16

Zuerst glaubte Jared, Tast-Lauteindrücke durch Lea zu empfangen. Er lauschte — wie er meinte, durch das Bewußtsein der Frau — vielen Stimmen, die durch die Entfernung undeutlich wurden. Der Strom stimmhafter Eindrücke, durch das ›Fenster‹ eindringend, zerteilte sich und prallte gegen die Innenwände.

Zweifellos hatte er das Muster des Gebäudes vor sich, in dem Lea gefangengehalten wurde. Diesmal waren die Empfindungen jedoch äußerst deutlich. Er konnte die Riemen beinahe fühlen, mit denen ihre Arme ans ›Bett‹ gefesselt waren.

»Lea?« dachte er.

Aber er bekam keine Antwort.

Dann begriff er, daß die Vorstellungen nicht aus zweiter Hand kamen. Es war er, der in dieser Hütte festgehalten wurde! Wenn ihm diese Tatsache bisher nicht zum Bewußtsein gekommen war, so lag das möglicherweise daran, daß er immer noch den Auswirkungen des Zischens unterlag, das ihn seiner Sinne beraubt hatte.

Er lauschte konzentriert und entschied dann, daß sich in diesem Raum niemand bei ihm befand. Vorsichtig wandte er sich nach links dem Fenster zu und hörte das Rascheln eines schweren Vorhangs. Durch eine Brise öffneten sich gelegentlich Lücken in diesem Vorhang, durch die das Stimmengewirr lauter, aber kaum besser verständlich, hereindrang.

Eine heftigere Luftströmung packte den Vorhang, schob ihn etwas beiseite, und er empfing die Lauteindrücke einer Felswand, deren Höhe unermeßlich schien. Es war ein Muster, von dem er überzeugt war, es schon einmal gehört zu haben, und er suchte danach in seinem Gedächtnis.

Natürlich — es war dieselbe Wand, durch die er und Mogan in die Strahlung getaumelt waren. Bevor der Vorhang an seinen Platz zurückfiel, hörte er sogar die ferne, festumgrenzte Hohlheit der Tunnelmündung.

Es gab keinen Zweifel mehr. Er befand sich irgendwo in der erschreckenden Weite der Strahlung. Seine Augen öffneten sich, und er zuckte unter dem Ansturm der Eindrücke zusammen. Und doch war die Empfindung nicht so unerträglich, wie er erwartet hatte. Die Sanftheit führte er darauf zurück, daß die Wände der Hütte sehr viel Licht abhielten.

Er wandte den Kopf zum Fenster, fuhr aber sofort zurück. Im Bruchteil eines Herzschlags, bevor seine Lider sich zusammenpreßten, hatte er einen beängstigenden Eindruck aufgefangen. Es war, als spränge ein Teil Wasserstoffs durch einen Spalt im Vorhang, um sich in einem langen, schmalen Streifen auf die relative Dunkelheit des Bodens zu werfen!

Viele Herzschläge später zwang er sich, die Augen wieder zu öffnen. Er kämpfte gegen seine Fesseln. Seine Arme, die unterhalb des Ellenbogens frei waren, stemmte er hoch, aber es nützte nichts. Gegen die Nachwirkungen des Zischens war er immer noch hilflos.

Im nächsten Augenblick unterdrückte er einen Angstschrei und schloß die zitternden Lider über den Augen. Er hatte das Muster einer bedrohlichen, entsetzlichen Erscheinung aufgefangen — ganz knapp vor seinem Gesicht! Es war etwas Knolliges mit fünf gebogenen Auswüchsen, das ihn vage an den Lauteindruck einer —

Aber nein, das konnte nicht sein! Und doch! —

Er öffnete die Augen und bewegte probeweise einen Finger seiner linken Hand. Und einer der Auswüchse bewegte sich ebenfalls. Erleichtert ließ er die Hand sinken. Aber seine Verwirrung wuchs. In den Legenden hieß es, daß das Licht alle Dinge berühren und unglaublich verfeinerte Eindrücke bringen würde. Keiner der Glaubenssätze hatte auch nur darauf angespielt, daß ein Überlebender auch Eindrücke seines eigenen Körpers empfangen würde!

Er hob die Hand wieder so weit, daß er sie sehen konnte, und studierte die Eindrücke. Wie unglaublich vollkommen sie waren! Er konnte jede Rune in der Handfläche, jedes Härchen auf dem Handrücken erkennen.

Dann erstarrte er ungläubig. Die Hand hatte sich abrupt zwiegeteilt, als hätte das Original ein zweites Exemplar hervorgebracht! Die beiden verschmolzen wieder miteinander, dann trennten sie sich wieder, wichen weiter auseinander!

Gleichzeitig spürte er einen wechselnden Druck an den Muskeln seiner Augäpfel — eine Anspannung, die sich am Nasenrücken bemerkbar machte, sobald sich die Hand teilte. Die Spannung ließ sofort nach, wenn die beiden Eindrücke miteinander verschmolzen. Er stellte fest, daß er mit einiger Anstrengung die verwirrenden und gewiß falschen Eindrücke von zwei gleichartigen Händen vermeiden konnte, da ihm doch alle anderen Sinne sagten, daß es nur eine einzige war.

Stimmen in unmittelbarer Nähe der Hütte ließen Jared auf der Hut sein, und er hatte Zeit genug, sich schlafend zu stellen, bevor er hörte, daß sich die Tür öffnete. Zwei von den Wesen kamen herein und traten ans Bett. Er rührte sich nicht. Als sie zu sprechen begannen, hörte er, daß ihre Worte durch die Stoffmasken drangen, die sie vor dem Gesicht trugen.

»Ist das der Neue?«

»Der letzte, den wir herausgeholt haben. Soweit sich das jetzt übersehen läßt, ist er übrigens derjenige, der Hawkins niedergeschlagen und ihm das Mädchen mit der Infrarotempfindlichkeit abgenommen hat.«

»Ach, der. Fenton — Jared Fenton. Sein Vater hat auf diesen Tag gewartet.«

»Soll ich Evan sagen, daß wir ihn gefunden haben?«

»Das geht nicht. Man hat ihn schon zu den Fortgeschrittenen versetzt.«

Jared hoffte, daß die beiden nicht gesehen hatten, wie er bei der Erwähnung seines Vaters zusammengezuckt war. Solange er ihnen vormachen konnte, daß er schlief, ließen sich die Martern hinausschieben.

»Na schön, Thorndyke«, sagte der eine, »fangen wir an.«

Jared staunte, daß Thorndyke selbst sich herbemüht hatte.

»Hat er schon seine Spritzen bekommen?« fragte der andere.

»Alle.«

»Dann können wir ja die Dinger abnehmen, ohne wieder eine Erkältungsepidemie hervorzurufen.«

Jared hörte, wie die Tücher von ihren Gesichtern entfernt wurden, dann legte sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter.

»Also passen Sie auf, Fenton«, sagte Thorndyke. »Ich werde Ihnen jetzt etwas in die Augen schleudern, das Sie bestimmt nicht verstehen werden — zuerst. Aber das gibt sich langsam.«

Als Jared schwieg, fragte der andere: »Glaubst du, daß er immer noch bewußtlos ist?«

»Natürlich nicht. Alle, die nicht einen Tobsuchtsanfall erleiden, stellen sich schlafend. Los, Fenton. Soviel ich weiß, haben Sie schon mehr Erfahrung mit Licht als alle anderen. Sie müßten das doch ohne weiteres ertragen können.«

Vielleicht lag es an der berechnenden Freundlichkeit der Stimme. Oder Jared war es müde geworden, die Lider zusammenzupressen, ohne daß er es wußte. Auf jeden Fall stürmte im nächsten Herzschlag Licht in sein Bewußtsein und brachte eine Reihe von Eindrücken mit sich, die nicht auseinanderzuhalten waren. »Das ist schon besser«, seufzte Thorndyke. »Endlich tut sich was.«

Aber Jareds Lider schlossen sich wieder, die verwirrenden Empfindungen aussperrend. Und er verglich das in diesem kurzen Augenblick aufgefangene Lichtmuster mit den Höreindrücken, die er immer noch empfing.

Thorndyke war ein großer Mann, dessen Gesicht Kraft und Entschlossenheit verriet. Diese Merkmale bildeten jedoch einen seltsamen Kontrast zu der femininen Erscheinung, die sein haarloses Kinn bot.

Lose flatternde Kleidung brachte das Gesamtbild in Unordnung. Aber Jared gab zu, daß Wesen, die in der Wärme der Unendlichkeit lebten, enganliegende Kleidungsstücke nicht gebrauchen konnten.

»Zieh die Vorhänge zurück, Charles«, sagte Thorndyke, »damit Licht hereinkommt.«

»Bist du sicher, daß er schon soweit ist?« fragte der andere, während er zum Fenster ging.

»Ich denke schon. Er hält sich fast so gut wie ein Zerver. Wahrscheinlich stieß er doch öfter auf Licht, als wir meinen.«

Eine Welle von Angst überflutete Jared, als er hörte, wie der Vorhang geöffnet wurde, dann spürte er den grellen Ansturm des Lichts gegen seine geschlossenen Lider.

Thorndykes Hand legte sich wieder auf seine Schulter. »Nur mit der Ruhe jetzt, Fenton. Sie brauchen keine Angst zu haben. Es geschieht Ihnen nichts.«

Aber das war natürlich nur Täuschung. Sie wollten ihn in falscher Sicherheit wiegen, ihm etwas Hoffnung lassen. Um so mehr konnten sie sich dann an seiner Qual weiden, wenn er einsehen mußte, daß sie ihn zum Narren gehalten hatten.

Er öffnete die Augen, konnte aber das jetzt in die Hütte stürzende Licht kaum ertragen. Als er die Lider wieder senkte, geschah dies jedoch weniger aus Angst vor dem Licht als vielmehr deswegen, weil er zwei Thorndykes Seite an Seite hatte stehen sehen! Er begann zu zittern.

Thorndyke lachte. »Am Anfang macht die optische Täuschung noch Schwierigkeiten, nicht wahr? Aber das gibt sich bald.«

Er zog eine Bank heran und setzte sich an das Bett. »Zunächst wollen wir ein paar Dinge klarstellen. Manches wird Ihnen unverständlich bleiben, das übrige scheint gegen jede Logik zu verstoßen. Bemühen Sie sich, soviel wie möglich in gutem Glauben zu akzeptieren. Früher oder später wird Ihnen alles klar werden. Erstens — das ist nicht die Strahlung. Wir sind keine Dämonen. Sie sind nicht tot und auf dem Weg zum Paradies irregegangen. Am Himmel draußen steht die Sonne. Sie ist sehr eindrucksvoll, aber nicht die Verkörperung des Teufels Wasserstoff.«

»Auch nicht das Allmächtige Licht«, fügte Charles hinzu.

»Nein, Fenton«, bestätigte Thorndyke. »Im Gegensatz zu Ihrem jetzigen Glauben werden Sie später vielleicht diese Außenwelt als Paradies ansehen.«

»Tatsächlich werden Sie sich das Paradies auf andere Weise vorstellen«, erklärte Charles. »Unerreichbar im körperlichen Sinn, jenseits der Unendlichkeit, womit jedoch eine neue Art von Unendlichkeit gemeint ist. Das Ganze läuft darauf hinaus, daß Sie eine Reihe von Überzeugungen gegen neue eintauschen werden.«

Einen Augenblick blieb es still. Dann fragte Thorndyke: »Können Sie uns folgen? Möchten Sie irgend etwas sagen?«

»Ich möchte in meinen Schacht zurück«, stieß Jared hervor, ohne die Augen zu öffnen.

»Na bitte!« Charles lachte. »Er spricht also doch!«

»Ich habe mir schon gedacht, daß Sie zurück wollen«, sagte Thorndyke müde. »Das geht aber nicht. Was meinen Sie dazu: möchten Sie — äh — wie heißt das Mädchen?«

»Della«, ergänzte Charles.

Jared stemmte sich gegen seine Fesseln. »Was geschieht mit ihr? Kann ich — sie sehen?«

»Donnerwetter. Er weiß also sogar, was er mit seinen Augen tut! Charles, was ist mit dem Mädchen? Wie geht es ihr?«

»Sie schafft es leichter als die anderen, weil den Zervern das Sehen nicht völlig fremd ist. Selbstverständlich weiß sie noch nicht, worum es überhaupt geht. Aber sie ist bereit, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind.«

Thorndyke schlug sich auf den Schenkel. »Na also, Fenton. Sie können das Mädchen morgen sehen — in der nächsten Periode.« Da begann sie schon — die Tortur. Man bot ihm nur etwas an, um es ihm dann später höhnisch zu versagen.

»Das wäre das erste«, sagte Thorndyke schließlich. »Nun will ich Ihnen einiges erklären, das Sie sich für die Zeit merken können, in der sich für Sie ein Sinn daraus ergeben wird:

Ihre beiden Welten und die Zerver sind Nachkommen der US-Luftschutztruppe Elf. Stellen Sie sich eine ganze Welt vor — nicht in der Art, wie Sie sie kennen, sondern viel, viel größer mit Milliarden — Sie wissen, was eine Milliarde ist? — mit Milliarden von Menschen. Diese sind in zwei Lager geteilt und stehen kurz davor, sich mit unvorstellbar wirksamen Waffen zu bekämpfen. Die Anwendung dieser Waffen würde bedeuten, daß die Luft auf viele Generationen hinaus vergiftet wäre.«

Thorndyke machte eine Pause, und Jared hatte den Eindruck, daß er diese Geschichte schon Hunderte von Malen erzählt hatte.

»Der Krieg beginnt wirklich«, fuhr Thorndyke fort, »aber glücklicherweise nicht, bevor Maßnahmen für den Schutz einiger Gruppen getroffen worden sind — um genau zu sein, waren es siebzehn. Unter der Erde werden riesige Schutzräume eingerichtet und gegen die verseuchte Atmosphäre abgedichtet.«

»Eigentlich war es schon eine bemerkenswerte Leistung«, fügte Charles hinzu, »daß es überhaupt gelang, eine Handvoll Menschen über die Katastrophe hinwegzuretten. Dies hätte sich gar nicht bewerkstelligen lassen ohne die Anwendung von Atomkraft und die Entwicklung einer Pflanzenart, die durch Thermosynthese statt Photo —«

Charles verstummte, als hätte er begriffen, daß Jared mit diesen technischen Ausdrücken nichts anzufangen wußte.

»Sie kennen Sie als Mannapflanzen«, erklärte Thorndyke. »Auf jeden Fall waren die Schutzeinrichtungen vorbereitet; der Krieg begann, und die wenigen Auserwählten flüchteten aus ihrem — sozusagen Paradies. Im wesentlichen verlief alles wie geplant. Die Anlagen funktionierten richtig; das traditionelle Wissen und die vertrauten Institutionen wurden beibehalten. Das Leben ging weiter, und jedermann wußte, wo man sich befand und warum man hier war. Generationen später, nachdem die Luft in der Außenwelt wieder sauber war, beschlossen die Nachkommen der ursprünglichen Überlebenden, daß man mit einiger Sicherheit ins Freie zurückkehren könne.«

»Außer im Komplex Elf«, fügte Charles hinzu. »Dort ging es nicht so glatt.«

»Das kann man wohl sagen«, meinte Thorndyke. »Wir müssen aber noch einmal zurückgehen. Nach allem, was ich gehört habe, Fenton, sind Sie ein Ungläubiger — Sie hatten nie die Idee akzeptiert, daß das Licht Gott sei. Inzwischen dürften Sie eine recht gute Vorstellung davon haben, was es wirklich ist, wenn Sie auch aus lauter Eigensinn die Augen nicht öffnen wollen. Auf jeden Fall gehen wir von hier aus weiter:

Licht ist etwas so Natürliches, wie zum Beispiel das Geräusch eines Wasserfalls. In seiner ursprünglichen Form wird es im Übermaß von der Erscheinung ausgestrahlt, die Sie als Wasserstoff in Person bezeichnen werden, wenn Sie sie sehen. Wir haben auch die Möglichkeit, das Licht künstlich zu erzeugen, wie Sie ja inzwischen wissen. Jede einzelne der damaligen Schutzanlagen besaß ihr eigenes Lichterzeugungssystem bis zu dem Zeitpunkt, als die Leute in die Außenwelt zurückkehren konnten.«

Charles unterbrach: »Nur in Ihrem Komplex war das anders. Nach ein paar Generationen verloren Ihre Leute die Fähigkeit, mit diesen Systemen zurechtzukommen, sobald ein Defekt eintrat. Und dazu kam es leider auch.«

»Irgendeine Maschine versagte«, fuhr Thorndyke in seinem Bericht fort. »Und dann — nun, das Licht erlosch. Gleichzeitig versagte ein Großteil der Leitungen, die heißes Wasser in den großen Schutzraum pumpten. Ihre Leute mußten tiefer in die Schächte vordringen und andere Räume bewohnen, die für den Fall vorgesehen waren, daß sich die Bevölkerung rascher als erwartet, vermehren würde.«

Jared erkannte in verschwommenen Umrissen ein Bild dessen, was man ihm glauben machen wollte. Aber es war so unfaßbar — soweit er es zu begreifen vermochte —, daß sich die Logik dagegen auflehnte. Wer konnte sich zum Beispiel vorstellen, daß die ganze Unendlichkeit voll von feindseligen Leuten war? Dabei klangen die Stimmen von Thorndyke und Charles nicht bedrohlich, im Gegenteil, sogar beruhigend.

Aber nein! Genau diese Reaktion wollten sie ja bei ihm hervorrufen. Sie bemühten sich, durch Tricks sein Zutrauen zu erschleichen. Trotzdem war er entschlossen, sich nicht davon abbringen zu lassen, daß er Della befreien und mit ihr die Flucht aus der Strahlung wagen würde.

Er öffnete die Augen, ließ sie aber nur kurz auf Thorndyke ruhen. Daneben sah er das Fenster mit den geöffneten Vorhängen. Dahinter erhob sich die riesige Felswand mit dem dunklen Loch der Tunnelmündung.

Als die Lichteindrücke noch schärfer wurden, erstarrte er. In der Ferne entdeckte er zahlreiche, sich bewegende Gestalten — Gestalten, die entweder Überlebende oder Ungeheuer sein mußten, die aber nicht größer waren als sein kleiner Finger. Und er sah jetzt auch, daß die Öffnung des zu seiner Welt zurückführenden Tunnels nicht größer war als der Nagel an seinem Finger!

Charles mußte bemerkt haben, daß sich Jareds Gesicht vor Schreck verzerrte. »Was hat er denn?«

Aber der andere lachte nur. »Das sind die ersten Erfahrungen mit der Perspektive. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, Fenton. Sie werden sich daran gewöhnen, daß Dinge in größerer Entfernung klein erscheinen. Stimmen in der Nähe klingen doch auch lauter als solche, die aus weiter Ferne kommen, nicht wahr?«

»Für einen Anfänger sieht er schon recht gut«, meinte Charles.

»Ich würde sagen, daß er den anderen schon um ein paar Schritte voraus ist. Wahrscheinlich war er schon vorher im Freien. Das stimmt doch, Fenton?«

Aber Jared gab keine Antwort. Mit geschlossenen Augen beklagte er die Tatsache, daß die Schrecken der Unendlichkeit furchtbarer waren, als er geahnt hatte. Er mußte zu seiner Welt zurück!

»Zurück zum Schutzraum Elf«, unterbrach Thorndyke seine verängstigten Gedanken. »Als Ihre Leute die Haupträume verließen, blieben Erkenntnis und Vernunft zurück. Das fanden wir heraus, nachdem wir die Abdichtung beiseite schafften und zum erstenmal in die Tunnels eindrangen. Übrigens sind wir Angehörige einer Expedition aus dem Komplex Sieben, schon vor etwa einer Generation aus den Höhlen entlassen. Wie erwähnt, stießen wir in einem Ihrer Tunnels auf einen einzelnen Überlebenden. Nachdem es mir schließlich gelungen war, ihn niederzuringen, konnten wir uns ausrechnen, was geschehen war.«

»Es handelte sich um einen Überlebenden aus dem Oberen Schacht«, bemerkte Charles. »Wir brauchten Wochen, bis wir ihm ein bißchen Logik beigebracht hatten. Zur selben Zeit wurde uns klar, daß wir die übrigen Leute nicht einfach wieder an die Sonne bringen konnten, indem wir vor sie hintraten und sagten: ›Hier sind wir, das ist Licht, und jetzt gehen wir alle schön hinaus.‹«

»Das ist richtig«, bestätigte Thorndyke. »Bis wir die Lage überprüfen konnten, mußten wir langsam vorgehen und einen Überlebenden nach dem anderen überfallen. Wir konnten nicht in Massen anmarschieren, bevor wir nicht alle Höhlen und Nischen kannten, in denen Ihre Leute sich zu verbergen vermochten.«

Langsam ergab sich Sinn aus den Worten, und Jared zwang sich, liegenzubleiben und zuzuhören.

Thorndyke stand auf und lachte. »Wir hatten geplant, ein paar Überlebende umzuschulen und sie dann ohne Licht zurückzuschicken, damit sie den anderen die Wahrheit langsam beibringen sollten.«

»Das klappte aber nicht«, sagte Charles. »Sobald sich jemand von euch daran gewöhnt hat, seine Augen zu benutzen, kommt er im Dunkeln ohne Licht nicht mehr zurecht. Die meisten haben sogar Angst vor den Tunnels und Grotten.«

Thorndyke rieb sich die Hände. »Das sollte vorerst genügen, Fenton. Denken Sie darüber nach. Ich habe das Gefühl, daß Sie beim nächstenmal einiges fragen möchten. Wir bringen dann ein paar Leute mit, die Sie kennen und denen Sie vertrauen.«

Jared öffnete die Augen und sah die beiden den Raum verlassen. Zu seiner Bestürzung bemerkte er, daß sie hinsichtlich der Perspektive recht gehabt hatten. Je weiter sie sich entfernten, desto kleiner wurden sie.

Er stemmte sich verzweifelt gegen seine Fesseln, aber ohne Erfolg. Dann wandte er sein Gesicht der gegenüberliegenden Wand zu. Augenblicklich flutete grelles Licht in seine Augen, und er schrie erschreckt auf. Von einer Ecke des Fensters her kreischte ein Segment jener großen Scheibe, von der Thorndyke bestritten hatte, daß es sich um Wasserstoff handelte. Näherte sie sich seiner Hütte — wollte sie ihn überfallen?

Entsetzt bäumte er sich mit aller Kraft gegen die Fesseln auf. Sie zerrissen und fielen zu Boden, gerade als er die Hitze jener — Sonne hatte Thorndyke sie genannt — auf seinem Körper immer stärker spürte. Er stürzte zur Tür und kratzte hilflos an dem starren Vorhang, bis seine Fingernägel brachen. Nach einem Augenblick des Zögerns rannte er durch den Raum und warf sich durchs Fenster. Er landete auf den Füßen und bemerkte, daß die Sonne nicht so nahe herangekommen war, wie er befürchtet hatte. Aber es gab andere Komplikationen. Die seinen Augen vermittelten Eindrücke sagten ihm, daß seine Hütte nur eine in einer ganzen Reihe von Gebäuden war. Nur erwies sich jede folgende Hütte als ein wenig kleiner, bis die letzte kaum größer war als seine Hand!

Überdies begannen all die Leute, die er in der Ferne gesehen und gehört hatte, auf ihn zuzulaufen und zu rufen. Und obgleich sie kleiner waren als sein Finger, wurden sie um so größer, je näher sie heranrückten.

Verwirrt drehte er sich um und raste den Abhang zu dem Erdwall hinauf, der die Tunnelmündung umgab.

»Ein Ausreißer! Ein Ausreißer!« wurde hinter ihm geschrien. Er taumelte über ein Hindernis, das er nicht gehört hatte, und raffte sich mühsam auf. Die Hitze von dem großen Ding, das ›Sonne‹ genannt wurde, peitschte gnadenlos auf seine nackten Schultern und den Rücken hinab, als er sich den Hang hinaufquälte und der Tunnelmündung immer näher kam.

Das gähnende, dunkle Loch teilte sich, und die beiden Öffnungen wichen auseinander. Er bemühte sich, seine Augenmuskeln unter Kontrolle zu bringen. Schließlich verschmolzen die beiden Löcher wieder miteinander. Keuchend erreichte er die Tunnelmündung.

Aber er konnte sich nicht dazu überreden, in den Tunnel einzudringen. Die Dunkelheit war zu undurchdringlich, zu drohend!

Hinter der ersten Biegung mochte ein Vampir warten!

Oder er konnte in einen Krater stürzen, den er weder zu sehen noch zu hören vermochte!

Seine Verfolger hatten ihn fast erreicht. Er drehte ab und raste an der Felswand entlang. Wiederholt stolperte er, rollte sogar einmal einen steilen Abhang hinab, bis sein Sturz durch eine dichte Pflanzung rauher, niedriger Gewächse gebremst wurde.

Er rannte weiter, hielt die Augen meistens geschlossen, prallte gegen die breiten Stämme der Paradiespflanzen, die ihm im Weg standen. Aber wenigstens wurden die Stimmen hinter ihm leiser, und die Hitze des furchtbaren Wasserstoffs auf seinen Armen, auf dem Rücken brannte nicht mehr so unerträglich wie unzählige Herzschläge hindurch.

Er rannte, blieb stehen, um Atem zu holen, rannte wieder, bis er schließlich zu Boden fiel und hilflos durch die niedrigen Gewächse rollte. Dann kroch er tiefer in die dichte Anpflanzung und blieb erschöpft liegen, das Gesicht in die feuchte Erde gepreßt.

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