6

»… Wir schließen uns unter neuer Führerschaft zusammen und erflehen dazu den Segen des Allmächtigen Lichts.«

Senior Averyman kam als Seniorenältester mit seiner Rede zu Ende und lauschte über die Versammlung hinweg.

Jared, der hinter ihm stand, hörte gleichfalls die nur von vielen Atemzügen durchbrochene Stille. Es war eher ein besorgtes Schweigen, als daß es Respekt für die Zeremonien der Amtseinsetzung ausgedrückt hätte.

Auch er konnte nicht allzuviel Aufmerksamkeit für die Worte des Seniors aufbringen. Seine Gedanken waren mit Bitterkeit überbürdet. Es lag nicht so sehr daran, daß das Licht das Bündnis verletzt, als vielmehr, daß es mit solcher Brutalität eingegriffen hatte.

Die Tatsache, daß der Primär für immer aus der Welt der Menschen verschwunden war, bedeutete für Jared eine Tragödie. In den vergangenen beiden Perioden wäre er bei verschiedenen Gelegenheiten den Tunnel entlanggestürmt, wenn nicht die entfernte Möglichkeit bestanden hätte, daß er seinen Vater nur vorübergehend verloren hatte, zur Prüfung der Ehrlichkeit seiner Reue. Außerdem hatte man am Eingang Wachen aufgestellt, so daß er schon aus diesem Grund dem Ungeheuer nicht nachspüren konnte.

Er nieste und schneuzte sich. Senior Averyman machte entrüstet eine Pause. Dann fuhr er fort. »Wir dürfen von unserem neuen Primär nicht das Vorausgehör und die Weisheit erwarten, die seinen dahingegangenen Vater auszeichneten. Denn was läßt sich mit einer so tiefen Erkenntnis vergleichen, die ihn die Notwendigkeit der sofortigen Schulung seines Nachfolgers voraushören ließ?«

Jared horchte ungeduldig zum bewachten Eingang hinüber. Es gab noch einen Grund, warum er auf der Suche nach seinem Vater nicht die Barriere übersteigen durfte. Er würde damit den Zorn der Senioren erregen und sicherstellen, daß sie Romel zum Primär machten — was die Welt in Chaos stürzen mußte.

Jemand drängte ihn vor, und plötzlich stand er vor dem Kustos.

»Sprich mir nach«, sagte Philar ernst. »›Ich schwöre, daß ich alles tun werde, das Leben der Menschen in dieser Welt zu schützen und zu fördern.‹« Jared sprach den Eid nach, mußte sich aber wieder schneuzen.

»›Ich widme mich den Nöten aller, die sich auf mich verlassen‹, fuhr der Kustos fort, »›und ich werde mich bemühen, den Vorhang der Dunkelheit zu öffnen — so wahr mir das Licht helfe!‹«

Jared unterstrich die letzten Worte mit einem Niesen.

Nach der Amtseinsetzung empfing er vor der Regierungsgrotte die Glückwünsche der Anwesenden.

Romel erschien als letzter. »Jetzt kann ja der Spaß anfangen«, sagte er scherzhaft. Aber die Worte klangen nicht so harmlos, wie man es wünschen mochte, und sie gaben keinen Hinweis darauf, welche Miene sich hinter dem dichten Haar verbarg.

»Ich werde viel Hilfe brauchen«, gab Jared zu. »Ich habe es gewiß nicht leicht.«

»Allerdings.« Romel konnte seine Mißgunst nicht völlig verbergen. »Selbstverständlich müssen wir als erstes die Untersuchung zu Ende bringen.«

Sie wurde von den Senioren durchgeführt, war nur durch die Amtseinsetzung unterbrochen worden und ging Jared eigentlich nichts an. Die Männer betraten eben wieder die Amtsgrotte. Und es gab keinen Zweifel, daß mit der Erwähnung irgendeine Absicht verbunden war. Für einen kurzen Augenblick glaubte Jared das vertraute Zischen des Wurfseils, gezielt auf seine Beine, zu hören.

»Glaubst du, daß das Ungeheuer, dem der Primär zum Opfer gefallen ist, der Bestie glich, die du in der Ursprungswelt gehört hast?« fuhr Romel mit unnatürlich lauter Stimme fort.

Nun klatschte das Seil um die Knöchel. Romel würde nicht zulassen, daß die Verletzung des Barrieretabus durch Jared in Vergessenheit geriet. Das Wurfseil erschlaffte. Der heftige Ruck würde später kommen.

»Ich habe keine Ahnung«, fauchte Jared und betrat hinter dem letzten Zeugen die Grotte.

Ein tragbarer Echowerfer war aufgestellt worden. Jared setzte sich an den Konferenztisch und konzentrierte sich auf die von den Umsitzenden reflektierten Laute. Alle Senioren hatten ihre angestammten Plätze eingenommen, während die Zeugen eine eigene Gruppe bildeten.

»Ich glaube, zuletzt war Überlebender Metcalf aufgerufen«, erklärte Senior Averyman. »Er berichtete uns, was er gehört hat.«

Ein magerer, aufgeregter Mann trat an den Tisch. Deutlich hörbar flocht er die Finger ineinander, preßte sie zusammen, löste sie wieder.

»Ich konnte die Geräusche nicht allzu deutlich vernehmen«, entschuldigte er sich. »Ich kam eben vom Garten zurück, als ich Sie und den Primär rufen hörte. Aus den Echos der Stimmen gewann ich ein Bild des Wesens.«

»Und wie hörte es sich an?«

»Ich weiß nicht recht. Es entspricht in der Größe wohl einem Menschen.«

Die Art, wie der Zeuge ständig seinen Kopf hin- und herdrehte, ging Jared auf die Nerven. Der Mann hatte einen dichten Haarvorhang vor dem Gesicht, und die schwankende, wallende Bewegung des Haars erinnerte Jared an das flatternde Fleisch des Ungeheuers aus der Ursprungswelt.

»Konntest du sein Gesicht hören?« fragte Averyman.

»Nein. Die Entfernung war zu groß.«

»Und einen — unheimlichen Laut?«

»Ich weiß nichts von einem lautlosen Ton, den andere gehört haben wollen.«

Metcalf trug dichtes Haar vor dem Gesicht. Ebenso Averyman, auch zwei weitere Zeugen. Und nicht ein einziger von diesen vier Leuten hatte psychische Eindrücke einer dröhnenden Stille empfangen, fiel Jared ein. Selbst im Oberen Schacht hatte keiner mit struppigem Gesicht den unfaßbaren, unhörbaren Lärm der Ungeheuer vernommen.

Jared räusperte sich, schluckte unter Schmerzen, hustete mehrere Male und griff sich an den Hals. So schlecht hatte er sich noch nie gefühlt.

Averyman entließ den Zeugen und rief den nächsten auf.

Inzwischen waren die Vernehmungen ausgesprochen langweilig geworden. Es gab ja nur zwei Kategorien von Zeugen — solche, die den übernatürlichen Laut gehört hatten, und solche, denen er entgangen war.

Bedeutsamer schien Jared die wachsende Unsicherheit, die er in sich feststellen mußte. Er war nicht mehr unbedingt davon überzeugt, daß die Ungeheuer als Strafe für seine Mißachtung der Barriere angesehen werden mußten. Da die entsetzliche Bedrohung auf Jareds ernstgemeinte Reue hin nicht aufhörte, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder hielt Licht jedes Maß von Buße für ungenügend, oder sein Besuch in der Ursprungswelt hatte die Ungeheuer gar nicht aufgebracht.

Er richtete sich auf, als ihm eine dritte Möglichkeit einfiel: Angenommen, seine Meinung, Licht und Dunkelheit seien etwas Körperliches, träfe zu. Angenommen, es wäre ihm beinahe gelungen, auf der Suche danach eine bedeutsame Wahrheit zu entdecken. Und weiterhin angenommen, die Ungeheuer, bemüht, sein Bestreben zu vereiteln, hätten erkannt, wie nah er seinem Ziel gewesen sei. Würden sie nicht alles getan haben, ihn zu entmutigen?

Ein heftiges Niesen entrang sich ihm. Averyman machte mißbilligend eine Pause.

Der neue Zeuge war ein Junge, dessen aufgeregter Bericht keinen Zweifel daran ließ, daß er die unmöglichen Geräusche gehört hatte.

»Und wie würdest du diese — Empfindungen beschreiben?« brachte Senior Averyman seine Frage zu Ende.

»Es war, als prallten irre Schreie gegen mein Gesicht. Und als ich die Ohren mit den Händen bedeckte, hörte ich sie immer noch.«

Das Gesicht des Kindes war Averyman zugewandt, und Jared konnte Einzelheiten nicht erkennen. Aber plötzlich schien es ungeheuer wichtig, daß er den Gesichtsausdruck des Jungen hörte. Er stand auf, ging um den Tisch herum, ergriff den Jungen bei den Schultern und drehte ihn so, daß sein Gesicht von den Tönen des Echowerfers getroffen wurde.

Es war, wie er vermutet hatte — die Augen des Kindes standen offen.

»Möchtest du etwas sagen?« fragte Averyman, ohne seinen Ärger über die Unterbrechung ganz verbergen zu können.

»Nein — nichts.« Jared kehrte an seinen Platz zurück.

Der Junge gehörte zum Typ der Leute mit geöffneten Augen. Jared selbst hatte die Augen offen. Drei andere Zeugen fielen in dieselbe Kategorie. Und alle hatten sie die seltsame Empfindung gespürt!

Hatte er also doch mit seiner früheren Vermutung recht — hing der lautlose Ton irgendwie mit den Augen zusammen, vorausgesetzt, sie waren geöffnet? Und jetzt fiel ihm auch ein, wie merkwürdig seine Augen bei dem Ritus der Erregung des optischen Nervs reagiert hatten. Die unheimlichen Lautringe schienen doch deutlich hinter seinen Lidern getanzt zu haben, nicht wahr?

Aber welche Schlüsse ließen sich daraus ziehen? Wenn die Augen nur dazu gemacht waren, Licht zu spüren, warum konnten sie dann auch das Böse der Ungeheuer erkennen? Die Flut von Gedanken verwirrte und erregte ihn zugleich. Und er ärgerte sich darüber, daß diese Flut nicht auch Antworten mitschwemmte. Die Augen schienen das verbindende Element zwischen Gottheit und Teufel darzustellen; war es möglich, daß das Licht mit den Ungeheuern ein gemeines Komplott geschmiedet hatte? fragte er sich ängstlich.

Da! Er hatte sich einen lästerlichen Gedanken erlaubt! Und er wartete auf den Zorn des Allmächtigen.

Statt dessen kam eine direkte Frage von Senior Averyman: »Nun, Jared — ich meine, Primär — du hast die verschiedenen Beschreibungen gehört. Wie wirken sie im Vergleich zu deinen Eindrücken von dem Ungeheuer in der Ursprungswelt?«

Jared beschloß, diesmal etwas klüger zu sein. »Ich bin mir gar nicht so sicher, daß ich wirklich ein Ungeheuer gehört habe. Man weiß ja, wie manchmal die Phantasie mit einem durchgeht.« Es hatte keinen Sinn, die Aufmerksamkeit der anderen auf seine Erfahrungen mit dem Wesen zu lenken. Er hörte auch nicht ein, was zu gewinnen war, wenn er ihnen vom Überfall im Oberen Schacht berichtete.

»Wie? Was?« fragte Senior Haverty. »Du meinst, du hast in der Ursprungswelt kein Ungeheuer gehört? Du bist aber doch dort gewesen, oder nicht?«

Jared versuchte, sich mehrmals zu räuspern, aber die schmerzhafte Rauheit in seiner Kehle blieb. »Ja, ich bin dort gewesen.«

»Und seitdem ist allerhand geschehen«, brachte Senior Maxwell in Erinnerung. »Wir haben einige heiße Quellen verloren. Ein Ungeheuer hat unseren Primär verschleppt. Glaubst du, daß du für diese Unglücksfälle die Verantwortung trägst?«

»Nein, das nehme ich nicht an.« Warum sich selbst beschuldigen?

»Manche Leute sind aber anderer Meinung«, sagte Averyman steif.

Jared sprang auf. »Wenn das ein Versuch sein soll, mich zu stürzen…«

»Setz dich«, sagte Maxwell. »Senior Averyman war der Ansicht, daß wir dich zum Primär machen müßten. Aber nichts kann uns daran hindern, dich abzusetzen, wenn wir es für das beste halten.«

»Die Frage ist eben«, wiederholte Haverty, »ob du für alles verantwortlich bist, was dieser Welt zugestoßen ist.«

»Natürlich nicht! Die drei ersten Quellen versiegten lange bevor ich die Barriere überstieg.«

Es wurde still am Tisch. Aber Jared war mehr als jeder andere von der Wahrheit überrascht, die er so ganz spontan ausgesprochen hatte. Dadurch wurde ihm schlagartig vieles klar.

»Begreift ihr denn nicht?« Er beugte sich über den Steintisch, ließ die Echos vom tragbaren Gerät gegen sein Gesicht prallen, damit die anderen hören konnten, wie ernst es ihm war. »Was jetzt geschehen ist, kann mit meiner Übersteigung der Barriere gar nichts zu tun haben! Der Obere Schacht kämpft genau mit denselben Schwierigkeiten! Man hat mehrere heiße Quellen verloren, und einer der Senioren wurde vermißt, bevor ich die Ursprungswelt überhaupt betreten habe!«

»Wir könnten das eher glauben«, meinte Averyman zynisch, »wenn du uns früher davon erzählt hättest.«

»Mir ist bisher einfach noch nicht klar gewesen, daß ich die Barriere erst überstiegen hatte, nachdem diese Dinge schon geschehen waren. Und ich sagte mir, daß man nur um so eher bereit sein würde, mir die Schuld zuzuschieben, wenn ich auch noch von den Vorfällen im Oberen Schacht erzählte.«

»Wie?« meldete sich Haverty. »Woher wissen wir, daß du jetzt die Wahrheit sagst?«

»Erkundigt euch bei der offiziellen Eskorte, wenn man mich abholt.«

Jared fühlte sich wie aus den Tiefen der Strahlung befreit. Er hatte die Fesseln des Aberglaubens abgeworfen, die ihn sonst sein Leben lang in Angst und Schrecken festgehalten hätten.

Seine Erleichterung war nahezu grenzenlos — da er wußte, daß sein Vordringen in die Ursprungswelt auf der Suche nach Dunkelheit und Licht die Rache einer erzürnten göttlichen Macht nicht hervorgerufen hatte. Er brauchte also diese Suche nicht aufzugeben. Natürlich konnte er sich nicht mit ganzer Kraft dieser Aufgabe widmen — nicht, seit er Primär geworden war und vor einer Verbindung mit Della stand. Aber er konnte wenigstens weitermachen.

Eine Last hob sich von seinem Gemüt, machte der Überschwenglichkeit Platz. Am liebsten hätte er Freudenschreie ausgestoßen, wenn nicht die Halsschmerzen gewesen wären.

Er nieste, und in seinem Schädel begann es zu pochen.

Einige Augenblicke später nieste auch Senior Maxwell…

Plötzlich erhob sich draußen Lärm, und Jared spannte die Muskeln, als er den Geruch des Ungeheuers wahrnahm.

Jemand betrat eilig die Grotte und sagte beruhigend: »Laßt euch von dem Gestank nicht aus der Ruhe bringen.« Die Stimme gehörte Romel. »Er kommt von einem Gegenstand, den ich in der Hand halte — das Ungeheuer hat ihn verloren, als es den Primär verschleppte.«

Jared fing die Echos auf, die vom tragbaren Gerät gegen das Objekt in der Hand seines Bruders geschleudert wurden. Es war das Gewebe, das er im Tunnel vergraben hatte. Romel war also dabei, das Wurfseil fester zu packen. Und Jared wartete auf den Ruck, der ihn zu Boden werfen würde.

Die Senioren hatten inzwischen Zeit gehabt, das stinkende Tuch zu studieren und Maxwell fragte: »Woher hast du das?«

»Ich belauschte Jared, wie er es versteckte. Und ich grub es aus.«

»Warum sollte er denn so etwas tun?«

»Fragt ihn doch!« Bevor Maxwell jedoch dazu Gelegenheit hatte, fuhr Romel fort: »Ich glaube, daß er das Ungeheuer decken wollte. Versteht mich jetzt nicht falsch. Jared ist mein Bruder. Aber die Interessen unserer Welt sind vorrangig. Deshalb decke ich diese Verschwörung auf.«

»Das ist ja einfach lächerlich —«, begann Jared.

»Wie? Was?« unterbrach ihn Haverty. »Verschwörung? Was für eine Verschwörung? Warum sollte dein Bruder mit dem Ungeheuer zusammenarbeiten? Wie könnte er mit ihm konspirieren?«

»Er verschwand heimlich und traf mit ihm in der Ursprungswelt zusammen oder etwa nicht?«

Echos brachten nur den Eindruck der vor Romels Gesicht hängenden, dicht verfilzten Haare. Aber Jared wußte, daß das hinter dem Vorhang verborgene Lächeln genauso heimtückisch war wie bei jedem gelungenen Streich in der Kindheit.

»Ich habe das Tuch versteckt«, begann er, »weil —«

Aber Haverty ließ sich nicht beirren. »Was würde er bei einer Verschwörung mit dem Ungeheuer gewinnen?«

Das Wurfseil gestattete noch einen Ruck. »Er ist immerhin jetzt Primär, nicht wahr?« sagte Romel lachend.

Jared fuhr hoch. Aber zwei Senioren hielten ihn zurück.

»Ein solcher Ausbruch läßt die Beschuldigung nur plausibler erscheinen«, erklärte Averyman.

Jared ließ sich wieder auf die Bank sinken. »Ich habe das Tuch versteckt, weil ich es später studieren wollte. Ich konnte es ja nicht gut mitbringen, ohne denselben Fragen ausgesetzt zu sein, die ich jetzt auch zu beantworten habe.«

»Das klingt vernünftig«, brummte Averyman. »Und wie steht es mit dieser Verschwörung?«

»Würdet ihr sagen, daß ich etwas zu gewinnen hätte, wenn das Ungeheuer einen Zerver verschleppt?«

»Persönlich nicht, nein.«

Er berichtete von dem Überfall der beiden Ungeheuer im Oberen Schacht. »Und warum hast du nicht früher davon angefangen?« fragte Averyman schließlich mürrisch.

»Aus genau demselben Grund, den ich vorhin erwähnte — ich hatte gar nicht begriffen, daß ich für die Geschehnisse nicht verantwortlich war.«

»Wir werden die Geschichte von dem Raub des Zervers durch die Ungeheuer nachprüfen«, bemerkte Maxwell kühl.

»Wenn ihr mich bei einer Lüge ertappt, bin ich mit jeder Strafe einverstanden.«

Averyman erhob sich. »Ich denke, diese Untersuchung hat für die jetzige Periode lang genug gedauert.«

»Untersuchung? Quatsch!« knurrte Jared. »Hören wir doch endlich mit dem Gerede auf und machen wir uns auf die Suche nach dem Primär!«

»Langsam«, mahnte Haverty. »Wir dürfen nichts übereilen. Vielleicht haben wir es mit Kobalt und Strontium selbst zu tun.«

»Aber sie kommen wieder!«

»Dann müssen wir uns auf die Wachen am Eingang und auf den Kustos verlassen, der die Teufel schon austreiben wird.«

Jared erkannte, daß es ihm nicht gelingen würde, die Senioren von ihrem Aberglauben zu befreien.


Später in dieser Periode zog er sich in die Fenton-Grotte zurück, um die Neuverteilung der restlichen Mannafrüchte auf Mensch und Tier zu berechnen. Über den Sandkasten gebeugt, strich er die Schreibfläche glatt und machte sich von neuem mit dem Griffel an die Arbeit. Aber ein heftiges Niesen fegte die Oberfläche wieder glatt. Verärgert warf er den Griffel in den Kasten. Er schob ihn weg und ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Nicht nur das ständige Niesen machte ihn wahnsinnig, sein Kopf fühlte sich auch an, als sei er mit warmer, feuchter Wolle vollgestopft. Er hatte auch früher schon Fieber gehabt, wenngleich nicht in diesem Maße. Außerdem war ihm eine solche Krankheit noch nie bekanntgeworden.

Er versuchte, sich von seinem körperlichen Unbehagen abzulenken, indem er wieder erfreut an die beinahe unfaßbare Erkenntnis dachte, daß kein göttliches Wesen der Suche nach Licht im Wege stand. Die Ungeheuer mochten seinem Bemühen Widerstand leisten. Aber sie waren zu überwinden — wenn er ihre Macht, andere in Schlaf zu versetzen, brechen konnte.

Quälend auch, wie alles auf einen gewaltigen, unbegreiflichen Plan hinzudeuten schien, in den so viele körperliche und geistige Dinge gewebt waren. Welch geheimer Zusammenhang bestand zwischen den Augen und Licht, Licht und Dunkelheit, Dunkelheit und der Ursprungswelt, der Ursprungswelt und der Strahlung? Die offensichtliche Verknüpfung erstreckte sich auch auf die Zwillingsteufel, kehrte dann in weitem Bogen zurück zu den Augen und zum Licht-Dunkel-Komplex.

Er ertappte sich bei der Erinnerung an Cyrus, den Denker, der seine Zeit damit verbrachte, in der Grotte am anderen Ende der Welt zu meditieren. Vor langer Zeit hatte er den alten Mann neue Ideen über die Dunkelheit erklären hören. Vielleicht hatten diese philosophischen Gespräche den Grundstein zur Suche nach Dunkelheit — und Licht — überhaupt erst gelegt. Jared erkannte, daß er wieder mit dem Denker reden mußte — und zwar bald.

Die Vorhänge teilten sich; Many, einer der frischgebackenen Überlebenden, kam herein.

»Dafür, daß du erst ein paar Herzschläge lang Primär bist, hast du dir schon allerhand eingebrockt«, tadelte er. »Wie kann man nur vor den Senioren damit herausplatzen, daß man die Ungeheuer verfolgen will.«

Jared lachte. »Ich hätte wohl besser den Mund gehalten.«

Many setzte sich neben ihn auf die Steinbank und nieste. »Der Kustos hat einen Tobsuchtsanfall erlitten, als er davon erfuhr. Er ist jetzt der Ansicht, daß Romel einen besseren Primär abgeben würde.«

»Sobald ich einigermaßen klarhöre mit den heißen Quellen, werde ich mit ihm sprechen.«

»Er sagte, dein Benehmen bei der Verhandlung habe deutlich gezeigt, daß deine Reue nicht echt gewesen sei. Und er prophezeit weitere Katastrophen für unsere Welt.«

Als seien Manys Worte dazu ausersehen, die Prophezeiung Philars zu erfüllen, drangen in diesem Augenblick erschreckte Stimmen durch den Vorhang.

Jared stürzte hinaus und hielt einen der vorbeieilenden Männer auf. »Was gibt es denn?«

»Der Fluß! Er versiegt!«

Bevor er noch das Ufer erreichte, zeigten die Echos des Zentralgeräts deutlich die Situation. Der Wasserstand des Flusses war so rapide gesunken, daß die flüssige Weichheit der reflektierten Laute in der Echoleere unterhalb des Ufers völlig verborgen blieb. Man hörte nur noch das schwache Gurgeln des Wassers an Felsblöcken, die bis zu diesem Augenblick unter dem Wasserspiegel gelegen hatten.

Ein entsetzter Aufschrei klang vom Eingang herüber. Jared eilte sofort dorthin.

Da sich der Echowerfer jetzt hinter ihm befand, konnte er die Situation besser ausmachen. Die Wachen am Eingang zum Tunnel waren völlig durcheinander.

»Das Ungeheuer!« schrie jemand.

Jared blieb abrupt stehen, als der lautlose Lärm des Ungeheuers den ganzen Tunnel dröhnend erfüllte. Die Empfindungen, denen er sich ausgesetzt sah, glichen denen des Erregungsritus, allerdings tausendfach verstärkt. Aber hier berührten keine Ringe unhörbaren Schalls seine Augäpfel, wie unter der Berührung der Finger Philars. Statt dessen war die kreischende Stille wie etwas Losgelöstes, Unpersönliches — als habe es gar nicht persönlich mit ihm zu tun, sondern mit der Mündung des Tunnels.

Mehr noch, die Geräuschlosigkeit breitete sich aus, wie der echte Schall, und berührte viele Dinge — die Kuppel, die Wand zu seiner Rechten, die hängenden Steine neben dem Eingang.

Er schlug die Hände vors Gesicht und setzte seinen Weg fort. Das schwache, flüsternde Dröhnen verschwand sofort. Hier war also der Beweis — das Unheimliche übte Druck auf seine Augen aus!

Jetzt konnte er sich auf die ihm entgegendringenden Echos konzentrieren. Im Eingang befand sich kein Ungeheuer. Der Geruch bewies jedoch, daß sich bis vor wenigen Augenblicken eine Bestie hier aufgehalten haben mußte. Sein Gehör verriet ihm, daß auf dem Boden des Tunnels ein röhrenförmiger Gegenstand lag. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, daß er dem Gegenstand glich, den Della im Oberen Schacht gefunden hatte.

Gerade als er den Eingang erreichte, hob eine der Wachen einen Stein und rannte auf die Röhre zu.

»Nein! Nicht!« schrie Jared.

Der Wächter schleuderte den Stein.

Jared ließ die Hände von den Augen sinken und tastete nach den Überresten des Objekts. Es war warm und klapperte, als er es schüttelte.

Er bemerkte auch, daß von der kreischenden Stille nichts mehr zu spüren war.

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