4

Geleitet von seinen Echosteinen, ging Jared vorsichtig durch den Tunnel. Die Ungereimtheiten machten ihm schwer zu schaffen. Der Korridor schien zugleich vertraut und fremdartig. Er spürte, daß er schon einmal hier gewesen war. Dort der schmale Stein zum Beispiel, von dem kaltes Wasser in melodischer Monotonie auf die Pfütze hinabtropfte. Er war oft hier gewesen, hatte die Hände über die schlüpfrige Feuchtigkeit gleiten lassen und den herabklatschenden Tropfen gelauscht.

Und doch veränderte sich jetzt der Stein wie ein lebendiges Wesen, wuchs, bis er das Wasser berührte, schrumpfte dann in die Decke zurück. In der Nähe öffnete und schloß sich drohend ein Krater. Und der Tunnel selbst verengte und weitete sich wie die Lunge eines Riesen.

»Hab keine Angst, Jared.« Eine sanfte Frauenstimme brach das tiefe Schweigen. »Wir haben nur vergessen, wie man alles in Ordnung hält.«

Ihr Tonfall klang beruhigend und vertraut, zugleich aber fremd und aufschreckend. Er schickte harte, deutliche Klicktöne hinaus. Das aus der Nähe wiederkehrende Bild vermittelte den Eindruck einer Silhouette — als höre er die Frau nur durch mehrfach zurückgeworfene Echos. Ihre Gesichtszüge blieben unverändert, aber nicht zu erkennen. Und als er die Hand ausstreckte, war sie nicht da. Und doch sprach sie ihn an. »Es ist ja so lange her, Jared! Alle Einzelheiten sind verschwunden.«

Zögernd trat er näher. »Gute Frau?«

Und er spürte ihr Lächeln. »Das klingt so — steif.«

Augenblicklich tauchte eine ganze Schar von vergessenen Kindheitserinnerungen auf. »Aber ihr — seid doch gar nicht wirklich! Du und der Kleine Lauscher und der Ewige Mann — wie könnt ihr etwas anderes sein als ein Traum?«

»Horch, Jared. Klingt das wirklich?«

Der hängende Stein regte sich noch immer. Fels berührte seinen Arm, als die rechte Wand herandrängte, sich wieder entfernte.

Dann träumte er also nur — wie er vor vielen Perioden so oft geträumt hatte. Er erinnerte sich wehmütig daran, wie ihn die Gute bei der Hand genommen und fortgeführt hatte. Er konnte die Hand nicht immer fühlen. Und sie führte ihn auch in Wirklichkeit nicht fort, weil er die ganze Zeit schlafend auf seiner Bank lag.

Aber plötzlich sprang er im vertrauten Tunnel oder in einer nahen Welt mit dem Kleinen Lauscher umher, dem Jungen, der nur die unhörbaren Laute winziger Insekten vernahm. Und die Gute Frau erklärte: »Wir beide, Jared, du und ich, können den Lauscher vor der Einsamkeit bewahren. Denk nur, wie schrecklich seine Welt ist — totenstill! Aber ich kann ihn und dich in diesen Tunnel bringen. Wenn ich es tue, ist es, als wäre er nicht mehr taub. Und ihr könnt miteinander spielen.«

Jared war jetzt wieder ganz in dem vertraut-fremden Tunnel.

Und die Gute Frau sagte: »Der Kleine Lauscher ist jetzt ein erwachsener Mann. Du würdest ihn nicht wiedererkennen.«

Verwirrt erwiderte Jared: »Traumwesen werden nicht älter!«

»Wir sind keine Traumwesen!«

»Wo ist der Lauscher?« fragte er skeptisch. »Laß ihn hören.«

»Ihm und dem Ewigen Mann geht es gut. Der Ewige Mann ist aber sehr alt geworden. Er ist eigentlich gar nicht ewig, weißt du — nur beinahe. Aber wir haben keine Zeit, sie zu hören. Ich mache mir Sorgen um dich, Jared. Du mußt aufwachen!«

Einen Augenblick lang kam es ihm vor, als bräche er aus dem Traum aus. Aber dann kehrten seine Gedanken ruhig in die Kindheit zurück. Er erinnerte sich, wie die Gute Frau gesagt hatte, daß er der einzige sei, den sie erreichen könne — und auch nur dann, wenn er schlafe. Aber er hörte nicht auf, anderen Leuten von ihr zu erzählen. Und sie habe Angst, weil sie wisse, daß sich andere zu fragen begännen, ob er nicht zu den Andersartigen gehöre. Sie wolle nicht, daß er das Schicksal aller Andersartigen teilen müsse. Deswegen käme sie nicht mehr.

»Du mußt aufwachen, Jared!« unterbrach sie seine Erinnerungen. »Du bist verletzt und warst zu lange bewußtlos.«

»Nur deswegen bist du wiedergekommen — um mich zu wecken?«

»Nein. Ich will dich vor den Ungeheuern und all den Träumen warnen, die du nicht loswirst, wie ich höre — Träume von der Jagd nach Licht. Die Ungeheuer sind abscheulich und böse. Ich habe in das Gehirn eines der Monstren geblickt. Es war so voll von entsetzlichen, fremdartigen Dingen, daß ich es kaum den Bruchteil eines Herzschlags aushielt!«

»Es gibt mehr als nur ein Ungeheuer?«

»Sehr viele sogar.«

»Und wie steht es mit der Suche nach Licht?«

»Hörst du denn nicht, Jared, daß du nur hinter Träumen herjagst? Es gibt keine Dunkelheit, kein Licht, wie du sie dir vorstellst. Du versuchst nur, der Verantwortung zu entfliehen. Du mußt an deine Pflichten als Überlebender, an die Verbindung denken — an Dinge, die wirklich etwas bedeuten!«

Er war immer davon überzeugt gewesen, daß seine Mutter der Guten Frau geglichen hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre.

Er wollte ihr antworten. Aber sie war nicht mehr da.


Jared rollte auf einer weichen Mannafibermatratze zur Seite, spürte eine Bandage am Kopf.

Von irgendwoher drang eine väterliche Stimme, monoton die üblichen Erklärungen gebend:

»… Hier stehen wir unter dem Echowerfer, mein Sohn. Hörst du, wie laut er klingt? Achte auf die Richtung der Töne — schnurgerade nach oben. Wir befinden uns im Mittelpunkt der Welt. Horch, wie die Echos praktisch zur gleichen Zeit von allen Wänden zurückkommen. Komm hierher, mein Junge…«

Jared stützte sich mühsam auf einen Ellbogen, aber jemand nahm ihn bei den Schultern und ließ ihn auf die Matratze zurückgleiten.

Es war der Berater Lorenz, der seinen Kopf abwandte und flüsterte: »Geh zum Boß und teile ihm mit, daß er zu sich kommt.«

Jared fing Dellas Duft auf, als sie die Grotte verließ. Er war überlagert von vielen schwereren Gerüchen, die ihm verrieten, daß er sich in Anselms Grotte befand.

Von draußen drangen die Erklärungen des lehrenden Vaters herein und störten Jared bei dem Bemühen, sich zurechtzufinden.

»… Dort, unmittelbar vor dir, mein Sohn — hörst du diesen leeren Raum im Lautmuster? Das ist der Eingang zu unserer Welt. Jetzt gehen wir zum Geflügelhof. Vorsichtig, mein Junge! Fünf Schritte vor dir befindet sich eine Auswulstung. Bleib stehen. Befühle sie. Merke dir Form und Größe. Bemühe dich, sie zu hören. Präge dir genau ein, wo sie sich befindet. Dann kannst du dir manchen blauen Fleck ersparen…«

Jared versuchte, die störende Stimme auszuschalten und seine Gedanken zu sammeln. Aber die Nachwirkungen seines Traumes ließen sich nicht abschütteln.

Sehr seltsam, daß die Gute Frau ganz plötzlich aus seinen vergessenen Phantasien auftauchte, als hätte er in den Abgrund seiner Vergangenheit hinabgegriffen und ein Stück seiner Kindheit heraufgeholt. Aber er wußte, was er von dem Trugbild zu halten hatte — es war nicht mehr als der Ausdruck einer Sehnsucht nach der Sicherheit, an der es ihm gebrach, seit ihn sein Vater bei der Hand genommen und ihm seine Welt erklärt hatte, wie es jetzt ein aufmerksamer Vater draußen vor der Grotte tat.

»Was, um Strahlungs willen, ist passiert?« stieß er hervor.

»Ein Speer hat Sie mit der Breitseite an der Schläfe erwischt«, erwiderte Lorenz. »Sie sind eine ganze Periode lang weggewesen.«

Plötzlich fiel ihm alles ein. »Das Ungeheuer! Die Zerver!«

»Sie sind fort — alle.«

»Was ist geschehen?«

»Soweit wir feststellen konnten, hat das Ungeheuer am Eingang einen Zerver verschleppt. Zwei andere Zerver versuchten ihn zu retten. Aber sie brachen zusammen, bevor sie das Ungeheuer erreichen konnten.«

Klicks vom Echowerfer drangen durch die halbgerafften Vorhänge herein und wurden vom Gesicht des Beraters zurückgeworfen, seine besorgte Miene deutlich zeigend. Noch etwas anderes war zwischen den Runzeln verborgen, verlieh den geschlossenen Lidern den Ausdruck noch stärkerer Anspannung — ein verlegenes Zögern. Der Berater schien sich zu überlegen, ob er etwas Bestimmtes aussprechen sollte.

Jared machte sich jedoch größere Sorgen wegen des Eindringens des Ungeheuers im Oberen Schacht. Bislang hatte er die Barriere für stark genug gehalten, die Bestie zurückzuhalten. Er war der Meinung, daß er und Owen zu Recht für die Verletzung der Tabus bestraft worden waren. Aber damit konnte ja die Angelegenheit nicht erledigt sein. Das Ungeheuer hatte vielmehr die Barriere überstiegen, um eine Welt der Menschen zu betreten. Und wieder fragte sich Jared, ob er nicht die Verantwortung trug. Er hatte doch die Ursprungswelt zuerst betreten, nicht wahr? Und hatte nicht das Ungeheuer einen passenden Zeitpunkt für den Überfall gewählt — gerade eben, als Jared sich einer Blasphemie schuldig machte, indem er daran dachte, seine Suche nach Licht wieder aufzunehmen?

Der Berater hatte seine Entscheidung getroffen. »Was taten Sie, als Sie von dem Speer getroffen wurden?«

»Ich versuchte, den am Eingang als Wache zurückgelassenen Zerver zu erreichen.«

Lorenz erstarrte hörbar. »Sie geben es also zu?« »Was wäre hier zuzugeben? Ich hörte eine Gelegenheit, eine Geisel zu machen.«

»Oh.« Das Wort ließ Enttäuschung deutlich erkennen.

Dann fügte der Berater zweifelnd hinzu: »Der Boß wird froh sein, das zu hören. Viele von uns haben sich sehr gewundert, daß Sie sich fortstahlen.«

Jared schwang die Beine über den Rand der Bank. »Ich höre leider nicht, worauf Sie hinauswollen. Sie glauben —«

Aber der andere fuhr fort: »Sie wollten also einen Zerver angreifen? Es fällt ein bißchen schwer, das zu glauben.«

Zuerst war Lorenz' offene Feindschaft erkennbar gewesen. Dann kam seine spaßhafte — oder auch nur äußerlich spaßhafte — Bemerkung, Jareds Fähigkeiten seien zerverähnlich. Und nun diese neuerliche verschleierte Anspielung.

Er packte Lorenz beim Handgelenk. »Welchen Verdacht hegen Sie?«

Aber in diesem Augenblick kam Anselm in die Grotte. »Was höre ich da von einem Überfall auf Zerver?«

Della betrat hinter ihm die Nische, und Jared lauschte ihren beinahe geräuschlosen Bewegungen, als sie sich der Schlafbank, auf der er saß näherte.

»Das hatte er vor, als er sich dem Eingang zuschlich«, erklärte Lorenz skeptisch.

Aber Anselm bemerkte den ungläubigen Unterton nicht. »Sagte ich euch nicht, daß es ihm nur darum zu tun war? Wie fühlst du dich, Jared, mein Junge?«

»Genauso, als hätte man mir einen Speer auf den Schädel geschlagen.«

Der Boß lachte jovial, wurde aber sofort wieder ernst. »Du warst diesem Wesen näher als irgendeiner von uns. Was, um Strahlungs willen, war es?«

Jared überlegte, ob er ihm von seinen Erfahrungen mit dem Ungeheuer berichten sollte. Aber das Gesetz der Barriere galt hier ebenso starr wie im Unteren Schacht. »Ich weiß es nicht. Ich hatte nicht viel Zeit, es zu belauschen, bevor mich die Lanze streifte.« — »Kobalt«, murmelte Berater Lorenz. »Es muß Kobalt gewesen sein.«

»Vielleicht waren es Kobalt und Strontium zusammen«, meinte Della leise. »Jemand hatte den Eindruck, daß es zwei Ungeheuer gewesen sind.«

Jared erstarrte. Hatte nicht auch sein Traum angedeutet, daß es mehrere solche Ungeheuer gebe?

»Beim Licht — es war entsetzlich!« stimmte Anselm zu. »Es müssen die Zwillingsteufel gewesen sein. Wer sonst könnte solche unheimlichen Dinge in unsere Köpfe schleudern?«

»Sie haben nicht, wie Sie sich ausdrücken, ›Dinge‹ in alle Köpfe geschleudert«, erinnerte ihn der Berater kühl.

»Richtig. Nicht alle haben dasselbe gespürt wie ich. Beispielsweise kann sich keiner von den Leuten mit struppigen Gesichtern an etwas Derartiges erinnern.«

»Ich auch nicht, und ich gehöre nicht zu diesen Leuten.«

»Es gab ein paar Personen, abgesehen von den struppigen, die jene Empfindung nicht bemerkten. Wie war es bei dir, mein Junge?«

»Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht«, log Jared, um nicht in Einzelheiten gehen zu müssen.

Anselm und Lorenz schwiegen, während Della eine sanfte Hand auf Jareds Stirn legte. »Wir machen dir etwas zu essen. Kann ich sonst etwas für dich tun?«

Verwirrt lauschte er dem Mädchen. Noch nie hatte sie einen derart liebenswürdigen Ton angeschlagen!

»Na, mein Junge«, sagte Anselm zum Abschied, »mach's dir bequem, solange du noch hier bist — also bis zu deiner Rückkehr nach Hause, wo du dich in Klausur begeben mußt, wie es vorgeschrieben ist.«

Die Vorhänge schlossen sich hinter ihm und dem Berater.

»Ich will hören, ob dein Essen schon fertig ist«, sagte Della und verließ nach ihnen die Grotte.

Jared legte sich zurück und betastete die wunde Stelle unter der Bandage. Die Begegnung mit dem einen — oder mehreren Ungeheuern stand noch frisch in seinem Gedächtnis. Er hatte in ihrer Gegenwart dasselbe gefühlt wie in der Ursprungswelt. Während er sich noch einmal den unheimlichen Druck auf sein Gesicht vergegenwärtigte, schien es ihm für einen Augenblick, als seien von dieser Gestalt vorwiegend seine Augen betroffen gewesen. Aber wieso? Und er wunderte sich noch immer darüber, daß Owen von dieser seltsamen Einwirkung unberührt geblieben war. Konnte die Vorliebe seines Freundes für geschlossene Augen etwas damit zu tun haben, daß er diesen psychischen Druck nicht spürte?

Della kam zurück, und er hörte, daß sie eine Schale gefüllt mit — er lauschte der Konsistenz der Flüssigkeit und sog den schwach aromatischen Duft ein — Mannaknollenbrühe trug. Aber er spürte mehr als das. In der anderen Hand hielt sie etwas, das er nicht zu identifizieren vermochte.

»Fühlst du dich stark genug für ein bißchen Suppe?« Sie reichte ihm die Schale.

Aus ihren Worten sprach zärtliche Besorgnis; er konnte sich ihren plötzlichen Gesinnungswechsel nicht erklären.

Etwas Warmes tropfte auf seine Hand. »Du verschüttest die Suppe«, warnte er.

»Oh.« Sie hielt die Schale gerade. »Entschuldige.«

Aber er lauschte betroffen. Sie hatte nicht einmal die Flüssigkeit an der Außenseite hinabrinnen hören. Sie schien ja praktisch taub zu sein!

Um sie zu testen, flüsterte er kaum hörbar: »Was ist das für eine Suppe?«

Keine Antwort. Sie besaß überhaupt kein Feingehör! Nach dem Bankett war sie aber in der Lage gewesen, ein derart kleines und stilles Wasserreservoir als Zielscheibe zu benützen, daß er es nicht einmal bemerkt hatte.

Sie stellte die Schale auf ein Gesims und streckte ihm den Gegenstand in ihrer anderen Hand entgegen. »Was hältst du davon, Jared?«

Er inspizierte das Ding. Der Geruch des Ungeheuers haftete noch an ihm. Es war röhrenförmig, wie ein Mannahalm, aber an beiden Enden abgeschnitten. Die glatte Oberfläche des einen, verbreiterten Endstückes war jedoch zersplittert. Er fuhr mit dem Finger in die Bruchstelle und ertastete ein hartes, rundes Objekt im Innern. Als er seinen Finger zurückzog, verletzte er ihn an einer scharfen Stelle.

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es am Eingang gefunden. Sicher muß es eines der Ungeheuer verloren haben.«

Wieder befühlte er das runde Ding hinter der zerbrochenen Oberfläche. Es erinnerte ihn an — irgend etwas.

»Das größere Endstück war warm, als ich es aufhob«, berichtete sie.

Er lauschte ihr mißtrauisch. Warum hatte sie vor dem Wort ›warm‹ gezögert? Wußte sie, daß es Hitze war, die die Zerver zervten? Wollte sie das Thema einmal probeweise anschneiden, um seine Reaktion zu prüfen — vielleicht sogar die Andeutung des Beraters testen, er sei ein Zerver? Wenn das ihre Absicht war, blieb sie gut verborgen.

Dann fuhr er hoch. Er wußte jetzt, woran ihn das runde Ding im zerbrochenen Endstück der Röhre erinnerte! Es war eine Miniaturausgabe der Heiligen Birne, die bei religiösen Zeremonien Verwendung fand!

Und er schüttelte verwirrt den Kopf. Welcher Sinn ergab sich aus diesem absurden Paradox? Hing nicht die Heilige Birne mit dem Licht zusammen — mit dem Guten und der Tugend — statt mit scheußlichen, bösartigen Ungeheuern?


Die restlichen Perioden, die Jared im Oberen Schacht zu verbringen hatte, verliefen ereignislos bis zur Monotonie. Die Bewohner zeigten sich alles andere als freundlich. Ihre Erfahrung mit den Ungeheuern machte sie schreckhaft und distanziert. Mehr als einmal blieben seine Worte ungehört, während beschleunigte Herzschläge anhaltende Furcht verrieten.

Ohne Dellas Anwesenheit wäre er sicherlich vorzeitig in seine Welt zurückgekehrt. Das Mädchen gab ihm jedoch Rätsel auf, die sein Interesse erregten.

Della schloß sich eng an ihn an und bot ihm Freundschaft in so verschwenderischem Maß, daß er oft ihre Hand in der seinen fühlte, wenn sie mit ihm durch die Wohnquartiere ging, um ihn mit den Leuten bekannt zu machen.

Bei einer bestimmten Gelegenheit vertiefte sich das Geheimnis noch, als sie stehenblieb und flüsterte: »Jared, verbirgst du etwas?« — »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ich bin selbst eine recht gute Schützin, findest du nicht?«

»Mit Kieselsteinen — ja.« Er beschloß, sie ein wenig anzustacheln.

»Ich habe auch das von den Ungeheuern zurückgelassene Ding gefunden.«

»Und?«

Ihr Gesicht war ihm voll Eifer zugewandt; er studierte es mit Hilfe der vom Echowerfer ausgesandten Töne. Als er schwieg, seufzte sie enttäuscht.

Sie wandte sich ab, aber er packte sie am Arm. »Was verberge ich deiner Meinung nach, Della?«

Aber ihre Stimmung hatte sich gewandelt. »Ob du dich nun entschlossen hast oder nicht, deine Absicht zur dauernden Verbindung mit mir zu erklären.«

Daß sie log, stand außer Zweifel.

Die beiden letzten Wachperioden hindurch schien sie jedoch buchstäblich an seinen Lippen zu hängen, als könnten seine nächsten Worte jene sein, die sie hören wollte. Bis zum Augenblick seiner Verabschiedung konnte sie ihre gespannte Erwartung kaum verbergen.

Sie standen beim Mannagarten, seine Begleitergruppe wartete am Eingang, und sie sagte vorwurfsvoll: »Jared, es ist nicht fair, etwas geheimzuhalten.«

»Was meinst du?«

»Zum Beispiel den Grund, warum du so gut — hören kannst.«

»Der Primär hat seine ganze Zeit damit zugebracht, mich auszubilden —«

»Das hast du mir alles schon erzählt«, unterbrach sie ihn. »Jared, wenn wir nach der Überlegungsperiode einer Meinung sind, werden wir miteinander verbunden. Dann wäre es gewiß nicht richtig, Geheimnisse zu haben.«

Als er sie eben zu fragen im Begriff war, worauf sie eigentlich hinauswollte, trat Lorenz hinzu, einen Bogen über die Schulter gehängt. »Bevor Sie gehen, möchte ich Sie noch um ein paar Tips fürs Bogenschießen bitten«, sagte er.

Jared nahm Bogen und Köcher und fragte sich, warum Lorenz plötzlich seine Schießfertigkeit zu verbessern wünschte. »Wie Sie wollen — gehen wir zum Schießplatz.«

»Oh, dort spielen in Kürze die Kinder«, lehnte der Berater ab. »Hören Sie sich im Garten um. Bemerken Sie die große Mannapflanze genau vor Ihnen, etwa vierzig Schritte entfernt?«

»Ich höre sie.«

»Auf dem höchsten Halm befindet sich eine Frucht. Sie könnte ein gutes Ziel abgeben.«

Jared trat außer Reichweite der Dämpfe des nächstgelegenen kochenden Kraters und holte seine Echosteine hervor. »Bei einem unbeweglichen Ziel muß man zuerst genaue Ortungen vornehmen«, erklärte er. »Der Zentralechowerfer vermittelt keine präzisen Eindrücke.«

Er setzte einen Pfeil auf die Bogensehne. »Wichtig ist auch, daß man die Beine nicht bewegt, um die ursprüngliche Zielrichtung beizubehalten.«

Er ließ die Sehne los und lauschte dem Pfeil, der zwei Armlängen über der Fruchthülse dahinflog.

Erstaunt über einen derart krassen Fehlschuß, bediente er sich wieder der Echosteine. Aber am Rande fing er Lorenz' Reaktion auf. Der Gesichtsausdruck des Beraters verriet gewaltige Erregung. Auch Dellas Gesicht trug einen beinahe ekstatischen Zug.

Warum diese maßlose Freude, wenn er verfehlte? Verwirrt nahm er einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und schoß ihn ab.

Wieder daneben — erneut um zwei Armlängen.

Der Berater und Della schienen innerlich zu jubeln. Aber bei Lorenz war es Triumph, während bei Della ehrliche Freude mitschlug.

Er verfehlte mit zwei weiteren Schüssen, bevor er dieses unbegreiflichen Spiels überdrüssig wurde. Verärgert warf er den Bogen fort und ging zum Eingang, wo die Begleiter geduldig warteten. Nach ein paar Schritten begriff er, warum er danebengeschossen hatte. Die Spannung der Bogensehnen hier war wesentlich stärker als in seiner Welt! Ganz einfach also. Es fiel ihm ein, daß sich die Sehne straffer angefühlt hatte.

Dann blieb er wie angewurzelt stehen. Plötzlich hörte er ganz klar. Er wußte, warum Lorenz so reagiert hatte — er wußte sogar, warum die Schießprobe überhaupt arrangiert worden war.

Um seine Stellung als Berater zu retten, sann Lorenz darauf, seine Verbindung mit Della zu hintertreiben. Was gab es für einen besseren Weg, als zu beweisen, daß Jared ein Zerver war?

Der Berater mußte gewußt haben, daß Zerver in der Wärme eines Heißquellengebiets nicht zerven konnten. Da Jared dort ständig sein Ziel verfehlt hatte, mußte Lorenz jetzt davon überzeugt sein, einen Zerver am Werk gehört zu haben.

Aber wie stand es bei dem Mädchen? Es wußte offensichtlich auch von der für die Zerver geltenden Beschränkung. Und sie hatte erkannt, was der Test beweisen sollte, wenn sie auch vielleicht nicht geahnt haben mochte, daß er nur zu diesem Zweck arrangiert worden war.

Aber seine Fehlschüsse hatten sie sogar in Begeisterung versetzt! Warum?

»Jared! Jared!«

Er hörte, wie ihm Della nachrannte.

Sie packte ihn beim Arm. »Du brauchst es mir jetzt nicht mehr zu sagen. Ich weiß. O Jared, Jared! Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es dazu kommen würde!«

Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn.

»Du weißt — was?« fragte er.

Sie erwiderte eifrig: »Hörst du denn nicht, daß ich es von Anfang an vermutet habe — von dem Augenblick an, als du zum Speerwerfen antratest? Und als ich dir die Röhre von den Ungeheuern brachte, sagte ich dir beinahe ganz deutlich, daß ich es durch die von ihr ausgehende Wärme gefunden hatte. Ich wollte aber nicht den ersten Zug machen — nicht, bis ich sicher war, daß du auch ein Zerver bist.«

Aus den Tiefen seines Staunens mühte er sich die Frage ab: »Auch?«

»Ja, Jared. Ich bin ein Zerver — genau wie du.«

Der Captain der offiziellen Eskorte kam herüber. »Wir können uns auf den Weg machen, wenn es Ihnen recht ist.«

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