7

Alleinstehend und von den verwitweten Frauen des Unteren Schachtes mit allem Nötigen versorgt, konnte Cyrus sich seinen Meditationen hingeben. Ergab sich jedoch die Gelegenheit zur Äußerung, so machte Cyrus die lange Zeit des Schweigens mehr als wett.

Jetzt, zum Beispiel, ließ sich der Denker zu zahlreichen Themen vernehmen, beinahe in einem Atem, wie es schien:

»Jared Fenton! Primär Jared Fenton, noch dazu! Erscheint hier zu einer Unterhaltung — wie in alter Zeit!«

Jared rutschte ungeduldig auf der Bank hin und her. »Ich wollte mich erkundigen —«

»Aber ich fürchte, du weißt vor Arbeit nicht mehr, wo dir der Kopf steht — mit den versiegenden Quellen und den Ungeheuern, die in den Tunnels auftauchen. Hast du dir schon überlegt, was du gegen das Versiegen des Flusses unternehmen willst? Und der Gegenstand, den das Ungeheuer gestern zurückließ — wofür hältst du ihn?«

»Ich habe das Gefühl —«

»Halt! Darüber möchte ich zuerst ein wenig nachdenken.«

Jared war für die kurze Stille mehr als dankbar. Sie verschaffte seinem dröhnenden Kopf Erleichterung, der bei jedem Hustenanfall wie eine Mannahülse auseinanderzuplatzen drohte. Er hatte auch früher an Fieber gelitten — nach dem Biß einer Spinne, zum Beispiel. Aber so wie jetzt war es nie gewesen.

Cyrus' Grotte war durch schwere Vorhänge gegen den Lärm der Welt weitgehend abgeschirmt. Aber die Höhle war so klein, daß Jared mit Hilfe der Echos seiner Worte keine Schwierigkeit hatte, festzustellen, welche Veränderung mit dem Denker vorgegangen war.

Der alte Mann hatte glücklicherweise niemals eine Vorliebe für wallendes Haar als Schutz vor dem Gesicht besessen. Jetzt war er nämlich völlig kahl. Und die Runzeln, hervorgerufen von lebenslanger Muskelanspannung, um die Augen geschlossen zu halten, waren noch tiefer eingegraben.

»Ich habe mir gerade überlegt, ob das Ungeheuer den Gegenstand absichtlich am Eingang zurückgelassen haben könnte«, erklärte Cyrus sein Schweigen. »Ich bin sogar davon überzeugt. Was meinst du?«

»So kam es mir auch vor.«

»Und welchen Zweck sollte das wohl erfüllen?«

Jared lauschte den Stimmen, die drüben auf der anderen Seite die Litanei des Lichts sangen. Auch die Unterhaltung seiner Eskorte, die ihn draußen erwartete, um ihn in den Oberen Schacht zu bringen, konnte man hören.

»Das ist eines von den Problemen, die ich mit dir besprechen wollte«, sagte er schließlich. »Erzähle mir von der Dunkelheit.«

»Dunkelheit? Darüber haben wir uns früher oft unterhalten, nicht wahr? Was möchtest du wissen?«

»Ist es möglich, daß die Dunkelheit mit« — Jared zögerte — »mit den Augen zusammenhängt?«

Ein paar Herzschläge später sagte der andere: »Nicht, daß ich wüßte — sicherlich hat sie damit nicht mehr zu tun als mit dem Knie oder dem kleinen Finger. Warum fragst du?«

»Ich bin zu der Meinung gekommen, daß sie in irgendeiner Weise dem Licht sehr nahesteht.«

Cyrus überlegte. »Allmächtiges Licht — unendliche Güte. Dunkelheit — das unendlich Böse, den Glaubenssätzen zufolge. Das Prinzip der relativen Gegensätze. Eines ohne das andere gibt es nicht. Ohne Dunkelheit wäre das Licht überall. Ja, man kann wohl sagen, daß es eine negative Beziehung gibt. Aber ich höre nicht, wo da die Augen hineinpassen würden.«

Hustend stand Jared auf; er schwankte unsicher unter der Einwirkung des Fiebers. »Hast du jemals die Erregung gefühlt?«

»Beim Ritus des optischen Nervs? Ja. Aber es ist schon sehr lange her.«

»Nun, bei diesem Ritus soll man angeblich Licht fühlen. Und wenn die Existenz des Lichts in negativer Weise von der Existenz der Dunkelheit abhängt, müssen die Augen doch auch darauf eingerichtet sein, die Dunkelheit zu spüren.«

Jared lauschte dem anderen, der sich nachdenklich übers Gesicht fuhr. »Klingt logisch«, gab der Denker zu.

»Wenn jemand die Dunkelheit fände, glaubst du dann, daß er auch —«

Aber Cyrus wollte den Lauf seiner Gedanken nicht unterbrechen. »Wenn wir über die Dunkelheit als körperlichen Begriff sprechen wollen, dann fragen wir uns: Was ist die Dunkelheit? Wir finden, daß sie ein allumfassendes Medium sein könnte — ich sage, könnte, weil es sich nur um eine Idee handelt. Das hätte zu bedeuten, daß sie überall existiert — in der Luft um uns, in den Tunnels, im Gestein, im Schlamm.«

Jared fror plötzlich, aber er konzentrierte sich auf die Worte des anderen.

»Punkt zwei«, fuhr Cyrus fort. »Wenn sie so allgemein ist, kann sie durch die Sinne überhaupt nicht erkannt werden.«

Enttäuscht sank Jared auf die Bank zurück. Wenn der Denker recht hatte, würde er die Dunkelheit niemals finden.

»Warum existiert sie dann eigentlich?«

»Es könnte das Medium sein, das den Schall weiterleitet.«

Sie schwiegen beide längere Zeit.

»Nein, Jared. Ich glaube nicht, daß du erwarten kannst, die Dunkelheit in diesem Universum zu finden.«

Eifrig fragte Jared: »Jenseits der Unendlichkeit könnte es weniger Dunkelheit geben?«

»Wenn du dabei an unser sogenanntes ›Paradies‹ denkst, können wir die Idee von der Dunkelheit als körperliches Medium aufgeben. In diesem Fall würde ich sagen — ja, im Paradies muß geringere Dunkelheit herrschen, da doch das Paradies von Licht erfüllt vorgestellt wird.«

»Wie stellst du dir das Paradies vor?«

Der Denker lachte. »Wenn man ein Ohr für die Glaubenssätze hat, wird man zugeben, daß es herrlich gewesen sein muß. Der Mensch besaß göttliche Gaben. Dank dem Allgegenwärtigen Licht war es möglich, die Umwelt zu erkennen, ohne riechen oder lauschen zu müssen. Man brauchte auch die Dinge nicht zu betasten. Es war, als seien alle unsere Sinne in einem Sinn zusammengefaßt, dessen Reichweite für uns unvorstellbar ist.«

Jared dachte darüber nach, wie wenig Auftrieb ihm dieser Besuch bei Cyrus gab. Nicht einmal in seiner Suche nach Licht war er bestärkt worden.

»Deine Eskorte wartet«, erinnerte ihn der Denker.

»Eine Frage noch: wie erklärst du den Ritus des optischen Nervs?«

»Ich weiß keine Erklärung. Soviel ich auch schon darüber nachgedacht habe, ich komme nicht auf die Lösung. Aber hör zu: Die Erregung könnte eine Art normaler körperlicher Funktion sein.«

»Auf welche Weise?«

»Schließe deine Augen — ganz fest, so fest du kannst. Also — was hörst du?«

»Ein Rauschen in meinen Ohren.«

»Richtig. Nimm jetzt einmal an, wir hätten seit Generationen in einer Welt leben müssen, wo es keinen Schall gibt. Niemand der heute Lebenden hätte jemals irgend etwas gehört. Aber vielleicht ist die Legende vom Schall weitergegeben worden — sagen wir, durch eine Tastsprache.«

»Ich begreife nicht, worauf —«

»Kannst du dir vorstellen, daß es dann so etwas wie einen Ritus der Erregung des Hörnervs geben könnte? Genau das hast du nämlich getan, als du deine Gesichtsmuskeln anspanntest. Und so könnte es jetzt einen Kustos geben, der dich dazu bringt, Grimassen zu schneiden und den Allmächtigen Schall zu vernehmen.«

Jared erhob sich erregt. »Diese Ringe lautlosen Schalls, die man beim Ritus spürt — du glaubst, sie hängen irgendwie mit dem zusammen, was die Menschen früher einmal mit ihren Augen gemacht haben?«

Er hörte, wie Cyrus die Achseln zuckte, als er erwiderte: »Ich meine gar nichts. Ich stelle lediglich theoretische Überlegungen an.«

Die Atmung des alten Mannes wurde flach, als er sich wieder in die Meditation zurückzog.

Jared trat zum Vorhang, blieb dann stehen und lauschte. Vor langer Zeit hatte er geglaubt, geringere Dunkelheit in der Ursprungswelt zu finden und sie dadurch in ihrem Wesen zu erkennen. Aber Cyrus war zu dem Schluß gekommen, bei der Dunkelheit handle es sich um ein allumfassendes Medium, das von den Sinnen nicht zu erfassen sei.

War es aber nicht möglich, daß Licht eine aufhebende Wirkung hatte — daß es die Dunkelheit zum Teil auszulöschen vermochte? Und wenn man glücklich genug wäre, die Aufhebung stattfinden zu hören, könnte man nicht einen Hinweis auf die Natur von Licht und Dunkelheit finden?

Dann fiel ihm etwas weitaus Bedeutsameres ein: Cyrus hatte gesagt, die Gegenwart des Allmächtigen Lichts im Paradies ermögliche es dem Menschen, ›die Umwelt zu erkennen, ohne riechen oder lauschen zu müssen‹!

War es denn nicht genau das, was die Zerver vollbrachten? Standen die Zerver in geheimnisvoller Beziehung zum Licht — in einer Beziehung, von der sie selbst wahrscheinlich nichts ahnten?

Er hatte bereits einen Zusammenhang zwischen Licht, Dunkelheit, den Augen der Ursprungswelt und den Zwillingsteufeln gespürt. Jetzt hatte es den Anschein, als müßte er die Zerver in diese Gruppe einbeziehen. Denn sobald sie zervten, mußte als Ergebnis des Zervens etwas um sie herum abnehmen — wie eben auch die Stille geringer wurde, sobald ein normaler Mensch Lärm hörte. Und diese Abnahme, im Fall der Zerver, mochte sehr wohl das sein, was er suchte — eine Abnahme der Dunkelheit!

Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß Della auch zu den Zervern gehörte, und plötzlich trieb es ihn in den Oberen Schacht zurück, wo er sie im Ohr behalten und vielleicht erfahren konnte, was um sie herum abnahm, wenn sie zervte.

Jared schob den Vorhang beiseite.

»Leb wohl — und viel Glück«, rief Cyrus und nieste.

Jared entließ seine Eskorte an der letzten Biegung vor dem Eingang zum Oberen Schacht. Sie brauchten nicht auf den Läufer zu warten, da beschlossen worden war, daß der Mann eine Weile hier bleiben sollte.

In gewisser Weise war er froh, die anderen loszuwerden. Der Captain hatte ständig über Halsschmerzen geklagt, und ein weiteres Mitglied der Eskorte hustete so stark, daß man die Töne der Echosteine kaum mehr vernahm.

Überdies wurden die von dem körperlichen Mißgeschick nicht Betroffenen durch die Tatsache beunruhigt, daß sie von Zeit zu Zeit den Geruch des Ungeheuers zu entdecken glaubten. Jared selbst roch nichts — seine Nase war völlig verstopft. Er konnte auch nicht besonders gut hören, da die Dumpfheit in seinem Kopf bis in die Ohrgänge vorgedrungen zu sein schien.

Fröstelnd schlug er seine Echosteine kräftig aneinander und taumelte durch den Tunnel. Wäre er nur in die Therapiegrotte gegangen, statt die Vorbereitungen zur Verbindung fortzusetzen!

Er umrundete die weitgeschwungene Biegung, blieb stehen und lauschte. Voraus wurde emsig gearbeitet — Felsbrocken türmten sich auf Felsbrocken, methodisch, aber ohne Pause. Stimmen — die Stimmen von zwei Männern, murmelnd, fluchend, das Allmächtige Licht beschwörend.

Jared klapperte heftiger mit seinen Echosteinen und horchte den von den Männern reflektierten Tönen, als sie hin- und herrannten, Felsbrocken einsammelten und sie an einer Wand des Eingangs zum Oberen Schacht aufeinanderhäuften.

Dann begriff er, daß er lautlosen Schall hörte — von den beiden! Der Ton haftete an der Wand.

Das kleine Bündel erstarrter Echos schien dort zu kleben, und die Männer bemühten sich verzweifelt, es mit Gestein zu überdecken. Einer der beiden hörte Jared, schrie angstvoll und hastete in seine Welt zurück.

»Es ist doch nur Fenton — vom Unteren Schacht!« rief ihm der andere nach.

Aber man hörte deutlich, daß der Mann nicht die Absicht hatte umzukehren.

Jared setzte sich in Bewegung, fuhr aber erschreckt zurück. Wieder war er davon überzeugt, daß ihn die kreischende Stille nicht durch die Ohren erreichte. Er hörte sie — wenn das der richtige Ausdruck war — mit den Augen! Das bewies er ganz einfach, indem er seinen Kopf abwandte; augenblicklich war die Empfindung aufgehoben.

Als er sich nach vorn wandte, war das Bündel lautlosen Lärms völlig verschwunden. Und es schien bedeutsam, daß er gehört hatte, wie der Mann den Schlußstein auf den Berg aus Felsbrocken legte und damit die Echobarriere fertigstellte.

»Sie sollten lieber hereinkommen«, warnte der Mann, »bevor das Ungeheuer wieder auftaucht!«

»Was ist geschehen?«

Der Widerhall seiner Worte zeigte, daß der andere eine zitternde Hand hob, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Diesmal hat das Ungeheuer niemand verschleppt. Es kam nur, um die Wand zu bestreichen, mit —«

Er schrie auf und schleuderte die Hand hin und her. Dann raste er schluchzend durch den Tunnel. »Allmächtiges Licht!«

Jared hörte deutlich, was den anderen so erschreckte. Die Handinnenfläche war voll lautlosen Schalls gewesen!

Er näherte sich neugierig dem Gesteinshaufen. Aber ein Hustenanfall machte ihm klar, wie krank er war. Er wankte in die Welt des Oberen Schachtes.

Niemand empfing ihn diesmal am Eingang, deshalb benutzte er die Laute des Echowerfers, den Weg zur Grotte Anselms auszuloten. Der Boß wanderte hinter dem Vorhang auf und ab, machte ein grimmiges Gesicht und murmelte vor sich hin.

»Komm herein, mein Junge — entschuldige, Primär«, sagte Anselm. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, daß ich mich über deine Rückkehr freue.«

Er ging wieder hin und her; Jared ließ sich erschöpft auf eine Bank sinken und stützte sein fiebriges Gesicht auf beide Hände.

»Tut mir sehr leid um deinen Vater, mein Junge. Ich war schockiert, als mir der Läufer davon berichtete. Das Ungeheuer hat uns seit deinem Fortgang drei Leute entführt.«

»Ich bin zurückgekommen«, sagte Jared schwach, »um meinen Willen zur Verbindung zu bekunden.«

»Verbindung — Quatsch!« fauchte Anselm. »In einer solchen Zeit gibst du dich mit diesen lächerlichen Dingen ab?«

Als Jared schwieg, sagte er: »Entschuldige, mein Junge. Aber wir sind übernervös — die Quellen versiegen der Reihe nach, die Ungeheuer lassen uns überhaupt nicht mehr in Ruhe. Fünf Quellen waren es alleine gestern. Wie ich höre, kämpft ihr mit denselben Schwierigkeiten.«

Jared nickte, ohne sich darum zu kümmern, ob es Anselm hörte.

Anselm brummte eine Weile vor sich hin und fuhr dann fort: »Verbindung! Hat dir der Läufer nicht mitgeteilt, daß ich beschlossen habe, das Ganze aufzuschieben, bis wir uns mit den anderen Problemen auseinandergesetzt haben?«

»Ich habe den Läufer nicht gehört. Wo ist er denn?«

»Ganz früh diese Periode habe ich ihn weggeschickt.«

Jared sank auf der Bank in sich zusammen; sein Körper glühte. Der Läufer war im Unteren Schacht nicht angekommen. Auf dem Weg hierher hatten sie ihn nicht getroffen. Der Tatsache, daß mehrere Angehörige der Eskorte den Geruch des Ungeheuers im Tunnel wahrgenommen hatten, konnte nur verhängnisvolle Bedeutung beigemessen werden.

Seine Lungen schmerzten unter einem Hustenanfall, und als er sich wieder erholt hatte, fühlte er, daß der Berater in die Grotte getreten war und ihn scharf belauschte.

»Nun, Fenton«, sagte Lorenz, »was halten Sie von diesen Schwierigkeiten mit den Ungeheuern?«

Jared wurde von einem Schauer geschüttelt. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«

»Ich habe dem Boß gesagt, was ich glaube: Die Zerver nehmen zu ihren alten Tricks Zuflucht. Sie verschleppen unsere Leute als Sklaven. Und sie haben sich zu diesem Zweck mit den Zwillingsteufeln verbündet.«

»Und ich sage, das ist albern!« warf Anselm ein. »Wir haben selbst zugehört, als ein Ungeheuer einen Zerver verschleppte!«

»Woher wissen wir, daß das nicht arrangiert war?«

Anselm schnaubte. »Wenn die Zerver sich entschlossen hätten, wieder Sklaven zu fangen, würden sie es ganz einfach tun.«

Lorenz schwieg. Aber man spürte, daß er nicht von seinem Standpunkt abging. Für ihn arbeiteten Zerver und Ungeheuer zusammen. Und Jared begriff auch, worum es ging: Wenn ihn der Berater als Zerver bloßstellen wollte, mußte er dafür sorgen, daß diese Beschuldigung gleichzeitig auch die Verantwortung für das Auftauchen der Ungeheuer Jared zuschob.

»Ich bin sicher, daß Della deine Entscheidung hören möchte, mein Junge.« Anselm nahm den Berater beim Arm und schlug den Vorhang zurück. »Ich schicke sie dir.«

Jared hustete, preßte die Hände gegen die heißen Schläfen und fröstelte. Kurze Zeit später trat das Mädchen ein und atmete schwer, als es mit dem Rücken zum Vorhang stehenblieb.

»Jared!« rief Della besorgt. »Du glühst ja! Was ist denn los?«

Zuerst war er überrascht, daß sie sein Fieber auf diese Entfernung erkannte. Aber Fieber war Wärme. Und Wärme zervten doch diese Zerver, nicht wahr?

»Ich weiß nicht«, stieß er hervor.

Für einen Augenblick hatte er beinahe Interesse an der Tatsache aufbringen können, daß sie hier war und zervte. Und er wußte, daß er jetzt Gelegenheit hatte, genau zuzuhören, um vielleicht in Erfahrung zu bringen, ob irgend etwas um sie herum abnahm, während sie zervte. Aber seine Absicht ging in einem Anfall von Schüttelfrost unter.

Della schloß den Vorhang hinter sich und trat zur Bank. Er wandte das Gesicht ab und hustete. Sie kniete vor ihm nieder, fühlte die Hitze an seinen Armen, im Gesicht. Und er hörte, wie die Besorgnis ihren Ausdruck veränderte.

Aber sie nahm sich zusammen und kam auf ein anderes Thema, das offensichtlich noch wichtiger war. »Jared, der Berater weiß, daß du ein Zerver bist!« flüsterte sie. »Er hat es zwar nicht ausgesprochen, aber er erinnert alle immer wieder daran, wie bemerkenswert deine Fähigkeiten sind!«

Jared schwankte, fing sich wieder, saß zitternd und schwitzend auf der Bank, mit dröhnendem, pochendem Schädel.

»Hörst du denn nicht, warum er dich bei den heißen Quellen auf das Ziel schießen ließ?« fuhr sie fort. »Er weiß, wie sich zuviel Wärme bei einem Zerver auswirkt! Er wollte nur herausfinden, ob du —«

Die Worte des Mädchens verklangen in der Ferne, als er bewußtlos von der Bank stürzte.


Als er schließlich erwachte, hatte er den Geschmack nach Medizinschimmel im Mund und die verschwommene Erinnerung daran, daß man ihn gezwungen hatte, mehrmals von dem breiigen Zeug zu schlucken.

Er spürte auch, daß die Gute Frau während der ganzen Periode — oder war es länger? —, die er hier in Anselms Grotte halb bewußtlos verbracht hatte, bemüht gewesen war, sich in seine Träume mit Gewalt einzumischen. Vielleicht hatte sie es sogar geschafft. Aber er konnte sich weder an ihr erfolgreiches Eindringen noch an die Träume selbst erinnern.

Jetzt fühlte er nur innere Ruhe und Zufriedenheit. Seine Kehle schmerzte nicht mehr, und das pochende Fieber war verschwunden. Auch wenn er noch nicht ganz gesund war, spürte er die Überzeugung, daß er nur warten mußte, bis er wieder Kräfte gewann.

Langsam wurde er sich leiser Atemzüge bewußt, die vom anderen Ende der Grotte herüberdrangen. Er erkannte sie an Rhythmus und Tiefe als Dellas Atmung.

Nervös ging sie zum Vorhang und wieder zurück.

Dann trat sie abrupt zur Schlafbank und schüttelte ihn verzweifelt. »Jared, wach auf!«

Er konnte am drängenden Tonfall erkennen, daß sie schon seit längerer Zeit versuchte, ihn zu wecken. »Ich bin wach.«

»Oh, Licht sei Dank!« Ein paar Haarsträhnen waren aus dem Band geglitten und übers Gesicht gefallen. Sie strich sie zur Seite, und er bekam einen klaren Eindruck von ihren ebenmäßigen Zügen, aus denen die Sorge um ihn sprach.

»Du mußt von hier verschwinden!« flüsterte sie. »Der Berater hat Onkel Noris davon überzeugt, daß du ein Zerver bist! Sie wollen —«

Draußen hörte man Stimmen. Della sah schnell zum Vorhang, wandte dann das Gesicht wieder Jared zu.

»Sie kommen!« warnte sie. »Vielleicht können wir hinausschlüpfen, bevor sie hier sind!«

Er versuchte, sich zu erheben, fiel aber wieder zurück, schwach und verwirrt, als ihm plötzlich klar wurde, daß das Mädchen nicht wie alle anderen Leute ein Ohr den interessanten Lauten zuwandte. Sie richtete vielmehr ihr Gesicht immer genau dorthin, wo ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen wurde. Das bedeutete also, daß sie nicht mit den Ohren zervte! Womit aber dann?

Die Stimmen waren jetzt durch den Vorhang deutlicher zu vernehmen.

Berater: »Selbstverständlich bin ich absolut sicher, daß er ein Zerver ist! Obwohl er ein hervorragender Scharfschütze ist, konnte er ein ganz harmloses Ziel im Mannagarten nicht treffen. Und Sie wissen so gut wie ich, daß Zerver durch extreme Wärme behindert werden.«

Anselm: »Das klingt sehr belastend.«

Berater: »Und wie steht es mit Aubrey? Wir haben ihn hinausgeschickt, damit er den lautlosen Schall überdeckt, den das Ungeheuer draußen an der Felswand zurückließ. Das war vor zwei Perioden, und seitdem ist er vermißt. Wer hat ihn als letzter gehört?«

Anselm hustend: »Byron berichtete, daß Fenton noch bei Aubrey stand, als er in unsere Welt zurückrannte.«

Berater, nach heftigem Niesen: »Na bitte! Und wenn Sie noch mehr Beweise brauchen, daß Fenton ein Zerver ist, der mit den Ungeheuern zusammenarbeitet, müssen Sie nur an einen unseren unverrückbaren Glaubenssätze denken.«

Anselm: »Den, in dem es heißt, daß jeder Überlebende, der sich mit Kobalt oder Strontium einläßt, todkrank werden wird.« Sie traten auf den Grotteneingang zu.

Anselm: »Was fangen wir mit ihm an?«

Berater: »Die Strafgrube dürfte vorerst genügen. Da er Zerver ist, kann er uns zweifellos als Geisel dienen.«

Als sie den Vorhang beiseiteschoben, hörte Jared, wie mehrere bewaffnete Wachen vor der Grotte Aufstellung nahmen.

Anselm trat an die Schlafbank und schob Della zur Seite. »Hat er sich schon gerührt?«

»Er ist kein Zerver!« flehte sie. »Laßt ihn ruhen!«

Jared hörte, daß sie Anselm zugewandt war. Und wieder hatte er den Eindruck, daß sie Haarsträhnen aus dem Gesicht strich — von den Augen fort, eigentlich.

Und jetzt fiel ihm ein, daß sie den röhrenförmigen Gegenstand, den die Ungeheuer zurückließen, hochgehoben und vors Gesicht gehalten hatte, bevor sie ihn ihm übergab.

Sie zervte mit ihren Augen.

Anselm packte ihn beim Arm und schüttelte ihn grob. »Also los — aufstehen! Wir hören, daß du wach bist!«

Mühsam stand Jared auf. Lorenz ergriff den anderen Arm, aber Jared schüttelte ihn ab.

»Wachen!« rief Lorenz ängstlich.

Die Bewaffneten stürzten herein.

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