5

Die Klausur verlangte strengste Selbstdisziplin, da eine derart lebenswichtige Entscheidung nur nach ehrlicher Gewissensforschung getroffen werden durfte. Eine Verbindung bedeutete automatisch auch Übernahme aller Rechte und Pflichten eines Überlebenden — eine doppelt große Verantwortung also. Hinzu kam noch, daß man sich in Gedanken bereits mit den Fragen der Nachkommenschaft zu befassen hatte.

Betrachtungen solcher Art lagen Jared jedoch höchst fern, als er während der nächsten Wachperioden in der Stille seiner mit schweren Vorhängen abgeteilten Grotte nachdachte. Gewiß — seine Gedanken kreisten um Della. Aber sie hingen nicht mit den Vor- und Nachteilen einer Verbindung zusammen, sondern konzentrierten sich auf die Tatsache, daß Della zu den Zervern gehörte. Wie war es ihr gelungen, das geheimzuhalten? Und was waren ihre Absichten?

Dabei gebrach es der Situation nicht an einer komischen Seite. Lorenz betrieb mit Eifer seine Zerverjagd. Und die ganze Zeit hatte er eines dieser verhaßten Wesen neben sich! Für Jared ließ sich das Mädchen gut zu Abwehrzwecken gebrauchen, falls der Berater so weit gehen sollte, ihn als Zerver zu brandmarken.

Es lag in Jareds Hand, Della jederzeit bloßzustellen. Aber was gewann er damit? Es war jedenfalls sehr interessant, daß sie ihn für einen Zerver hielt. Die weitere Entwicklung mußte man eben abwarten.

Dieser Gedankengang führte unweigerlich zu Vermutungen über die Natur des Zervens. Welche magische Macht erlaubte es, Objekte trotz völliger Stille und des Fehlens von Gerüchen zu erkennen? Oder hörten die Zerver, wie sein nur in der Vorstellung existierender Kleiner Lauscher, irgendeine Art von lautlosen Geräuschen, die alle Dinge, lebende und tote, hervorbrachten? Dann fiel ihm ein, daß sie ja gar nicht Laute, sondern Wärme zervten.

Bei jeder Abschweifung zu diesen unerheblichen Themen machte er sich einer Verletzung der für die Klausurperiode geltenden Regeln schuldig. Das wußte er. Aber wenn man den Rahmen etwas weiter zog, ließen sich diese Spekulationen mit dem Problem der bevorstehenden Verbindung in Einklang bringen.

Eine weitere mögliche Ablenkung ersparte er sich, indem er dem Primär das Auftauchen der Ungeheuer im Oberen Schacht verschwieg. Dadurch wäre sein Vordringen in die Ursprungswelt nur um so schärfer verurteilt worden.

In der vierten Wachperiode riß ihn große Aufregung in der Welt draußen aus seiner Versunkenheit. Anfangs glaubte er an einen Überfall durch die Ungeheuer. Aber aus den Stimmen der zum Garten drängenden Personen klang weniger Entsetzen als vielmehr Bestürzung.

Als er sich entschloß, seine Klausur aufzugeben, waren alle Wohngrotten verlassen. Er ging den Leuten nach. Aber auf halbem Wege vermittelten ihm die Töne des Echowerfers Eindrücke vom Primär und Senior Haverty, die ihm entgegenkamen.

»Wie lange hast du denn gehofft, es geheimhalten zu können?« fragte Haverty.

»Zumindest so lange, bis mir eingefallen wäre, was zu tun ist«, erwiderte der Primär bedrückt.

»Wie? Was? Ich meine, was kann man denn dagegen überhaupt unternehmen?«

Aber der andere hatte Jared entdeckt. »Du hast also die Klausur gebrochen«, bemerkte er. »Na ja, ist vielleicht ganz gut.«

Haverty verabschiedete sich, um bei Senior Maxwell in Erfahrung zu bringen, welche Maßnahmen zu empfehlen seien.

»Was ist geschehen?« fragte Jared, nachdem der andere gegangen war.

»Neun heiße Quellen sind ausgetrocknet.« Der Primär schlug den Weg zur Wohngrotte ein.

»Oh. Ich dachte schon, Fledermäuse oder Zerver wären über uns hergefallen«, sagte Jared erleichtert.

»Mir wäre wohler, wenn wir uns nur mit solchen Problemen zu befassen hätten.«

In der von der Außenwelt abgeschlossenen Grotte ging der Primär erregt hin und her. »Die Lage ist sehr kritisch, Jared!«

»Vielleicht beginnen die Quellen wieder von selbst zu fließen.«

»Die anderen drei ausgetrockneten sind auch nicht wiedergekommen. Ich fürchte, daß wir da vergeblich hoffen.«

Jared zuckte die Achseln. »Dann müssen wir eben ohne sie auskommen.«

»Hörst du denn nicht, wie ernst das alles ist? Wir haben es mit einem empfindlichen Gleichgewicht zu tun. Dieser Vorfall jetzt kann bedeuten, daß einige von uns nicht zu überleben vermögen!«

Jared überlegte sich eine optimistische Antwort. Aber plötzlich überfiel ihn eine dunkle Angst. Gehörte dieses unangenehme Ereignis zu den Strafen, die er durch die Herausforderung der Ungeheuer in der Ursprungswelt heraufbeschworen hatte? Heißquellen versiegten in der Oberen und Unteren Welt, bösartige Wesen überstiegen die Barriere — handelte es sich dabei um die rächende Hand des erzürnten Allmächtigen Lichts?

»Was meinst du damit?« fragte er besorgt.

»Denk doch einmal nach. Jede heiße Quelle nährt im Höchstfall die Wurzeln von hundertfünfundzwanzig Mannapflanzen. Neun versiegte Quellen ergeben also beinahe zwölfhundert Pflanzen weniger.«

»Aber das ist doch nur ein Bruchteil —«

»Jeder Bruchteil, der das Überlebenspotential schmälert, wird zu einem kritischen Faktor. Wenn wir weiterrechnen, kommen wir darauf, daß bei neun Quellen weniger nur vierunddreißig Stück Vieh anstatt vierzig gehalten werden können. Alle anderen Herden müssen in entsprechendem Maß verringert werden. Auf lange Sicht bedeutet es, daß siebzehn Personen weniger existieren können!«

»Wir müssen eben durch mehr erlegtes Wild einen Ausgleich schaffen.«

»Es wird sogar Wild geben — und mehr räubernde Riesenfledermäuse in den Gängen.«

Der Primär blieb stehen und atmete schwer. Jared brauchte nicht die Echos seiner Klicksteine, um zu erkennen, daß sein Vater sehr niedergeschlagen war, daß sich tiefere Falten in seine Stirn gegraben hatten.

Jared vermochte ein Gefühl der Hilflosigkeit nicht abzuschütteln, als er daran dachte, wie sehr die Menschen von den Mannapflanzen abhingen. Tatsächlich standen sie zwischen den Überlebenden und dem Tod, denn sie lieferten Nahrung für Mensch und Tier, gehaltvolle Säfte, Fasern, die von den Frauen zu Stoffen, Seilen und Fischernetzen verwebt werden konnten, Fruchthülsen, die sich in zwei Hälften spalten und als Behälter verwenden ließen, Halme, die man trocknen und zu Speeren oder Pfeilen machen konnte.

Beinahe mit Bitterkeit rief er sich die Stimme seines Vaters ins Gedächtnis, mit der dieser vor langer Zeit respektvoll und nachdenklich eine der Legenden erzählt hatte:

»Unsere Mannabäume sind Abbilder der herrlichen Pflanzen, die Licht im Paradies erschaffen hatte — traurige Abbilder. Die Schöpfung Lichts wurde gekrönt von Tausenden graziöser, seidiger Dinge, die im Wind schwankten und wisperten, während sie ständig mit dem Allmächtigen in Verbindung waren. Sie saugten seine Energie auf und verwendeten sie dann dazu, das Wasser mit Bodenteilchen und der von den Menschen und Tieren ausgeatmeten Luft zu mischen. Sie verwandelten dies alles für Mensch und Tier in Nahrung und reine Luft.

Aber die Pflanze war nicht gut genug. Es scheint, als hätten wir geglaubt, einen Baum ohne die zarten, wispernden Dinge hervorbringen zu müssen — einen Baum, der statt dessen über große Massen schwerfälliger Fühler verfügte, die tief in die kochenden Krater hineinwachsen. Dort ziehen sie aus der Wärme des Wassers Energie und verwandeln die stickige, verbrauchte Luft der Welten und Tunnel und die Elemente von Abfall in Fasern und Knollen, Früchte und frische Luft.«

Das war die Mannapflanze.

»Was unternehmen wir jetzt?« fragte Jared schließlich.

»Wie weit bist du mit deiner Klausur?«

»Ich habe das Problem von allen Seiten durchdacht.«

»Das ist günstig.« Der Primär legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich habe das Gefühl, daß wir in allernächster Zeit dringend auf die Hilfe der Oberen Welt angewiesen sein werden. Du wirst inzwischen sicher begriffen haben, daß dir trotz der Klausurperiode kaum eine Wahl bleibt. Gegen diese Verbindung kann unter den gegebenen Umständen einfach nichts sprechen.«

»Nein, du hast wohl recht.«

Der Primär lächelte. »Du wirst nach Ablauf der sieben Klausurperioden sofort zur Oberen Schachtwelt zurückkehren.«

Draußen wurde die tiefe Stille, die sich über die Welt gebreitet hatte, von den ersten Worten der Litanei des Lichts durchbrochen. Die inbrünstige Stimme des Kustos schwankte unter dem Eindruck der Leidenschaft. Leise, aber ebenso ehrfürchtig klangen die Responsorien der Gläubigen auf.

Jared dachte daran, daß die Zeremonie nach dem Eintrocknen der ersten drei Quellen keinen Erfolg gebracht hatte, schob den Vorhang beiseite und schlug den Weg zum Versammlungsplatz ein, um an der Zeremonie teilzunehmen. Daß ihn hier eine neue Erfahrung erwartete, vermochte seine Begeisterung nur mäßig anzufachen.

Er hielt sich am Rande der Schar von Andächtigen. Bei der ersten Teilnahme an einer solchen Zeremonie sich ganz vorne aufzustellen, hätten Kustos und Senioren gleichermaßen abgelenkt. Und er wurde noch verlegener, als ein Kind mit scharfem Gehör in seiner Nähe den Arm der Mutter packte und rief:

»Es ist Jared, Mutter! Jared Fenton!«

»Sei still und hör dem Kustos zu«, mahnte die Frau.

Kustos Philar schritt von einem Andächtigen zum anderen; seine Worte wurden klar von dem Gegenstand zurückgeworfen, den er an seine Brust preßte.

»Berührt diese Heilige Birne«, rief er. »Laßt euch auf den Weg der Tugend bringen. Stoßen wir die Dunkelheit zurück. Nur durch die Ablehnung des Bösen können wir unseren Pflichten als Überlebende genügen und der herrlichen Zeit entgegenlauschen, in der wir uns mit dem Allmächtigen Licht wieder vereinigen!«

Der Kustos gehörte zweifellos zu den hagersten Männern im Unteren Schacht, dachte Jared. Die von seinem Körper zurückgeworfenen Echos verrieten, daß sich Haut über scharf gezeichneten Knochen spannte. Sein Bart war so dünn, daß er beinahe unhörbar blieb. Aber die auffälligsten Merkmale seines abgezehrten Gesichts waren tief in den Höhlen liegende Augen und so fest zusammengepreßte Lider, daß man daran zweifeln mochte, ob sie jemals geöffnet gewesen waren.

Er erreichte Jared und blieb stehen, wobei er sich vergeblich bemühte, die Stimme ins Baßregister sinken zu lassen. »Von all den Dingen unserer Welt ist nur unsere Heilige Birne jemals Licht nahe gekommen. Berühre sie.« Und als Jared zögerte, noch einmal, ganz laut: »Berühre sie!«

Er streckte widerwillig die Hand aus und berührte die runde, kalte Oberfläche. In weit übertriebenem Maße hatte sie dieselbe Form wie die Miniaturbirne in dem Gegenstand, den die Ungeheuer im Oberen Schacht verloren hatten. Und er fragte sich…

Aber dann schob er den Gedanken beiseite. War es nicht seine eigene Neugierde, der die beiden Welten diese Krise zu verdanken hatten?

Der Kustos ging weiter, schwankend und rufend. »Manche leugnen, daß das Licht jemals in dieser Reliquie geweilt habe. Sie tragen die Schuld am Zorn des Allmächtigen.«

Jared senkte den Kopf; er spürte, daß es vielen Umstehenden leichtfallen mußte, jene Person zu identifizieren, der diese Beschuldigung galt.

»Die geistige Herausforderung richtet sich an jeden einzelnen«, kam der Kustos zum Schluß. »Die Echos sind deutlich genug. Wenn wir nicht für unsere Sünden büßen wollen, haben wir damit zu rechnen, daß dasselbe Allmächtige Licht, das die Überlebenden verbannt hat, auch die Macht besitzt, sie endgültig zu vernichten!«

Er verwahrte die Heilige Birne wieder in der Nische und wandte sich mit ausgebreiteten Armen der Versammlung zu. Eine ältere Frau trat vor, und Jared lauschte den Händen Philars, die den abschließenden Ritus vollzogen.

»Spürst du Es?« fragte der Kustos.

Die Frau verneinte enttäuscht und ging weiter.

»Geduld, meine Tochter. Alle, die gegen die Dunkelheit kämpfen, dürfen darauf hoffen.«

Eine andere Überlebende, zwei Kinder und ein Überlebender traten zum Kustos, bevor im Ritus der Erregung des optischen Nervs die erste positive Reaktion eintrat. Sie kam von einer jungen Frau. Als der Kustos die vor ihrem Gesicht hängenden Haare geteilt und mit den Fingerspitzen ihre Augäpfel berührt hatte, rief sie ekstatisch: »Ich spüre Es! Oh, ich spüre Es!« Der Kustos strich ihr anerkennend über den Kopf und wandte sich der nächsten Person zu.

Jared wartete als letzter in der Reihe. Er gestattete sich nicht die Meinung, jene Personen, die der Empfindung teilhaftig wurden, spürten vielleicht nichts anderes als einen besonderen Druck der Hände des Kustos, er bemühte sich vielmehr, aufnahmefähig zu bleiben, damit seine erstmalige Teilnahme an diesem Ritus nicht durch ein seit langem bestehendes Vorurteil beeinflußt wurde.

Als er an die Reihe kam, hatten die anderen den Versammlungsplatz verlassen. Nur er und der Kustos blieben zurück. Während er mit gesenktem Kopf wartete, lauschte er Philars strenger Miene. Der Kustos verhehlte seine Ansicht nicht, daß Jareds flagrante Mißachtung der Barriere für das über die Untere Welt hereingebrochene Unglück verantwortlich war.

Knochige Hände berührten Jareds Gesicht, glitten über die Wangen zu den Augen. Dann preßten sich Fingernägel an die weichen Stellen an den unteren Lidern.

Zuerst spürte Jared — nichts. Dann übten die Finger des Kustos einen beinahe schmerzhaften Druck aus.

»Spürst du Es?« sagte Philar.

Aber Jared verharrte regungslos und staunend. Zwei verschwommene Ringe lautlosen Schalls tanzten in seinem Kopf. Er spürte sie nicht dort, wo der Kustos den Druck ausübte, sondern irgendwo in der oberen Hälfte seiner Augäpfel. Es war dieselbe Empfindung, die ihn in Gegenwart der Ungeheuer überfallen hatte!

Sollte er wirklich am Allmächtigen Licht teilhaben? Warum fühlte er dann die Gegenwart des Allmächtigen, wenn er den Zwillingsteufeln nahe war? Warum zeigte sich das Gute auch bei den Ungeheuern?

Jared unterdrückte die profanen Gedanken, vertrieb sie aus seinem Verstand, zusammen mit der Erinnerung daran, daß er sie jemals gehegt hatte.

Fasziniert lauschte er den tanzenden Ringen. Sie erschienen mehr oder weniger deutlich, je nach der Veränderung des Druckpunktes durch den Kustos.

»Fühlst du Es?«

»Ich fühle Es«, gestand Jared mit schwacher Stimme.

»Ich habe nicht damit gerechnet«, sagte der andere etwas enttäuscht. »Aber ich höre gerne, daß noch Hoffnung für dich besteht.«

Er trat zu einer Steinbank unter der Nische der Heiligen Birne und setzte sich. Seine Stimme verlor ein wenig an Schärfe. »Wir haben hierüber nicht viel von dir gehört, Jared. Dein Vater macht sich Sorgen darüber, und ich kann ihn gut verstehen. Früher oder später wird das Schicksal dieser Welt in deiner Hand liegen. Ist es eine gute Hand?«

Jared setzte sich neben ihn, mit gesenktem Kopf. »Ich habe Es gespürt«, murmelte er. »Ich habe Es gespürt.«

»Natürlich hast du das, mein Sohn.« Der Kustos legte ihm die Hand auf den Arm. »Du hättest Es früher fühlen können, weißt du. Und vieles wäre anders geworden, für dich — wie vielleicht für die ganze Welt.«

»Habe ich das Versiegen der Quellen verschuldet?«

»Nichts erzürnt das Allmächtige mehr als die Verletzung des Barrieretabus.«

Jared klammerte sich an den anderen. »Was soll ich tun?«

»Du kannst büßen. Dann werden wir hören, was geschieht.«

»Aber Ihr versteht nicht. Es liegt nicht nur an der Mißachtung der Barriere! Ich dachte, das Licht sei vielleicht gar nicht allmächtig, es sei —«

»Ich verstehe dich, mein Sohn. Du hattest deine Zweifel, wie andere Überlebende sie von Zeit zu Zeit haben. Aber vergiß nicht — auf lange Sicht wird man nicht nach seiner Skepsis beurteilt. Das wahre Maß eines bekehrten Überlebenden ist die Aufrichtigkeit, mit der er seinem Unglauben abschwört.«

»Werde ich denn so viel Aufrichtigkeit in mir finden können?«

»Ich bin überzeugt davon — seit diesem Gespräch. Und ich bezweifle nicht, daß du bereit wärest, wenn die versprochene Vereinigung mit Licht in deinem Leben noch eintreten sollte.«

Der Kustos lauschte der Unendlichkeit. »Wie herrlich wird es dann werden, Jared — Licht überall um uns, alles berührend, ständige Gemeinsamkeit mit dem Allmächtigen, dem Menschen volle Erkenntnis bringend. Und die Dunkelheit wird völlig ausgelöscht sein.«

Jared verbrachte den Rest der Wachperiode in der Zurückgezogenheit seiner Grotte. Er dachte jedoch nicht über die bevorstehende Verbindung mit Della nach. Statt dessen prüfte er seine neuen Überzeugungen, davor zurückschreckend, sich irgendeinen Gedanken zu erlauben, der das Allmächtige beleidigen konnte.

Er schwor seiner Suche nach Dunkelheit und Licht ab, ohne sich auch nur dem geringsten Bedauern darüber hinzugeben. Und er beschloß, nie mehr die Barriere zu übersteigen.

Im fest fundierten neuen Glauben entspannte er sich mit der Überzeugung, alles würde gut verlaufen — geistig und physisch. Er war so sehr davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, daß ihn die Nachricht vom Wiedererstehen der zwölf ausgetrockneten Quellen nicht überrascht hätte. Es schien ihm, als habe er mit dem Licht einen feierlichen Bund geschlossen. Er bekräftigte seine Überzeugung nochmals, als der Primär eintrat. »Der Kustos berichtete mir eben, daß du den Laut gehört hast, mein Sohn.«

»Ich höre viele Dinge, die mir vorher entgangen waren.« Die ernsthaft gesprochenen Worte reflektierten im Gesicht seines Vaters ein gütiges, anerkennendes Lächeln.

»Ich habe lange auf diese Worte gewartet, Jared. Jetzt endlich kann ich meine Pläne ausführen.«

»Welche Pläne?«

»Diese Welt braucht junge, lebendige Führerschaft. Sie hat ihr schon gefehlt, bevor die Quellen versiegten. Angesichts der Herausforderung, der wir gegenüberstehen, benötigen wir den Ideenreichtum eines jugendlichen Anführers um so mehr.«

»Du willst, daß ich Primär werde?«

»Sobald wie möglich. Die Vorbereitung ist sehr langwierig. Aber ich unterstütze dich mit allen Kräften.«

Noch vor ein paar Perioden wäre Jared mit dieser Entwicklung nicht einverstanden gewesen. Aber jetzt schien sie nur eine unwesentliche Ausweitung des Lebens der opfervollen Hingabe, das zu führen er sich geschworen hatte.

»Ich höre keine Einwendungen«, sagte der Primär erfreut.

»Du wirst sie auch nicht zu hören bekommen, wenn du beschlossen hast, daß ich dein Nachfolger werden soll.«

»Gut! Im Laufe der nächsten Perioden werde ich dir einiges von dem erklären, was getan werden muß. Sobald du vom Oberen Schacht zurück bist, beginnen wir dann mit der formellen Ausbildung.«

»Wie werden es die Senioren aufnehmen?«

»Nachdem sie gehört haben, was zwischen dir und Kustos Philar vorgefallen ist, gibt es sicherlich keine Einwendungen.«


Früh in der nächsten Periode — noch bevor der Zentralechowerfer eingeschaltet worden war — riß man Jared unsanft aus dem Schlaf.

»Wach auf! Es ist etwas Furchtbares geschehen!«

Senior Averyman stand an seinem Bett. Sein Eindringen in eine private Grotte deutete darauf hin, daß es sich um etwas Ernstes handeln mußte.

Jared sprang auf. Er hörte, daß sich sein Bruder regte.

»Was ist los?« fragte er.

»Der Primär!« Averyman hastete zum Eingang. »Komm mit — schnell!«

Jared rannte ihm nach, wobei er gleichzeitig bemerkte, daß die Schlafbank seines Vaters leer war und daß Romel erwachte. Am Zugang zur Welt erreichte er den Senior. »Wohin gehen wir?«

Aber Averyman keuchte nur. Daß etwas Schreckliches im Gange sein mußte, ergab sich nicht nur aus dem Verhalten des Seniors. Überall hörte man Stimmengewirr. Und Jared lauschte einigen Personen, die offensichtlich schon wußten, was geschehen war, da sie dem Eingang zuliefen.

»Der Primär!« stieß Averyman hervor. »Wir machten einen Frühspaziergang. Und er erzählte mir, daß er dich als seinen Nachfolger einsetzen will. Als wir am Eingang vorbeikamen —« Er taumelte, und Jared prallte mit ihm zusammen.

Jemand schaltete den Echowerfer ein. Jared orientierte sich, als die Einzelheiten seiner Welt hörbar wurden. Unter den vielen Eindrücken zeigte sich auch Romel, der ihnen nacheilte.

Senior Averyman atmete immer noch schwer. »Es war furchtbar! Dieses Wesen stürzte vom Tunnel herein, stinkend und gräßlich! Dein Vater und ich konnten uns vor Entsetzen nicht rühren —«

Der Geruch des Ungeheuers lag in der Luft. Jared fing ihn auf und rannte los.

»Dann zischte es«, hörte er hinter sich Averymans Stimme. »Und der Primär brach zusammen. Er bewegte sich nicht — auch nicht, als ihn das Ungeheuer holte!«

Jared erreichte den Eingang, drängte sich an ein paar Männern vorbei, die einander fragten, was geschehen sei.

Im Tunnel war der Geruch noch aufdringlicher, und er nahm in Richtung Ursprungswelt an Stärke zu. Der vertraute Geruch des Primars hatte sich damit vermischt. In einer Entfernung von wenigen Schritten schien sich der Geruch besonders deutlich zu halten. Jared erreichte die Stelle, bückte sich und hob etwas Weiches, Schlaffes auf.

Ungefähr zweimal so groß wie seine Hand, fühlte es sich wie Stoff aus Mannafasern an. Das Gewebe war jedoch viel feiner. Und an jeder Ecke baumelte ein Band aus demselben Material.

Dieser Gegenstand verlangte nach genauerer Überprüfung. Solange er jedoch nach dem Ungeheuer roch, konnte er ihn nicht in seine Welt mitbringen, ohne einen Skandal zu erregen. Er legte das Gewebe wieder auf den Boden, scharrte Erde darüber und prägte sich die Stelle ein.

Auf dem Rückweg prallte er beinahe mit seinem Bruder zusammen, der sich durch den Tunnel tastete.

»Du wirst also früher Primär, als wir alle gedacht haben«, sagte Romel nicht ohne eine Spur von Neid.

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