Daniel F. Galouye Dunkles Universum

1

Jared blieb neben der herabhängenden Felsnadel stehen und schlug mit dem Speer dagegen. Klare Töne pflanzten sich im Stakkato durch den Gang fort.

»Hörst du's?« fragte er. »Genau vor uns.«

»Ich höre nichts.« Owen schob sich langsam vorwärts, stolperte und prallte mit Jared zusammen. »Nichts als Schlamm und hängendes Gestein.«

»Keine Gruben?«

»Keine, die ich hören könnte.«

»Kaum zwanzig Schritte entfernt befindet sich eine. Du bleibst am besten ganz in meiner Nähe.«

Jared schlug wieder gegen die Felsnadel und neigte den Kopf, damit ihm keines der feinen Echos entging. Da war er, ohne jeden Zweifel — massiv und bösartig, an ein schmales Gesims geklammert, ihrem Vordringen lauschend.

Vor ihnen gab es keine Felsnadeln mehr, die er hätte beklopfen können. So viel hatten ihm die letzten Echos verraten. Er holte deswegen ein Paar Echosteine aus seinem Beutel, schlug sie in der hohlen Hand gegeneinander und konzentrierte sich auf die widerhallenden Töne. Zu seiner Rechten konnte er große, übereinandergeschichtete Gesteinsformationen ausmachen, die ein verwirrendes Lautmuster zurückstrahlten.

Als sie weitergingen, packte ihn Owen an der Schulter. »Er ist zu schlau. Wir holen ihn nie ein.«

»Doch, ganz bestimmt. Er wird früher oder später angreifen. Dann braucht man sich mit einem Vampir weniger zu befassen.«

»Aber um Strahlungs willen! Es ist doch vollkommen still! Ich höre nicht einmal, wo ich hintreten soll!«

»Warum benütze ich wohl Echosteine?«

»Ich bin an den Zentralechowerfer gewöhnt.«

Jared lachte. »Da hapert es bei euch Präliminar-Überlebenden. Ihr klammert euch zu sehr an die Gewohnheit.«

Owens sarkastisches Schnauben war berechtigt. Jared war ihm mit seinem Alter von siebenundzwanzig Schwangerschaftsperioden nicht nur um kaum zwei davon voraus, sondern gehörte selbst noch zu den Prälims.

Jared blieb unter dem Sims stehen und nahm seinen Bogen von der Schulter. Dann reichte er Owen den Speer und die Steine. »Bleib hier und schlage die Steine aufeinander — langsam und gleichmäßig.«

Er schlich weiter, mit angelegtem Pfeil; der Sims warf jetzt scharfe Echos zurück. Der Vampir — oder die Fledermaus, wie man das Tier auch nannte — breitete seine gewaltigen ledrigen Flügel aus. Jared blieb stehen und lauschte der scheußlichen Gestalt, die sich deutlich hörbar gegen die glatte Felswand abzeichnete. Ovales Pelzgesicht — doppelt so groß wie sein eigenes. Aufgestellte, spitze Ohren. Riesige Klauen, scharf wie zackiges Gestein, in das sie sich krallten. Und zwei hohe, halblaute Echos vermittelten den Eindruck entblößter Fangzähne.

»Ist er noch da?« flüsterte Owen besorgt.

»Hörst du ihn denn nicht mehr?«

»Nein, aber ich kann ihn riechen. Er —«

Ganz plötzlich ließ sich der Vampir fallen. Jared brauchte keine Echosteine mehr. Das wilde Flattern der Schwingen bot ein unverwechselbares Ziel. Jared spannte seinen Bogen, legte das gefiederte Pfeilende neben seinem Ohr an und ließ die Sehne losschnellen. Das Tier kreischte auf — der Schrei hallte, vielfach verstärkt, durch den Gang.

»Allmächtiges Licht!« rief Owen. »Du hast ihn erwischt!«

»Leider nur den Flügel.« Jared griff nach dem nächsten Pfeil. »Schnell — gib mir noch ein paar Echos!«

Aber es war zu spät. Der rasende Flügelschlag trug die Kreatur einen Seitengang hinunter.

Jared horchte dem verklingenden Flattern nach und befingerte geistesabwesend seinen Bart. Kurz und dicht gewachsen, verlieh er seinem Gesicht Kühnheit und Selbstvertrauen. Jared war größer als die Spannweite einer Bogensehne, kräftig und hochaufgerichtet; sein Haar fiel hinten bis zur Schulter hinab, vorne aber war es kurz geschnitten, so daß die Ohren und das Gesicht völlig frei blieben. Das entsprach auch seiner Vorliebe für geöffnete Augen, die nicht auf religiöser Anschauung beruhte, sondern auf seine Abneigung gegen die bei geschlossenen Augen eintretende Anspannung des Gesichts zurückzuführen war.

Später verengte sich der Seitengang und nahm einen aus dem Boden kommenden Fluß auf, so daß sie nur noch auf einem schmalen, glitschigen Felsband zu gehen vermochten.

Owen packte Jared beim Arm und fragte: »Was gibt es denn da vorne?«

Jared ließ die Echosteine klappern. »Keine Felsblöcke. Keine Gruben. Der Strom fließt unter der Wand hindurch, und der Gang wird wieder breiter.«

Er lauschte jedoch mit größerer Anstrengung anderen, beinahe unhörbaren Echos — schwachen Reflexionen kleiner Wesen, die in den Fluß sprangen, auf. dem Rückzug vor dem störenden Lärm der Echosteine.

»Merk dir diesen Platz«, sagte er. »Es gibt sehr viel Wild hier.«

»Salamander?«

»Zu Hunderten. Das bedeutet Fische von beachtlicher Größe und Krebse.«

Owen lachte. »Ich sehe den Primär-Überlebenden direkt vor mir, wie er eine Jagdexpedition hierher genehmigt. Bis jetzt ist noch nie jemand so weit vorgedrungen.«

»Ich schon.«

»Wann?« fragte der andere skeptisch.

Sie ließen den Fluß hinter sich und erreichten trockenen Boden.

»Vor acht oder neun Perioden.«

»Aber damals warst du doch noch ein Kind! Du bist hierher gekommen — so weit vom unteren Schacht?«

»Mehr als einmal.«

»Warum?«

»Um etwas zu suchen.«

»Was denn?«

»Die Dunkelheit.«

Owen lachte in sich hinein. »Die Dunkelheit findet man nicht. Man begeht sie.«

»Das sagt der Kustos. Er ruft: ›Dunkelheit herrscht in den Welten der Menschen!‹ Und er sagt, es bedeute, daß die Sünde und das Böse übermächtig seien. Aber ich glaube das nicht.«

»Was glaubst du denn?«

»Dunkelheit muß etwas Wirkliches sein. Wir können sie nur nicht erkennen.«

Wieder lachte Owen. »Wenn du sie nicht erkennen kannst, wie willst du sie dann finden?«

Jared ignorierte die Skepsis des anderen. »Es gibt einen Hinweis. Wir wissen, daß wir in der Ursprungswelt — der ersten Welt, die der Mensch nach dem Verlassen des Paradieses bewohnte — dem Allmächtigen Licht näher waren. Mit anderen Worten, es war eine gute Welt. Nehmen wir einmal an, daß zwischen der Sünde und dem Bösen einerseits und dieser Dunkelheit andererseits irgendein Zusammenhang besteht. Das würde bedeuten, daß in der Ursprungswelt weniger Dunkelheit herrscht. Stimmt's?«

»Ich denke schon.«

»Dann brauche ich also nur etwas zu finden, wovon es in der Ursprungswelt weniger gibt.«

Die Echos spürten ein massives Hindernis auf, und Jared verlangsamte seinen Schritt. Er erreichte die Barrikade und tastete sie mit den Fingern ab. Übereinandergetürmte Felsblöcke versperrten den Gang, reichten hinauf bis zu seiner Schulter.

»Hier ist sie«, verkündete er, »— die Barriere.«

Owens Finger schlossen sich fester um seinen Arm. »Die Barriere?«

»Wir kommen leicht hinüber.«

»Aber — das Gesetz! Wir dürfen nicht hinüber!«

Jared zog ihn mit. »Komm nur. Es gibt keine Ungeheuer. Man braucht sich vor nichts zu fürchten — höchstens ein paar Fledermäuse tauchen hier auf.«

»Aber es heißt doch, es sei schlimmer als die Strahlung selbst!«

»Das erzählt man uns.« Jared hatte ihn inzwischen den halben Felswall hinaufgeschleppt, »Man behauptet sogar, daß die beiden Teufel Kobalt und Strontium dort lauern, um dich in die Tiefen der Strahlung zu reißen. Unsinn!«

»Aber die Strafgrube!«

Jared stieg auf der anderen Seite hinunter und klapperte aus mehreren Gründen heftig mit seinen Echosteinen. Sie übertönten nicht nur Owens Proteste, sondern sondierten auch den Schacht. Owen hatte sich irgendwie vor ihn gesetzt, und die nahen Echos übermittelten deutliche Schalleindrücke seines stämmigen Körpers und ausgebreiteter, tastender Arme.

»Beim Allmächtigen Licht!« sagte Jared vorwurfsvoll. »Nimm doch die Hände herunter! Ich sag' es dir schon rechtzeitig, wenn ein Hindernis auftaucht.«

Die nächste Echowelle verriet, daß der andere die Achseln zuckte. »Na schön, ich kann eben mit den Echosteinen nicht umgehen«, erwiderte er mürrisch und beschleunigte seine Schritte.

Jared folgte ihm. Er mußte Owens Mut anerkennen. Der andere war zwar vorsichtig, aber sobald das letzte, entscheidende Echo eine unausweichliche Situation zeigte, in der man sich endgültig mit einem natürlichen Feind oder einem Zerver auseinanderzusetzen hatte, gab es keinen entschlosseneren Kämpfer als ihn.

Zerver, Riesenfledermäuse und bodenlose Gruben, das waren die Belastungen des Daseins, dachte Jared. Ohne sie wäre die Welt hier unten mit ihren Gängen so sicher wie das Paradies selbst, bevor der Mensch dem Allmächtigen Licht den Rücken gedreht und, der Legende zufolge, die verschiedenen Welten aufgesucht hatte, in denen Menschen und Zerver jetzt wohnten.

Im Augenblick jedoch beanspruchten ausschließlich die Fledermäuse seine Aufmerksamkeit. Ein Tier ganz besonders — ein brutales, räuberisches Wesen, das ein Schaf gerissen hatte.

Er spuckte angewidert aus, als er sich an die Flüche seines Schießlehrers erinnerte: »Stinkende, lichtverdammte Kreaturen aus dem Inneren der Strahlung!«

»Was sind diese Riesenflugtiere eigentlich?« hatte einer der jungen Bogenschützen gefragt.

»Sie sahen ursprünglich genauso aus wie die harmlosen, kleinen Fledermäuse, deren Abfall wir für die Pflanzen sammeln. Aber zu irgendeinem Zeitpunkt ließen sie sich mit dem Teufel ein. Kobalt oder Strontium nahmen eines dieser Tiere mit hinab in die Strahlung und schufen daraus ein Superwesen. Von ihm stammen alle die Riesenfledermäuse ab, mit denen wir es jetzt zu tun haben.«

Jared füllte den Gang mit forschenden Echos. Owen, der halsstarrig die Führung beibehielt, setzte den Weg jetzt vorsichtiger fort, ließ die Füße über den Boden schleifen, statt richtige Schritte zu tun.

Jared lächelte über die Eigenheit des anderen, die Augen stets geschlossen zu halten. Diese Gewohnheit haftete. Sie entsprach dem Glauben, daß die Augen selbst dadurch geschützt und für die Wiederkehr des Großen Allmächtigen Lichts bewahrt werden sollten.

Aber an Owen ließ sich nichts aussetzen, versicherte sich Jared, bis auf die Tatsache, daß er die Legenden zu wörtlich nahm. Zum Beispiel jene, das Licht habe mißbilligt, daß der Mensch die Mannapflanze entdeckte, deswegen sei er aus dem Paradies vertrieben und in die ewige Dunkelheit gestoßen worden, was das auch immer sein mochte.

Ein Klappern der Steine, und Owen war da — nur wenige Schritte voraus. Wieder ein Klappern, und er war verschwunden. In der Zwischenzeit ein Angstgeschrei und der Aufprall eines Körpers auf den Fels. Dann: »Um des Lichts willen! Hol mich hier heraus!«

Weitere Echos zeigten eine Grube, die bis dahin in der Echolücke vor Owen gewesen war.

Jared stellte sich an den Rand des Kraters und ließ seinen Speer hinab. Der andere klammerte sich daran und begann sich hochzuziehen. Aber Jared entriß ihm den Speer und warf sich auf den Boden. Die Krallen der herabschießenden Fledermaus verfehlten ihn knapp.

»Wir machen die Bestie unschädlich!« frohlockte er.

Er orientierte sich an den schrillen Schreien des Tieres, das wendete, Höhe gewann und zum zweiten Angriff ansetzte. Jared stemmte sich hoch, stützte den Speer in einer Felsspalte ab und zielte auf die heranbrausende Kreatur.

Das dreihundert Pfund schwere Ungetüm raste auf Jared zu und schleuderte ihn zu Boden. Er stand wieder auf, fühlte warmes Blut an seinem Arm, wo ihn eine Kralle erwischt hatte.

»Jared! Ist dir etwas passiert?«

»Bleib unten! Sie kommt vielleicht zurück!« Er tastete mit der Hand am Boden entlang und fand seinen Bogen.

Aber alles blieb still. Die Fledermaus hatte sich wieder zurückgezogen, diesmal vermutlich mit einer Speerwunde.

Owen kletterte aus dem Krater. »Bist du verletzt?«

»Es sind nur ein paar Kratzer.«

»Hast du sie erledigt?«

»Bei der Strahlung, nein! Aber ich weiß, wo sie sich verbirgt.«

»Das will ich gar nicht wissen. Gehen wir nach Hause.«

Jared klopfte mit dem Bogen auf den Fels und lauschte. »Sie ist in die Ursprungswelt geflohen — dort vorne.«

»Kehren wir um, Jared!«

»Nicht, bevor ich die Fangzähne der Kreatur in meinem Beutel habe.«

»Du wirst sie ganz woanders haben!«

Aber Jared ging weiter. Widerstrebend folgte Owen.

Einige Zeit später fragte er: »Bist du wirklich entschlossen, die Dunkelheit zu finden?«

»Ich finde sie, und wenn ich das ganze Leben dazu brauche.«

»Warum suchst du überhaupt das Böse?«

»Weil ich in Wirklichkeit auf etwas anderes lausche. Die Dunkelheit ist vielleicht nur ein Schritt auf dem Wege dorthin.«

»Was meinst du?«

»Das Licht.«

»Das Große Allmächtige Licht«, erinnerte ihn Owen, einen der Lehrsätze zitierend, »ist in den Seelen guter Menschen gegenwärtig —«

»Nehmen wir einmal an«, unterbrach ihn Jared, »das Licht sei nicht Gott, sondern etwas anderes?«

Die religiöse Empfindung des anderen war verletzt. Jared spürte es an seinem atemlosen Schweigen, an der Beschleunigung des Pulses.

»Was könnte das Allmächtige Licht sonst sein?« fragte Owen schließlich.

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin davon überzeugt, daß es etwas Gutes ist. Und wenn ich es finde, wird für die ganze Menschheit das Leben schöner sein.«

»Wie kommst du darauf?«

»Wenn die Dunkelheit mit dem Bösen zusammenhängt und Licht ihr Gegensatz ist, muß das Licht gut sein. Und wenn ich die Dunkelheit finde, kann ich mir vielleicht auch eine Vorstellung über die Natur des Lichts machen.«

Owen schnaubte. »Das ist lächerlich. Du hältst also unseren Glauben für falsch?«

»Nicht alles. Das Ganze ist vielleicht nur verzerrt. Du weißt ja, was geschieht, wenn eine Geschichte von Mund zu Mund weitergegeben wird. Stell dir nur einmal vor, was damit passieren könnte, wenn sie von Generation zu Generation wandert.«

Jared wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gang zu, als die Echos der klappernden Steine einen großen, hohlen Raum in der Felswand zu seiner Rechten verrieten.

Sie standen im gewölbten Zugang zur Ursprungswelt, und Jareds Echoklicks verloren sich in der Stille einer unermeßlichen Weite. Er holte aus der Tasche das größte, härteste Paar Echosteine. Er mußte sie mit beträchtlicher Gewalt gegeneinanderschlagen, um Töne von einer Lautstärke zu erzeugen, die bis in die fernsten Winkel drangen.

Zuerst — die Fledermaus. Der Gestank verriet, daß sie sich hier irgendwo befinden mußte. Aber keines der wiederkehrenden Echos trug den stofflichen Eindruck ledriger Flügel oder eines weichen Pelzkörpers mit sich.

»Die Fledermaus?« fragte Owen besorgt.

»Sie versteckt sich«, erwiderte Jared. Um seinen Freund von der Gefahr abzulenken, fügte er hinzu: »Wieviel schaffst du? Was kannst du hören?«

»Eine unheimlich große Welt.«

»Richtig. Weiter.«

»Unmittelbar vor uns — Weichheit. Ein oder zwei Büschel —«

»Mannapflanzen. Sie wachsen rings um eine einzelne, heiße Quelle. Ich höre auch viele leere Gruben, Gruben, wo kochendes Wasser den Energiehunger Tausender von Pflanzen stillt. Aber sprich nur weiter.«

»Dort drüben links ein Teich — ein sehr großer sogar.«

»Gut!« lobte Jared. »Von einem Fluß gespeist. Was sonst?«

»Ich — Strahlung! Etwas Unheimliches. Viele merkwürdige Dinge.«

Jared trat näher. »Das sind Wohnungen — ringsherum an den Wänden.«

»Aber das begreife ich nicht«, sagte Owen verwirrt und folgte Jared. »Sie befinden sich im Freien!«

»Als Leute hier lebten, brauchten sie ihre Ruhe nicht in Grotten zu suchen. Sie errichteten Mauern und Räume im Freien.«

»Mauern im Viereck?«

»Sie hatten wahrscheinlich eine Vorliebe für die Geometrie.« Owen wich zurück. »Verschwinden wir lieber! Es heißt, die Strahlung ist nicht allzuweit von der Ursprungswelt.«

»Vielleicht sagt man das nur, um uns fernzuhalten.«

»Ich komme langsam auf den Gedanken, daß du überhaupt nichts glaubst.«

»Selbstverständlich glaube ich — an das, was ich hören, fühlen, schmecken oder riechen kann.« Jared drehte sich zur Seite, und die Echos richteten sich nach einer Öffnung in einer der Wohnungen aus.

»Fledermaus!« flüsterte er, als der Echostrom das Bild des in der Kammer hängenden Tieres zurücktrug. »Nimm du den Speer. Diesmal entwischt sie uns nicht!«

Vorsichtig näherte er sich dem Gebäude auf Pfeilschußweite. Die Echosteine verstaute er in seiner Tasche. Er brauchte sie jetzt nicht — solange das Atmen des Tieres so deutlich wie das Schnauben eines wütenden Stiers zu ihm drang.

Er legte einen Pfeil auf die Sehne, steckte einen zweiten in den Gürtel, um ihn gleich bei der Hand zu haben. Hinter sich hörte er Owen den Speerschaft in den Boden rammen. Dann fragte er: »Fertig?«

»Los«, erwiderte Owen. Und seine Stimme zitterte nicht. Das letzte Echo war verklungen, die Entscheidung gefallen.

Jared zielte auf das zischende Geräusch und ließ die Bogensehne los.

Der Pfeil pfiff durch die Luft und prallte gegen etwas Massives — zu massiv, als daß es ein Tierleib hätte sein können. Kreischend vor Wut fegte die Fledermaus auf sie zu. Jared setzte den zweiten Pfeil an, ließ ihn davonschnellen und duckte sich.

Die Bestie schrie gellend auf. Dann stürzte sie zu Boden, und fauchend zischte zum letztenmal die Luft aus den großen Lungen.

»Im Namen des Lichts!« rief Owen. »Befrei' mich von der stinkenden Kreatur!«

Grinsend klopfte Jared mit dem Bogen auf den Felsboden und empfing die Lauteindrücke eines seltsamen Durcheinanders — Fledermaus, Mensch, zerbrochener Speer, herausragender Pfeilschaft.

Owen kroch mühsam unter dem riesigen Tier hervor. »Na, jetzt haben wir das verdammte Ding. Können wir jetzt endlich heimgehen?«

»Sobald ich hier fertig bin.« Jared brach bereits die Fangzähne heraus.

Fledermäuse und Zerver. Die Leute im oberen und unteren Schacht konnten hoffen, daß die ersteren eine nach der anderen beseitigt wurden. Aber was half gegen die anderen? Was könnte gegen Wesen nützen, die keine Echosteine gebrauchten, trotzdem aber alles über ihre Umgebung wußten? Eine unheimliche Fähigkeit, die niemand zu erklären vermochte, wenn man nicht wie die anderen wiederholen wollte, daß sie von Kobalt oder Strontium besessen waren.

Nun ja, dachte Jared, es war prophezeit, daß der Mensch alle seine Feinde niederringen würde. Das galt also wohl auch für die Zerver, obwohl er glaubte, daß auch diese menschlich waren — in gewisser Weise.

Er stemmte den ersten Fangzahn heraus, und aus irgendeinem Winkel seines Gehirns drangen Erinnerungen an die Lehren der Kindheit zur Oberfläche.


›Was ist Licht?

Licht ist ein Geist.

Wo ist Licht?

Ohne das Böse im Menschen wäre Licht überall.

Können wir Licht fühlen oder hören?

Nein, aber im Jenseits werden wir es alle sehen.‹


Unsinn! Im übrigen konnte niemand das Wort ›sehen‹ erklären. Was täte man mit dem Allmächtigen Licht, wenn man es sähe?

Er verstaute die Fangzähne in seiner Tasche, stand auf und lauschte. Hier gab es etwas, wovon weniger vorhanden sein mochte als in den anderen Welten — etwas, das der Mensch ›Dunkelheit‹ nannte und als Sünde und das Böse definierte. Aber was war es?

»Jared, komm her!«

Er benützt die Echosteine, um Owens Position auszumachen. Die Echos zeigten seinen Freund neben einer dicken Stange stehen, die sich so geneigt hatte, daß sie beinahe auf dem Boden lag. Er fühlte ein Objekt, das von dem hochragenden Ende herabbaumelte — etwas Rundes, Sprödes, das klare, hallende Töne zurückwarf.

»Es ist eine Birne!« rief Owen. »Genau wie die Reliquie des Allmächtigen Lichts beim Kustos!«

Jareds Gedächtnis förderte weitere Glaubenssätze zutage:

›Das Allmächtige Licht war so mitleidig, daß es bei der Verbannung des Menschen aus dem Paradies Teile seiner selbst zu uns sandte. Und es verweilte in vielen kleinen Gefäßen wie dieser heiligen Birne.‹

Irgendwo aus den Wohnungen kam ein Geräusch.

»Licht!« fluchte Owen. »Riechst du das?«

Jared roch es. Der Geruch war so entsetzlich fremdartig, daß ihm die Haare zu Berge standen. Verzweifelt klapperte er mit den Echosteinen und trat den Rückzug an.

Die Echos brachten ein unglaubliches, durcheinandergeratenes Lautmuster — Eindrücke von etwas Menschenähnlichem und doch nicht Menschlichem; unfaßbar böse, weil es andersartig war, dennoch bannend, weil es zwei Arme und Beine und einen Kopf zu haben schien, weil es mehr oder weniger aufrecht ging. Es näherte sich, versuchte sie zu überraschen.

Jared griff in seinen Köcher. Aber er hatte alle Pfeile verschossen. Entsetzt warf er den Bogen fort und wandte sich zur Flucht.

»Oh, Licht!« stöhnte Owen und hastete zum Ausgang. »Was ist es denn?«

Aber Jared konnte nichts erwidern. Er brauchte seine ganze Kraft dazu, den Ausgang zu finden, während er das Unheimliche belauschte. Es stank bestialischer als tausend Fledermäuse.

»Es ist Strontium in Person!« entschied Owen. »Die Legenden sind wahr! Die beiden Teufel sind hier!« Er drehte sich um und rannte zum Ausgang, mit seinen eigenen Schreien die leitenden Echos liefernd.

Jared stand wie angewurzelt, gelähmt von einer unbegreiflichen Erfahrung. Sein Höreindruck von der monströsen Gestalt war deutlich: Es schien, als bestünde der ganze Körper des Wesens aus flatternden Fleischstreifen. Aber da war noch etwas anderes — eine vage, doch lebhafte Brücke geräuschloser Echos, die Entfernung bis zu dem Wesen überspannend und hinabtauchend in die Tiefen seines Bewußtseins.

Laute, Gerüche, der Druck der Felsen und aller Dinge um ihn — alles schien in sein Wesen zu dringen, Schmerz mit sich zu führen. Er preßte die Hände aufs Gesicht und rannte Owen nach.

Über seinem Kopf zischte etwas dahin, und einen Augenblick später schrie Owen entsetzt auf. Dann hörte Jared, wie sein Freund zusammenbrach, am Eingang zur Ursprungswelt.

Er erreichte die Stelle, an der Owen lag, warf den Bewußtlosen über die Schulter und hastete weiter.

Wieder das surrende Zischen.

Etwas streifte ihn am Arm, hinterließ tropfende Flüssigkeit. Im nächsten Augenblick stolperte er, stürzte, raffte sich wieder auf und raste mit seiner schweren Last weiter. Plötzlich überfiel ihn eine unerklärliche Schwäche.

Er taumelte gegen die aufgetürmten Felsblöcke und tastete sich den Weg um die Gesteinswand. Dann wankte er in einen Spalt und stürzte mit Owen zu Boden, im selben Augenblick verlor er das Bewußtsein.

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