Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, war der Strafkrater im Oberen Schacht schlimmer als jener in Jareds Welt. Er dachte, daß man kaum eine schrecklichere Strafe für Missetaten erfinden konnte. Als Einrichtung zur Gefangenhaltung war er ausbruchsicher.
Der Sims, auf dem er lag, befand sich zwei volle Körperlängen unterhalb der Oberfläche. Und er war wesentlich schmäler als seine Schultern, so daß ein Arm und ein Bein über dem Abgrund baumeln mußten.
An einem Seil hinabgelassen, lag er Hunderte von Herzschlägen lang regungslos — bis seine Glieder gefühllos geworden waren. Dann hatte er einen seiner Echosteine ins Loch hinabgeworfen. Er war gefallen — endlos gefallen. Viele Atemzüge später, nachdem er die Hoffnung, den Aufprall zu hören, schon aufgegeben hatte, war ein kaum vernehmbares Klatschen heraufgedrungen.
Aus weiter Ferne kamen die Laute der Geschäftigkeit — spielende Kinder, klappernde Mannaschalen, und immer wieder Husten.
Schließlich war der Echowerfer für die Schlafperiode abgestellt worden, und noch später erschien Della.
An einer Schnur ließ sie eine mit Nahrung gefüllte Schale hinunter. Dann legte sie sich auf den Boden, so daß ihr Kopf über den Rand des Kraters ragte.
»Ich hatte Onkel Noris schon beinahe davon überzeugt, daß du kein Zerver bist«, flüsterte sie enttäuscht, »als ihn diese Epidemie wieder in furchtbare Aufregung versetzte.«
»Du meinst das Niesen und Husten?«
Sie nickte. »Die Leute sollten den Medizinschimmel nehmen, wie wir auch. Aber Lorenz redet ihnen ein, daß er gegen Strahlungskrankheit nicht hilft.«
Sie verstummte, und er ließ die Mannaschale gegen die Kraterwand klappern. Aus den wiederkehrenden, scharfen Echos vermochte er die Züge des Mädchens zusammenzusetzen. Und mehr noch als zuvor gefiel ihm, was er hörte.
Er führte einen Krebs zum Mund, hielt aber inne, als ihm klar wurde, daß sie auch jetzt zervte. Wieder ließ er die Schale gegen die Wand prallen, um Echos zu gewinnen. Er hörte, daß ihm ihr Gesicht direkt zugewandt war.
Jetzt war jedoch kaum der richtige Augenblick, zu lauschen, was mit den Dingen um sie herum geschah, sobald sie zervte. Wenn wirklich irgend etwas abnahm, würde er das keinesfalls entdecken können, solange er sich mühsam an einen Sims klammern mußte.
Trotzdem konzentrierte er sich auf eine Tatsache, die sich jetzt klar herausschälte: Da sowohl Dunkelheit als auch Licht wahrscheinlich mit den Augen zusammenhingen — vielleicht ganz besonders mit den Augen eines Zervers —, mußte die von ihm gesuchte Abnahme zweifellos eine meßbare Wirkung auf die Augen ausüben.
Halt! Da war etwas gewesen — in Anselms Grotte, als sich Della über ihn gebeugt hatte, um ihn wachzurütteln. Haarsträhnen waren ihr dabei ins Gesicht gefallen. Und als sie diese Strähnen wegstrich, war dann nicht weniger Haar vor ihren Augen gewesen?
Er biß sich enttäuscht auf die Lippe. Nein — Dunkelheit konnte nicht etwas so Simples wie Haar sein. Das wäre reinste Ironie — wenn er etwas suchte, das er sein ganzes Leben kannte. Außerdem hatte Cyrus erklärt, die Dunkelheit sei allumfassend, überall.
Das bedeutete, daß er ein weites Gebiet abhorchen mußte, rings um das Mädchen.
»Jared«, sagte Della zögernd, »du bist nicht — ich meine, du hast nicht mit den Ungeheuern —«
»Ich hatte nichts mit ihnen zu tun.«
Sie atmete erleichtert auf. »Kommst du aus — der Zerverwelt?«
»Nein. Ich bin nie dort gewesen.«
Der Widerhall seiner Worte fing ihre bedrückte Miene auf.
»Dann hast du also dein ganzes Leben damit zugebracht, zu verbergen, daß du ein Zerver bist — genau wie ich«, erklärte sie mitfühlend.
Es empfahl sich, sie in ihrem Zutrauen zu bestärken.
»Es ist nicht leicht gewesen.«
»Nein, gewiß nicht. Zu wissen, daß man alles viel besser tun kann, und sich ständig scharf belauschen zu müssen, damit die anderen nicht herausfinden, was man eigentlich ist.«
»Ich habe wohl etwas zu viel riskiert, sonst säße ich jetzt nicht hier unten.«
Er hörte, wie ihre Hand am Kraterrand entlangglitt, als wolle sie sich zu ihm hinabtasten. »O Jared! Bedeutet es dir auch soviel — zu wissen, daß du nicht allein bist? Ich hatte nie vermutet, daß auch ein anderer soviel durchmachen müßte wie ich — immer voll Angst, daß man erkannt wird.«
Er konnte verstehen, wie sehr sie sich zu ihm gedrängt fühlte, wie ihre Einsamkeit nach ihm rief. Und er spürte in sich, daß es ihn zu ihr trieb, obwohl er kein Zerver mit dem Bedürfnis nach Mitgefühl war.
»Ich begreife nicht, warum du nicht schon vor langer Zeit begonnen hast, nach der Zerverwelt zu suchen«, fuhr sie fort. »Ich hätte es getan. Aber ich fürchtete immer, mich in den Tunnels zu verirren.«
»Ich wollte auch dorthin«, schwindelte er. Und es schien, als könnte er die Rolle eines Zervers ganz einfach spielen, indem er ihrem Beispiel folgte. »Aber ich habe Pflichten gegenüber dem Unteren Schacht.« — »Ja, ich weiß.«
»Ich höre nicht — das heißt, ich zerve nicht, warum du dich den Zervern bei einem ihrer Überfälle nicht angeschlossen hast«, meinte er.
»Oh, das ginge doch nicht. Was wäre, wenn ich es versuchte, und die Zerver nähmen mich nicht auf? Dann wüßte jedermann über mich Bescheid. Man würde mich als Andersartige in die Tunnels treiben!«
Sie erhob sich und zervte in den Krater hinab.
»Du gehst?« fragte er.
»Nur so lange, bis ich einen Weg gefunden habe, dir zu helfen.«
»Wie lange will man mich hier festhalten?« Er versuchte sich umzudrehen, erreichte aber nur, daß er um ein Haar vom Sims gestürzt wäre.
»Bis die Ungeheuer zurückkommen; dann will ihnen Onkel Noris beibringen, daß wir dich als Geisel gefangenhalten.«
Während er den verklingenden Schritten lauschte, staunte er über die Möglichkeiten, die sich aus seiner Gemeinschaft mit dem Mädchen ergaben. Selbst wenn Licht und Dunkelheit nicht zu fassen sein sollten, mochte er wenigstens etwas über die verwirrende Fähigkeit der Zerver erfahren.
Es war nach Mitternacht, als es Jared mit verkrampften und schmerzenden Muskeln gelang, sich eine sitzende Stellung zu erringen. Er pochte mit der Mannaschale gegen die Felswand und lauschte. Das Loch war nicht sehr breit — etwa zwei Körperlängen im Durchmesser, schätzte er. Und er konnte hören, daß die Wände keine Spalten oder Ausbuchtungen aufwiesen, die als Griffe für den Aufstieg dienen konnten.
Er stemmte ein Knie bis zur Brust hoch und stellte den Fuß auf den Sims. Dann erhob er sich mit ausgestreckten Armen Ruck um Ruck, bis er aufrecht stand. Langsam drehte er sich um, preßte die Brust an das Gestein. Er hob die Arme und erzeugte laute Töne, indem er mit den Fingern schnippte. Das plötzliche Absinken im Tonregister verriet ihm, daß bis zum Rand des Kraters noch mindestens eine Armlänge über seine ausgestreckte Hand hinaus zurückzulegen war.
Er verharrte mehrere hundert Herzschläge lang in dieser Stellung, bis plötzlich ein ungeheurer Aufruhr losbrach. Vorher waren nur die normalen Laute einer schlafenden Welt hörbar gewesen, interpunktiert von gelegentlichen Hustenanfällen.
Dann brach sich mit einem Schlag gewaltige Erregung und Verwirrung Bahn, als eine der Wachen entsetzt aufschrie: »Ungeheuer! Ungeheuer!«
Heisere Rufe, Kreischen und die Geräusche der verzweifelt hin- und herrennenden Bewohner drangen in den Krater.
Jared verlor beinahe das Gleichgewicht, als er den Kopf weit nach hinten bog; er spürte sofort, daß die ganze Öffnung über ihm mit lautlosem Schall wisperte. Im Gegensatz zu seiner Erfahrung beim Ritus gab es hier nur einen Kreis dieser unheimlichen Erscheinung. Und er schien seine Augen nicht direkt zu berühren, sondern stimmte in Größe und Form mit dem hörbaren Eindruck von der Öffnung des Kraters überein.
Er wankte, fuhrwerkte mit den Armen, um sich vor einem Sturz zu bewahren, und preßte dann sein Gesicht gegen das Gestein. Er hörte, wie jemand zum Krater lief.
Im nächsten Augenblick erkannte Jared die Stimme des Beraters, die von weitem schrie: »Sind Sie noch am Krater, Sadler?«
Irgendwo ertönten hilflose Schreie, als Sadler oben zum Stehen kam. »Ich bin hier!« Er stieß seinen Speer gegen den Fels, um Jareds Position auf dem Sims auszuloten.
Diesmal erhob sich Anselms Stimme, um den Ungeheuern zu drohen: »Wir haben Fenton gefangen! Wir wissen, daß er mit euch zusammenarbeitet! Verschwindet, sonst bringen wir ihn um!«
Entsetztes Kreischen verriet, daß die Ungeheuer Anselms Drohung mißachteten.
»Also gut, Sadler!« brüllte Lorenz. »Wirf ihn in den Abgrund!«
Die Speerspitze streifte Jareds Schulter; er zuckte zusammen und rutschte den Sims entlang. Sie kam wieder herab, glitt zwischen den Kraterinnenrand und seinen Brustkasten und begann, ihn vom Sims zu stemmen. Jared rutschte aus, kämpfte mit fliegenden Armen um sein Gleichgewicht.
Im letzten Augenblick schlossen sich seine Hände um den Speer. Er riß sich verzweifelt nach oben, zog den Speer mit einem heftigen Ruck an sich und spürte, wie der Mann oben die Balance verlor. Plötzlich hatte Jared den Speer frei in der Hand; ein starker Luftzug fauchte an ihm vorbei, als Sadler schreiend in den Abgrund stürzte.
Die Waffe war lang genug, den Krater zu überbrücken. Jared tastete mit der Spitze die gegenüberliegende Wand ab, bis er eine Einbuchtung gefunden hatte. Er zwängte das Schaftende des Speers in den Spalt und stützte die Spitze gegen den Fels über sich.
So schnell wie sie ausgebrochen war, legte sich die Panik in der Oberen Schachtwelt wieder. Anscheinend hatten die Räuber ihre Absicht erreicht und waren wieder verschwunden.
Jared schwang sich auf den festgeklemmten Speer, streckte die Arme aus, erreichte den Rand der Krateröffnung und zog sich hoch.
»Jared! Du bist frei!«
Echos ihrer Schritte brachten bruchstückhafte Eindrücke Dellas, die auf ihn zulief. Er konnte das leise Scharren des Seils hören, das sie um den Hals geschlungen hatte.
Er versuchte, sich zurechtzufinden. Aber das langsam verklingende Stimmengewirr war zu konfus, als daß er daraus hätte schließen können, wo sich der Eingang befand.
Della ergriff seine Hand. »Ich konnte erst jetzt ein Seil finden.«
Impulsiv schlug er die Richtung ein, in die er gelauscht hatte.
»Nein.« Sie drehte ihn herum. »Dort drüben ist der Eingang. Kannst du ihn zerven?«
»Ja, jetzt zerve ich ihn.«
Er blieb ein wenig zurück, stets einen Schritt hinter ihr und folgte ihrer ziehenden Hand.
»Wir machen einen weiten Umweg, am Fluß entlang«, schlug sie vor. »Vielleicht können wir den Tunnel erreichen, bevor sie den Zentralechowerfer einschalten.«
Und er hatte gerade darauf seine Hoffnung gesetzt. Natürlich, er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß dieselben Echos, die ihm Hindernisse zeigten, auch den anderen verrieten, wo er sich befand.
Er stieß mit dem Fuß gegen eine kleine Erhebung und stürzte. Mit Hilfe des Mädchens richtete er sich wieder auf und hinkte weiter. Dann nahm er sich zusammen und besann sich auf all die vielen Tricks, in endlosen Trainingsstunden erworben, als er gelernt hatte, den Rhythmus eines Herzschlags, die rauschende Stille eines trägen Flusses, gestört von der Bewegung eines Fisches unter der ruhigen Oberfläche, den schwachen Geruch und das Gleiten eines Salamanders über nasses Gestein zu erkennen.
Zuversichtlicher horchte er nach Geräuschen — irgendwelchen Geräuschen; er erinnerte sich jetzt daran, daß selbst das unbedeutendste Geräusch nützlich ist. Da! Das minimale Stocken in Dellas Atmung, als sie ihre Lungen füllte. Es bedeutete, daß sie auf eine niedrige Erhebung trat. Er war vorbereitet, als er die Stelle erreichte.
Angestrengt lauschte er anderen Lauten. Die Herzschläge waren zu undeutlich, als daß man sie hätte gebrauchen können. Aber in ihrer Tragtasche klapperte etwas. Er roch die kaum merkbaren Düfte verschiedener Nahrungsmittel. Sie hatte eine Menge Speisen eingepackt, und irgendein Leckerbissen fiel bei jedem Schritt gegen die Innenwand der Tasche. Wenn er aufmerksam genug war, konnten ihm diese schwachen Geräusche Echos liefern. Da waren sie schon — beinahe verloren in den lauteren Tönen der Welt, aber doch so deutlich, daß sie hörbare Eindrücke dessen, was vor ihm lag, vermittelten.
Jetzt hatte er seine Sicherheit wiedergewonnen.
Sie verließen das Flußufer, kürzten den Weg hinter dem Mannagarten ab und hatten den Eingang beinahe erreicht, als jemand nun den Echowerfer einschaltete.
Augenblicklich erkannte Jared deutlich, was ihn vorher nur vage gestört hatte — eine Wache war eben am Eingang eingetroffen.
Kurz darauf gab der Mann auch schon Alarm. »Jemand versucht zu fliehen! Zwei sind es sogar!«
Jared duckte sich und stürmte los. Er prallte gegen den Wächter und riß ihn zu Boden.
Della holte Jared ein und gemeinsam rannten sie in den Tunnel. Er ließ sie voraushasten, bis sie die erste Biegung hinter sich hatten. Dann holte er ein paar Steine aus der Tasche und übernahm die Führung.
»Echosteine?« fragte sie verständnislos.
»Natürlich. Wenn wir jemandem aus der Unteren Welt begegnen, fragt man sich vielleicht, warum ich sie benütze.«
»O Jared, warum gehen wir nicht — nein. Es hat wohl keinen Sinn.«
»Was wolltest du sagen?« Er war jetzt wieder völlig unbefangen; die vertrauten Töne der Echosteine brachten wahre Eindrücke von der Umwelt zurück.
»Ich wollte sagen, gehen wir doch zur Zerverwelt, wo wir hingehören.«
Er blieb abrupt stehen. Die Zerverwelt! Warum nicht? Wenn er nach der Abnahme irgendeines Mediums suchte, die beim Zerven auftreten sollte, wo ließ sich das besser feststellen, als in einer Welt, wo viele Leute den ganzen Tag zervten? Aber konnte er damit ungestraft durchkommen? Konnte er in einer Welt voll Zerver erfolgreich einen Zerver spielen — noch dazu, da man ihm von vornherein feindlich gesinnt sein würde?
»Ich kann den Unteren Schacht nicht verlassen«, entschied er schließlich.
»Das habe ich mir gedacht. Jedenfalls nicht, solange man dort mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Aber einmal, Jared — einmal werden wir hingehen?«
»Bestimmt.«
Sie umklammerte seine Hand fester. »Jared! Wenn nun der Boß einen Läufer zum Unteren Schacht schickt, um den Leuten mitzuteilen, daß du ein Zerver bist?«
»Man würde es —« Er verstummte. Eigentlich hatte er sagen wollen, daß man es in seiner Welt nicht glauben würde. Aber das war gar nicht mehr so sicher, vor allem, wenn man sich überlegte, daß der Kustos alles tat, um die anderen gegen ihn aufzuwiegeln.
Als sie seine Welt erreichten, fiel ihm auf, daß keine Wachen mehr am Eingang standen. Die klaren, deutlichen Töne des Echowerfers ließen jedoch erkennen, daß jemand am Ende des Tunnels stand. Beim Näherkommen empfing Jared den reflektierten Eindruck einer weiblichen Gestalt, mit dichtem Haar vor dem Gesicht.
Es war Zelda.
Als die beiden näherkamen, fuhr sie zusammen. Nervös betätigte sie ihre Echosteine, bis Jared und Della in den Bereich des Echowerfers traten.
»Du hast dir eine schöne Zeit dafür ausgesucht, deine Partnerin mitzubringen«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie Jared erkannt hatte.
»Warum?«
»Die Ungeheuer haben wieder zwei Personen geraubt«, erwiderte sie. »Deswegen bewachen wir den Eingang nicht mehr. Sie haben nämlich einen Wächter verschleppt. Inzwischen ist es dem Kustos gelungen, die ganze Welt gegen dich aufzubringen.«
»Vielleicht läßt sich das ändern«, meinte er zornig.
»Ich glaube nicht. Du bist nicht mehr Primär. Romel hat sich an deine Stelle gesetzt.« Zelda hustete ein paarmal, und das Haar wurde vor ihrem Gesicht hochgeblasen.
Jared schritt zur Amtsgrotte.
»Warte«, rief ihm das Mädchen nach. »Da ist noch etwas anderes. Alle sind wütend auf dich. Hörst du das?«
Er horchte in die Richtung der Wohnquartiere. Die ganze Welt hallte von Husten wieder.
»Sie geben dir die Schuld an dieser Epidemie«, erklärte Zelda, »seit ihnen eingefallen ist, daß du als erster krank warst.«
»Jared ist zurückgekommen!« rief jemand im Mannagarten.
Ein anderer Mann weiter oben gab den Ruf weiter.
Kurze Zeit später verließ eine Gruppe von Leuten den Mannagarten, wo sie gearbeitet hatte. Andere stürzten aus ihren Grotten. Alle näherten sich dem Eingang.
Jared studierte die zurückgeworfenen Echos und fing Eindrücke von Romel und Philar in der ersten Reihe der anrückenden Bewohner auf. Zu beiden Seiten wurden sie durch Bewaffnete gedeckt.
Della packte erschrocken seinen Arm. »Vielleicht wäre es sicherer, wenn wir einfach gingen.«
»Wir dürfen Romel das nicht durchgehen lassen.«
Zelda fügte lachend hinzu: »Wenn du meinst, daß unsere Welt durcheinander ist, dann warte nur einmal, bis du hörst, was Romel sich mit ihr leistet.«
Jared wich vor den herandrängenden Männern nicht zurück. Wenn er sie davon überzeugte, daß Romel und Philar sich ihrer nur als Werkzeuge persönlichen Ehrgeizes bedient hatten, dann nur aus einer würdigen und zuversichtlichen Haltung heraus.
Sein Bruder blieb vor ihm stehen und warnte: »Wenn du hierbleiben willst, hast du dich meinen Anordnungen zu fügen. Ich bin jetzt Primär.«
»Wie haben die Senioren abgestimmt?« fragte Jared gelassen.
»Zu einer Abstimmung ist es noch nicht gekommen. Aber das holen wir nach!« Romel schien einiges von seinem Selbstvertrauen zu verlieren. Er verstummte, um zu horchen, ob er noch die Unterstützung der Überlebenden genoß, die sich im Halbkreis um den Eingang aufgestellt hatten.
»Kein Primär kann ohne genaue Untersuchung abgesetzt werden«, zitierte Jared das Gesetz.
Kustos Philar trat vor. »Was uns angeht, ist dir eine Untersuchung schon zuteil geworden — vor einer Macht, deren Gerechtigkeit die unsere weit übertrifft, vor dem Großen Allmächtigen Licht selbst!«
Einer der Männer schrie: »Du hast die Strahlungskrankheit! Man bekommt sie nur, wenn man sich mit Kobalt oder Strontium einläßt!«
»Und du hast alle anderen damit angesteckt!« fügte ein anderer hustend hinzu.
Jared wollte etwas einwenden, aber man schrie ihn nieder.
Der Kustos erklärte streng: »Es gibt nur zwei Ursachen für die Strahlungskrankheit. Entweder hast du wirklich etwas mit den Zwillingsteufeln zu tun gehabt, wie Romel vermutet, oder die Krankheit ist eine Strafe des Lichts für deine Lästerungen, wie ich annehme.«
Jetzt verlor Jared die Fassung. »Das ist nicht wahr! Fragt doch Cyrus, ob ich —«
»Das Ungeheuer hat Cyrus gestern geholt.«
»Der Denker — ist nicht mehr?«
Della berührte seinen Arm und flüsterte: »Wir müssen schnell verschwinden, Jared.«
Im Tunnel wurden eilige Schritte und die Töne von Echosteinen hörbar. Jared lauschte.
An der Geschwindigkeit ließ sich erkennen, daß der Mann zu den amtlichen Läufern gehörte. Als er langsamer wurde, stand fest, daß er die Versammlung am Eingang gespürt hatte. Er blieb stehen, trat ein paar Schritte vor.
»Jared Fenton ist ein Zerver!« verkündete er. »Er hat die Ungeheuer in den Oberen Schacht geführt!«
Die bewaffneten Wachen schwärmten aus und umringten Jared und das Mädchen.
Jemand schrie: »Zerver — im Tunnel!«
Mehr als die Hälfte der Überlebenden fuhr herum und flüchtete lärmend in die Grotten, als Jared den vom Gang heranschwebenden Geruch auffing. Jemand, von dem die Gerüche der Zerverwelt ausgingen, näherte sich — taumelnd, stürzend, sich wieder aufraffend.
Die Wachen fuhren auseinander. Die beiden Männer am Eingang hoben ihre Speere.
In diesem Moment taumelte der Zerver in den Klangbereich des Echowerfers und brach zusammen.
»Halt!« schrie Jared und warf sich auf die beiden Wachen, die eben ihre Speere schleudern wollten.
»Es ist nur ein Kind!« rief Della.
Jared ging zu dem kleinen Mädchen, das vor Schmerzen stöhnte. Es war Estel, die er im Haupttunnel damals der Zervergruppe zurückgegeben hatte.
Er hörte, wie Della neben dem Kind niederkniete und mit den Händen den Brustkasten betastete. »Sie ist verletzt! Mindestens vier oder fünf Rippen sind gebrochen!«
Estel erkannte ihn, und er hörte, wie sie schwach lächelte. Er erkannte auch, mit welcher Lebendigkeit ihre Augen hin- und herglitten.
»Du hast mir damals gesagt, daß ich anfangen würde zu zerven — wenn ich es am wenigsten erwarte«, stieß sie hervor.
Speer schlug gegen Speer, irgendwo hinter ihm, und die Echos brachten den Eindruck von dem schmerzverzerrten Gesicht Estels.
»Du hast recht gehabt«, sagte sie mühsam. »Ich versuchte, deine Welt zu finden und stürzte in einen Krater. Als ich wieder herauskletterte, konnte ich zerven.«
Ihr Kopf sank gegen seinen Arm, und er fühlte, wie das Leben aus ihr entwich.
»Zerver! Zerver!« stiegen die Schreie hinter ihm auf.
»Jared ist ein Zerver!«
Er ergriff Dellas Hand und stürmte in den Tunnel, als zwei Speere neben ihm die Felswand trafen. Er zögerte nur so lange, bis er die Speere aufgehoben hatte, dann rannte er mit Della durch den Tunnel.