüttelte Jared die Hand. »Zehn Proben?«

»Selbstverständlich.« Jared überließ sich den forschenden Fingern, die methodisch über Gesicht, Brust und Arme glitten.

»Nun«, sagte Anselm anerkennend. »Klare Züge — aufrechte Haltung — Beweglichkeit — Stärke. Ich glaube, der Primär hat nicht sehr übertrieben. Du bist an der Reihe.«

Jareds Hände machten sich mit einem massigen, aber nicht schwammigen Gesicht vertraut. Das Fehlen eines Brusttuches, geschnittenes Haar und gepflegter Bart deuteten auf Widerstand gegen den Prozeß des Alterns. Und Lider, die unter seiner Berührung zuckten, verrieten die Ablehnung geschlossener Augen.

Anselm lachte. »Du bist also in der Absicht gekommen, eine Verbindung einzugehen?« Er führte Jared zu einer Bank neben dem Steintisch.

»Ja. Der Primär meint —«

»Ah — Primär-Überlebender Fenton. Habe ihn schon lange Zeit nicht gehört.«

»Er schickt —«

»Der gute, alte Evan!« dröhnte Anselm. »Er hat eine gute Idee — wenn er die beiden Schächte enger zusammenschließen will. Was meinst du?«

»Anfangs —«

»Natürlich. Man braucht nicht viel Phantasie, sich die Vorteile auszurechnen, nicht wahr?«

Jared gab die Hoffnung auf, einen Satz vollenden zu können, und betrachtete auch diese Frage als rhetorisch, während er sich auf undeutliche Eindrücke konzentrierte, die hinter ihm vom Grotteneingang herrührten. Jemand stand dort und lauschte. Zurückgeworfene Klicks zeigten die Umrisse einer jungen, weiblichen Gestalt.

»Ich sagte«, wiederholte Anselm, »daß es keiner allzugroßen Phantasie bedarf, sich die Vorteile einer Vereinigung beider Welten auszumalen.«

Jared richtete sich auf.

»Keinesfalls. Der Primär meint, wir alle würden dabei sehr gewinnen. Er —«

»Nun zu dieser Verbindung. Glaubst du, daß du schon soweit bist?«

Es war Jared wenigstens gelungen, eine Antwort zu Ende zu bringen. Aber er wollte nun nicht gleich übertreiben, deswegen erwiderte er schlicht: »Ja.«

»Guter Junge! Della wird eine großartige Überlebende werden. Vielleicht ist sie ein bißchen halsstarrig. Aber wenn ich noch an meine eigene Verbindung denke…«

Der Boß begann mit einer längeren Erzählung, während Jareds Aufmerksamkeit zu dem Mädchen zurückkehrte. Jedenfalls wußte er jetzt, wer am Eingang stand. Bei dem Namen ›Della‹ hatte ihr Atem gestockt, und ihr Pulsschlag war schneller geworden.

Die klaren, lauten Töne der Stimme Anselms erzeugten präzise Echos. Jared erkannte das gleichmäßige Profil des Mädchens. Hohe Backenknochen, ein ausgeprägtes Kinn. Die Augen standen weit offen, und das Haar war in einer Weise gelegt, wie sie ihm noch nie begegnet war. An beiden Seiten straff nach hinten gekämmt, an den Schultern zusammengefaßt und in weichen Kaskaden über den Rücken hinabfallend.

»… Aber Lydia und ich hatten nie einen Sohn.« Sein geschwätziger Gastgeber war längst bei einem anderen Thema angelangt. »Trotzdem halte ich es für das beste, wenn die Führerschaft bei den Anselms bleibt, nicht wahr?«

»Gewiß.« Jared wußte längst nicht mehr, worum es ging.

»Und ohne Komplikationen ist das nur erreichbar, wenn eine Verbindung zwischen dir und meiner Nichte zustande kommt.«

Das müßte eigentlich das Stichwort für Della sein, sich aus dem Versteck zu lösen, dachte Jared. Aber sie rührte sich nicht.

Der Obere Schacht hatte sich von seiner Ankunft wieder erholt, und nun lauschte er den Tönen einer normalen Welt — lärmende Kinder beim Spiel, Frauen, die ihre Grotten säuberten, Männer an der Arbeit, Klapperball auf dem Feld hinter den Ställen.

Anselm packte ihn beim Arm und sagte: »Wir machen uns wohl später genauer bekannt. In dieser Wachperiode wird ein formelles Essen gegeben, bei dem du Della kennenlernen kannst. Inzwischen habe ich eine Nische für dich herrichten lassen.«

Jared wurde an den Wohngrotten vorbeigeführt. Bald danach mußte er stehenbleiben.

»Der Primär berichtete, daß du bemerkenswerte Ohren hast, mein Junge. Laß doch einmal hören, wie gut sie wirklich sind.«

Ein wenig verlegen wandte Jared der Umgebung seine Aufmerksamkeit zu. Einen Augenblick später fiel ihm etwas auf dem Sims an der fernen, gegenüberliegenden Wand auf.

»Ich höre etwas auf jenem Sims«, sagte er. »Ein Junge liegt dort oben und lauscht über die Welt hinweg.«

Anselm zog überrascht den Atem ein. Dann rief er: »Myra, ist dein Kind schon wieder auf den Sims geklettert?«

Eine Frau in der Nähe schrie: »Timmy! Timmy, wo bist du?« Und eine dünne Stimme antwortete aus der Ferne: »Hier oben, Mutter.«

»Unglaublich!« rief der Boß. »Völlig unfaßbar!«


Als sich das Bankett dem Ende näherte, stieß Anselm seine Trinkmuschel auf den Tisch und versicherte den anderen Gästen: »Es war wirklich bemerkenswert! Da lag der Junge, auf der anderen Seite der Welt! Aber Jared hörte ihn trotzdem. Wie machst du das nur, mein Junge?«

Jared wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Er war verlegen genug, nachdem sich jeder Gast der vollen zehn Proben bedient hatte.

»Hinter dem Sims befindet sich eine glatte Kuppel«, erklärte er müde. »Sie verstärkt die Töne des Zentralechowerfers.«

»Unsinn, mein Junge! Eine großartige Leistung!«

Die Gäste murmelten etwas Respektvolles.

Berater Lorenz lachte. »Wenn man unseren Boß so reden hört, möchte man beinahe meinen, unser Besucher sei ein Zerver.«

Es wurde unbehaglich still. Jared konnte das selbstzufriedene Lächeln des Beraters hören.

»Es war erstaunlich«, versicherte Anselm noch einmal.

Die Unterhaltung stockte, und Jared steuerte das Gespräch in eine andere Richtung. »Die Krebse haben mir geschmeckt, aber besonders vorzüglich war der Salamander. Ich habe noch nie etwas Delikateres gegessen.«

»Das glaube ich allerdings«, rühmte Anselm. »Und dafür müssen wir uns bei Seniorin Bates bedanken. Erzähle unserem Gast, wie du das machst, Seniorin.«

Eine dicke Frau am anderen Ende der Tafel erklärte: »Ich kam auf den Gedanken, daß Fleisch besser schmecken müßte, wenn man davon abginge, es unmittelbar in kochendes Wasser zu legen. Wir versuchten es also so, daß wir Fleischstücke in wasserdichte Schalen taten und diese dann in die heißen Quellen hinabließen. Auf diese Weise ist das Fleisch trocken gekocht.«

Jared spürte irgendwie, daß Della seinen Bewegungen nachhorchte.

»Die Seniorin hat früher sogar Salamander noch besser zubereitet«, meinte Lorenz.

»Als wir den großen Kochkrater noch hatten«, ergänzte die Frau.

»Als Sie ihn noch hatten?« fragte Jared interessiert.

»Er trocknete vor einiger Zeit aus, zusammen mit einigen anderen«, erklärte Anselm. »Aber wir kommen wohl auch ohne sie aus.«

Die anderen Gäste zogen sich in ihre Grotten zurück — alle, außer Della. Aber sie beachtete Jared immer noch nicht.

Anselm packte ihn bei der Schulter, flüsterte: »Viel Glück, mein Junge!« und verschwand in seiner Schlafnische.

Jemand stellte den Echowerfer ab, das Ende der Wachperiode damit bezeichnend, und Jared lauschte den gleichmäßigen Atemzügen des Mädchens. Nachlässig klopfte er mit dem Fingernagel auf die Steinplatte und studierte die reflektierten Eindrücke einer gerunzelten weiblichen Stirn und zusammengepreßter, voller Lippen.

Er rückte näher. »Zehn Proben?«

Sie wandte abrupt den Kopf zur anderen Seite, erhob aber keinen Widerspruch.

Seine tastenden Finger zeichneten zuerst ihr Profil nach, berührten dann die Backenknochen, verweilten auf dem Haar und an den runden Schultern. Die Haut war warm und zart, ihre Glätte wurde nur durch zwei schmale Träger unterbrochen.

Sie wich zurück. »Ich bin sicher, daß du mich beim nächstenmal wiedererkennst.«

Wenn er schon zu einer Verbindung gezwungen wurde, konnte er mit dieser Partnerin zufrieden sein, dachte Jared.

Er wartete auf die Berührung ihrer Finger. Aber sie blieb aus. Della stand auf und schlenderte zu einer Naturgrotte, die, nach dem Hall der Schritte zu schließen, leer sein mußte. Er folgte ihr.

»Wie ist es denn, wenn einem eine Verbindung aufgezwungen wird?« fragte sie schließlich voll Bitterkeit.

»Nicht gerade angenehm.«

»Warum weigerst du dich dann nicht?« Sie setzte sich auf eine Felsbank.

Er blieb am Eingang stehen und spürte den Einzelheiten der Nische nach, die sich aus dem Widerhall ihrer Worte abzeichneten. »Warum lehnst du es denn nicht ab?«

»Mir blieb keine Wahl. Der Boß hat entschieden.«

»Das ist peinlich.« Ihre Einstellung ließ erkennen, daß sie ihn für das Ganze verantwortlich machte. Aber sie hatte wohl ein Recht darauf, verärgert zu sein. Er fügte hinzu: »Es hätte für uns beide schlimmer kommen können.«

»Vielleicht für dich. Ich hätte meine Wahl unter einem Dutzend Männer hier oben treffen können, die ich vorziehen würde.«

»Woher weißt du das?« fragte er aufgebracht. »Du hast ja nicht einmal die zehn Proben gewünscht.«

Sie nahm einen Kieselstein und warf ihn durch die Grotte.

Platsch.

»Ich habe nicht darum gebeten, und ich will sie auch nicht«, sagte sie.

Er überlegte sich, ob man sie nicht übers Knie legen müßte, um eine anständige Antwort zu bekommen. »So widerlich bin ich ja auch wieder nicht!«

»Du — widerlich? Um alles in der Welt, nein!« erwiderte sie höhnisch. »Du bist doch Jared Fenton vom Unteren Schacht!«

Wieder platschte ein Kiesel.

»›Ich höre etwas auf diesem Sims‹«, äffte sie ihm nach. »›Ein kleiner Junge liegt oben und lauscht über die Welt hinweg.‹«

Della warf mehrere Steine, während er vor ihr stand und lauschte. Alle Steine klatschten ins Wasser.

»Diese Vorstellung war die Idee deines Onkels«, erinnerte er.

Anstelle einer Antwort warf sie wieder Steine ins Wasser. Sie hatte ihn in die Defensive gedrängt. Wenn er zurückschlug, erweckte er nur den Eindruck, als wünsche er die Verbindung, was doch wirklich nicht zutraf. Die endgültige Verbindung mit ihren Pflichten bedeutete das Ende einer Suche nach Licht.

Della erhob sich und trat an die Grottenwand, wo eine Reihe von schmalen Steinen nadelartig von der Decke herabhing. Sie schlug sanft dagegen, und wohlklingende Töne erfüllten die Nische mit zarten Vibrationen. Es war eine sehnsüchtige Melodie voll Wehmut und Sanftheit.

In einer plötzlichen Aufwallung schlug sie Steine gegeneinander und hob einen Kiesel auf. Sie schleuderte ihn hoch und verließ die Grotte. Platsch.

Neugierig suchte Jared nach dem Wasser. Die Tatsache, daß er es nicht sofort entdeckt hatte, beunruhigte ihn. Einen Augenblick später fand er es jedoch. Eine tiefe Quelle, die sich kaum regte, nicht größer als seine Handfläche.

Und doch hatte Della aus einer Entfernung von dreißig Schritten mehr als ein Dutzend Steine hineingeworfen — ohne auch nur ein einziges Mal daneben zu treffen!

Während des Verlaufs der Zeremonie in der nächsten Periode stellte Jared fest, daß seine Gedanken immer wieder zu dem Mädchen zurückkehrten. Ihn beunruhigte nicht so sehr ihre Arroganz als vielmehr die Möglichkeit, daß die Zielwurfdemonstration auf Berechnung beruhte. Wollte sie nur seine Fähigkeiten herabsetzen? Oder war das Gezeigte wirklich so zufällig, wie es den Eindruck gemacht hatte? Auf jeden Fall blieb diese Begabung selbst unerklärt.

Anselm rückte auf der Ehrenbank näher und schlug ihm auf die Schulter. »Dieser Drake ist doch sehr gut, nicht wahr?«

Jared stimmte zu, obgleich es im Unteren Schacht Männer gab, die bei neun Pfeilschüssen mehr als dreimal trafen.

Er konzentrierte sich auf das reflektierte Klappern des Zentralechowerfers und lauschte Drake, der eben einen neuen Pfeil ansetzte. Besorgtes Schweigen legte sich über die Versammlung, und Jared versuchte erfolglos, Dellas Atemzüge und ihren Herzschlag herauszuhören.

Drakes Bogensehne schwirrte, und der Pfeil pfiff durch die Luft. Der dumpfe Einschlag verriet jedoch, daß er das Ziel verfehlt und sich in die Erde gebohrt hatte.

Der amtliche Schiedsrichter rief: »Zwei Handbreit rechts abgekommen. Endergebnis: Drei Treffer aus zehn Schüssen.«

Beifall klang auf.

»Er ist großartig, nicht wahr?« brüstete sich Anselm.

Jared hörte Lorenz' Atemzüge deutlicher, als sich ihm der Berater zuwandte und sagte: »Ich hätte eigentlich gedacht, daß Sie ganz besonderes Interesse an diesen Wettkämpfen zeigen würden.«

Immer noch unter dem Eindruck von Dellas Behauptung, er sei eingebildet, erwiderte er unverbindlich: »Ich bin zu allem bereit.«

Anselm hörte ihn und rief erfreut: »Das ist fein, mein Junge!« Er stand auf und verkündete: »Unser Besucher wird die Speerwurfkonkurrenz eröffnen.«

Erneuter Beifall. Jared glaubte jedoch, ein verächtliches Schnauben gehört zu haben.

Lorenz führte ihn zum Speerständer. Jared wählte in aller Ruhe aus.

»Welches Ziel?« fragte er.

»Gewebte Scheiben — zwei Handspannen breit — Entfernung fünfzig Schritte.« Der Berater ergriff seinen Arm und deutete damit in die entsprechende Richtung. »Sie befinden sich vor jenem Wall.«

»Ich kann sie hören«, versicherte Jared. »Aber ich möchte, daß meine Zielscheiben in die Höhe geworfen werden.«

Lorenz trat einen Schritt zurück. »Sie wollen anscheinend hören, wie sehr Sie sich blamieren können.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein.« Jared ergriff seine Speere. »Ihr braucht nur die Zielscheiben hochzuwerfen.«

Della war also davon überzeugt, daß er eine zu hohe Meinung von sich hatte? Verärgert holte er seine Echosteine aus der Tasche und trat bis zum Rand des Warmquellengebiets zurück. Dann begann er die Steine in der linken Hand schnell und gleichmäßig aneinanderzuschlagen. Die vertrauten, feineren Töne ergänzten jene des Echowerfers. Und jetzt konnte er alles um sich herum deutlich vernehmen — den Sims zu seiner Rechten, die Hohlform des Tunnels hinter sich, Lorenz, der sich vorbereitete, die Scheiben in die Höhe zu schleudern.

»Los!« kommandierte Jared.

Die erste aus Mannahülsen gewebte Scheibe rauschte durch die Luft, und er ließ den Speer davonschwirren. Flechtwerk barst unter dem Aufprall der spitzen Wurflanze, dann fielen Scheibe und Speer gemeinsam zu Boden.

Einen vorbeizuckenden Augenblick lang spürte er, daß etwas nicht in Ordnung war. Aber er konnte es nicht definieren.

»Los!«

Wieder ein Volltreffer. Noch einer.

Ausrufe des Publikums lenkten ihn ab, und er verfehlte beim vierten Wurf. Er wartete ab, bis es ruhig geworden war, bevor er die nächsten Scheiben hochwerfen ließ. Die nächsten fünf Würfe waren glatte Treffer. Dann lauschte er angestrengt nach allen Seiten. Irgendwie wurde er den vagen Verdacht nicht los, daß nicht alles war, wie es sein sollte.

»Das war die letzte Scheibe«, rief der Berater.

»Holt eine neue«, erwiderte Jared und ließ den letzten Speer auf dem Boden liegen.

Respektvolles Schweigen lag über dem Publikum. Dann lachte Anselm und schrie: »Beim Licht! Acht aus neun!«

»Bei dieser Geschicklichkeit«, fügte Lorenz aus der Ferne hinzu, »muß er ein Zerver sein.«

Jared fuhr herum. Das war es — Zerver! Er begriff, daß er seit ein paar Herzschlägen ihren Geruch aufgefangen hatte!

In diesem Augenblick schrie jemand: »Zerver! Auf dem Sims!«

Eine Panik brach aus. Frauen schrien auf und stürzten zu ihren Kindern, während die Männer zu den Waffenregalen eilten.

Jared hörte einen Speer von oben herabsausen und gegen die Ehrenbank prallen. Der Boß fluchte.

»Bleibt alle, wo ihr seid!« dröhnte eine Stimme, die Jared von früheren Überfällen her kannte — die Stimme Mogans, des Zerveranführers. »Sonst trifft der nächste Speer Anselm in die Brust!«

Inzwischen hatte Jared ein mehr oder weniger komplettes Lautbild der Lage zusammengesetzt. Mogan und eine Anzahl Zerver standen auf dem Sims; die Töne des Zentralechowerfers wurden deutlich von ihren erhobenen Speeren zurückgeworfen. Ein einzelner Zerver bewachte den Zugang, neben dem großen Felsblock stehend.

Mit größter Behutsamkeit bückte sich Jared, um seinen Speer aufzuheben. Aber eine Lanze zischte herab und bohrte sich vor ihm in den Boden.

»Ich habe gesagt, keiner rührt sich!« tönte Mogans Stimme schneidend vom Sims.

Selbst wenn er den Speer ergreifen konnte, lag der Sims außer Wurfweite, erkannte Jared. Mit der Wache am Eingang war es jedoch etwas anderes. Zwischen ihm und dem Mann befand sich nichts als ein Gebiet mit kochenden Quellen und Mannapflanzen. Wenn er es bis zur ersten Quelle schaffte, konnte keiner der Räuber seinen Weg durch das warme Areal verfolgen.

Er lauschte dem Flug eines weiteren Speeres vom Sims. Die Lanze bohrte sich in den Echowerfer und brachte ihn zum Stillstand. Der Schacht war in völlige Stille getaucht.

»Nehmt, was ihr wollt«, sagte Anselm mit schwankender Stimme, »und laßt uns in Ruhe.«

Jared bewegte sich langsam zur ersten Quelle.

»Was wißt ihr von einem Zerver, der seit den vergangenen zwanzig Wachperioden vermißt ist?« rief Mogan.

»Überhaupt nichts!« versicherte ihm Anselm.

»Ihr lügt! Aber wir werden uns selbst vergewissern, bevor wir gehen!«

Feuchte Wärme umbrodelte Jared, und er stürzte sich ganz in die Dämpfe.

»Wir wissen nichts von der Sache!« wiederholte der Boß. »Auch bei uns ist ein Senior vermißt — seit fünfzig Perioden schon!«

Jared klapperte leise mit den Zähnen, um Echos zu erzeugen, als er durch das Areal der heißen Quellen schlich. Ein Zerver vermißt? Auch ein Mann aus dem Oberen Schacht? Bestand ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorfällen und Owens Verschwinden? Hatte das Ungeheuer aus der Ursprungswelt doch die Barriere überstiegen?

»Norton, Seilers«, bellte Mogan, »durchsucht ihre Grotten!«

Jared ließ den letzten kochenden Krater hinter sich und trat geräuschlos um den Felsblock. Nun befand sich nur noch der große Findling zwischen ihm und dem Zerver am Eingang. Die Atemzüge und Herzschläge des Mannes verrieten seine genaue Position. Niemand hatte jemals zuvor sich einem einzelnen Zerver gegenüber auf ein solches Überraschungsmoment stützen können! Aber er mußte schnell handeln. Norton und Seilers kamen bereits den schräg abfallenden Sims herunter und mußten innerhalb der nächsten drei oder vier Atemzüge im Abstand von wenigen Schritten am Felsblock vorbeikommen.

Im nächsten Augenblick überstürzten sich die Ereignisse mit einer solchen Vehemenz, daß er nicht Schritt zu halten vermochte. Schon als er zum Sprung ansetzte, drang ihm die schreckliche Ausdünstung des Wesens aus der Ursprungswelt in die Nase. Er konnte sich jedoch nicht mehr zurückhalten.

Als er hinter dem Felsblock hervorstürmte, kreischte ein gewaltiger Kegel brausender Stille aus dem Tunnel. Die unfaßbare Empfindung traf ihn mit betäubender Gewalt mitten ins Gesicht. Es war, als öffneten sich verborgene Regionen in seinem Verstand — als überfluteten Tausende empfindlicher Nerven, die nie zuvor aktiv gewesen waren, sein Gehirn mit fremdartigen Impulsen.

Im selben Augenblick hörte er das surrende Zischen, wie es in der Ursprungswelt kurz vor Owens Zusammenbruch zu vernehmen gewesen war. Und er lauschte zuerst dem Zusammensinken des Zervers vor ihm, dann den hinter ihm aufklingenden Entsetzensschreien.

Als er sich blitzschnell umdrehte, um vor dem Ungeheuer und dem gräßlichen Lärm zu fliehen, den er weder hören noch fühlen konnte, ahnte Jared nur undeutlich den Zerverspeer, der auf ihn zuflog.

Im letzten Herzschlag versuchte er sich zur Seite zu werfen.

Aber es war zu spät.

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