10

Jared zuckte vor den absurden Eindrücken, den widersprechenden Bildern der physischen Orientierung zurück. Er spürte, daß er immer noch im Korridor nahe der tropfenden Felsnadel lag. Gleichzeitig wußte er aber mit derselben Sicherheit, daß er sich woanders befand.

Das Tropfen verwandelte sich in müdes Klopfen und wieder zurück. Die rauhe Härte des Gesteins unter seinem fiebernden Körper wurde zeitweise zur Weichheit von Mannahalmen, auf einer Schlafbank aufgeschüttet.

War dieser Mann aber alt! Ohne die Bewegung seiner Hand hätte man ihn für ein Skelett halten können. Der Kopf, zitternd vor Altersschwäche, glich einem Totenschädel. Und der Bart, dünn und ungepflegt, schleifte am Boden, verbarg sich in der Unhörbarkeit.

Klopf-klopf-klopf… platsch-platsch…

Jared war wieder im Tunnel. Und wie Laute, die ineinander verschmelzen, hatte sich der Bart in den feuchten, hängenden Stein verwandelt.

»Beruhige dich, Jared. Alles ist in Ordnung.«

Beinahe wäre er aus seinem Traum aufgeschreckt. »Gute Frau!«

»Es ist vielleicht weniger peinlich, wenn du mich einfach Lea nennst.«

Er zerbrach sich den Kopf über diesen Namen und dachte dann: »Ich träume wieder.«

»Im Augenblick, ja.«

Eine andere, besorgte Stimme meldete sich: »Lea! Wie geht es ihm?«

»Er kommt langsam zu sich.«

»Ich höre es. — Jared?«

Jared jedoch war in den Tunnel zurückgekehrt — wenn auch nur für einen Moment. Bald befand er sich wieder auf der Mannafasermatratze in einer kleinen Welt, wo sich die verschwommenen Umrisse einer Frau erkennen ließen, die sich über ihn beugte. An der Wand saß ein unfaßbar alter Mann und klopfte mit dem Finger an einen Stein.

»Jared«, sagte die Frau, »die andere Stimme eben gehörte Ethan.«

»Ethan?«

»Du hast ihn als Kleinen Lauscher gekannt, bevor wir seinen Namen änderten. Er war auf der Jagd, kommt aber eben zurück.«

Jareds Verwirrung wuchs.

Mehr, um ihn zu beruhigen, als aus irgendeinem anderen Grund, wie Jared spürte, sagte die Frau: »Ich kann noch gar nicht glauben, daß du nach so langer Zeit den Weg hierher gefunden hast.«

Er wollte etwas erwidern, aber sie unterbrach ihn: »Erkläre nichts. Ich habe alles aus deinen Gedanken erfahren — was du in den Tunnels getan hast, wie du gebissen worden —«

»Della!« rief er, als die Erinnerung zurückkehrte.

»Du brauchst dich um sie nicht zu sorgen. Ich habe euch rechtzeitig gefunden.«

Schlagartig begriff er, daß er wach war, und daß die letzten Worte der Guten Frau gesprochen waren.

»Nicht ›Gute Frau‹, Jared — Lea.«

Er staunte über den Höreindruck dieser Frau. Er betastete ihr Gesicht, ihre Schultern und Arme. Sie war ja überhaupt nicht alt!

»Was hast du erwartet — so etwas wie den Ewigen Mann?« schickte sie ihre Gedanken zu ihm. »Ich war ja praktisch noch ein Kind, als ich dich zu besuchen pflegte.«

Er lauschte angestrengter. Hatte sie ihm nicht einmal erzählt, daß sie seine Gedanken nur zu erreichen vermochte, wenn er schlief?

»Nur wenn du sehr weit weg bist und schläfst«, stellte sie klar. »Bei dieser Nähe brauchst du nicht zu schlafen.«

Er studierte die Echos. Sie war vielleicht etwas größer als Della. Aber ihre Figur konnte jeden Vergleich mit Della aushalten, trotz der neun oder zehn Schwangerschaftsperioden Altersunterschied. Sie hielt die Augen geschlossen und trug das Haar an den Seiten schulterlang, während es vorne bis zu den Brauen hinabreichte.

Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu und erkannte eine kleine, schäbige Welt mit vereinzelten heißen Quellen, jede von Mannapflanzen umgeben; ein Flußarm kam aus der Felswand, kehrte wieder in sie zurück; in der Nähe noch eine Schlafbank — Della, schlafend. Alle diese Eindrücke gewann er aus den Echos des klopfenden Fingers des — des Ewigen Mannes?

»Richtig«, bestätigte Lea.

Er stand auf, fühlte sich nicht so schwach, wie er erwartet hatte, und machte sich auf den Weg.

»Wir stören ihn nicht, bis er mit dem Klopfen aufhört«, sagte Lea.

Jared kehrte um, blieb vor der Frau stehen, glaubte immer noch nicht, daß er sich wirklich hier befand, in dieser lächerlichen Traumwelt. »Woher wußtest du, daß ich draußen im Tunnel lag?«

»Ich habe euch kommen hören.« Und er vernahm die unausgesprochene Erklärung, daß ›hören‹ in diesem Fall nichts mit Schall zu tun hatte.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Und ich höre auch aus deinen Gedanken, daß Della zu den Zervern gehört.«

»Sie hält mich auch für einen.«

»Ja, ich weiß. Und ich habe Angst. Ich begreife nicht, was du vorhast.«

»Ich —«

»Oh, ich weiß, was du denkst. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Du willst in die Zerverwelt, um dort nach der Dunkelheit zu suchen.«

»Auch nach Licht. Und nur durch Della kann ich jemals hineinkommen.«

»Das höre ich. Aber woher willst du ihre Pläne kennen? Ich traue ihr nicht, Jared.«

»Das kommt nur davon, daß du nicht hören kannst, was sie denkt.«

»Kann sein. Vielleicht bin ich so sehr daran gewöhnt, Gefühle und Absichten zu hören, daß ich hilflos bin, wenn ich nur nach äußeren Eindrücken gehen muß.«

»Du wirst Della aber nicht sagen, daß ich nicht wie sie bin?«

»Wenn du es nicht willst, bitte. Wir lassen sie einfach in dem Glauben, daß du der einzige Zerver bist, in dessen Gedanken ich eindringen kann. Aber hoffentlich weißt du auch, was du tust.«

Der Kleine Lauscher stürmte herein, und es war bemerkenswert, daß seine überschwengliche Begrüßung Della nicht weckte und von dem Alten ignoriert wurde, der sein Klopfen nicht unterbrach.

»Jared! Wo bist du?«

»Hier herüben!« Jared wurde plötzlich von Erregung befallen, als es eine Bekanntschaft zu erneuern galt, die er nicht einmal für wirklich gehalten hatte.

»Er kann dich nicht hören — erinnerst du dich?« sagte Lea.

»Aber er läuft doch geradewegs auf uns zu!« Dann zerbrach er sich den Kopf über den Geruch — nach Grillen? —, der vom Kleinen Lauscher ausging.

»Ethan«, korrigierte Lea. »Und es sind wirklich Grillen. Er hat immer einen Beutel voll Grillen bei sich: Unhörbare Grillenlaute liefern ihm ebensogute Echos wie dir deine Echosteine.«

Inzwischen war der andere herangekommen und umarmte Jared stürmisch, schwenkte ihn so mühelos herum, wie ein Bündel Mannahalme.

Jareds Freude über die Begegnung wurde etwas gedämpft durch sein Staunen über Ethans riesige Gestalt. Es war ganz gut, daß man ihn schon wegen seines ungewöhnlichen Hörvermögens aus dem Oberen Schacht verbannt hatte, sonst wäre er sicherlich später wegen seiner beinahe unmenschlichen Größe vertrieben worden.

»Du Sohn eines Vampirs!« lachte Ethan. »Ich hab' doch gewußt, daß du einmal auftauchen würdest!«

»Beim Licht, ich freue mich —« Jared verstummte plötzlich, als zitternde, starke Finger sanft seine Lippen berührten.

»Laß ihn«, sagte Lea. »Nur auf diese Weise kann er erfahren, was du sprichst.«

Sie verbrachten den größten Teil der Periode damit, sich über ihre Kindheitsbegegnungen zu unterhalten. Und Jared mußte ihnen von den Welten der Menschen berichten, erklären, wie es war, wenn man mit vielen Leuten zusammenlebte, die letzten Streiche der Zerver erzählen.

Einmal unterbrachen sie ihr Gespräch, um Nahrung aus einem Kochkrater zu holen und dem Ewigen Mann davon zu bringen. Aber das alte Geschöpf ignorierte sie immer noch.

Später sagte Jared auf eine Frage Leas: »Warum ich in die Zerverwelt möchte? Weil ich das Gefühl habe, daß dort der richtige Ort ist, nach Dunkelheit und Licht zu forschen.«

Ethan schüttelte den Kopf. »Vergiß das. Du bist hier; bleib bei uns.«

»Nein. Ich muß es einfach versuchen.«

»Großer Vampir!« fluchte der andere. »Solche Ideen hast du doch früher nie gehabt!«

In diesem Moment bemerkte Jared, daß Della sich rührte.

Er eilte hinüber und kniete vor der Bank. Er berührte ihr Gesicht, aber es war kühl und trocken. Sie hatte also das Fieber überwunden.

»Wo sind wir?« fragte sie mit schwacher Stimme.

Er begann es ihr zu erklären, aber bevor er halbwegs zu Ende kam, war sie wieder eingeschlafen.

Während der nächsten Periode machte Della ihre Untätigkeit in der vergangenen mehr als wett. Daß sie bei Jareds Erklärungen und dem Zusammentreffen mit Lea nachdenklich geschwiegen hatte, ließ ahnen, daß sich in ihr etwas vorbereitete.

Als sie später allein neben einer heißen Quelle knieten und frische Umschläge auf ihre Spinnenbißwunde legte, erfuhr er den Grund ihrer Zurückhaltung.

»Wann bist du zum letztenmal hier gewesen?« fragte sie.

»Oh, vor so vielen —«

»Ach, hör doch auf!« Sie wandte sich ab. »Ich muß sagen, deine Gute Frau ist eine große Überraschung.«

»Ja, sie —« Dann begriff er erst, worauf sie anspielte.

»Gute Frau — sie wird schon recht gut gewesen sein!«

»Du glaubst doch nicht etwa —«

»Warum hast du mich mitgenommen? Du hast wohl gedacht, dieser tölpelhafte Riese ist an einer Partnerin interessiert?«

Dann schlug ihre Stimmung plötzlich um. »Oh, Jared, hast du denn die Zerverwelt schon vergessen?«

»Natürlich nicht.«

»Dann wollen wir auch weiterziehen.«

»Du verstehst das nicht. Ich kann nicht einfach davonlaufen. Lea hat uns beiden das Leben gerettet. Wir sind bei Freunden!«

»Freunde!« Sie räusperte sich. »Du und deine Freunde!«

Sie stand auf und schritt hochaufgerichtet davon.

Jared folgte ihr, blieb aber plötzlich stehen, als die Welt mit einem Male in Stille getaucht war.

Der Ewige Mann hatte aufgehört zu klopfen! Er gestattete, daß man sich ihm näherte!

Unerklärlich zögernd durchquerte Jared die Welt. Lea und Ethan waren glaubhaft. Aber der Ewige Mann ragte wie ein gespenstisches Wesen aus einer phantastischen Vergangenheit in diese Gegenwart — Jared konnte nie hoffen, ihn zu verstehen.

Er orientierte sich an den asthmatischen Atemzügen und trat langsam an die Sitzbank.

»Das ist Jared«, erklärte Lea. »Er ist endlich zu uns gekommen.«

»Jared?«

»Natürlich, du erinnerst dich doch.«

Der Ewige Mann klopfte fragend. Und Jared fing den Eindruck eines schmalen Fingers auf, der beinahe der ganzen Länge nach in einer Vertiefung des Steins verschwand, bevor das Klopfgeräusch ertönte. Ungezählte Generationen hindurch hatte er den Stein so stark ausgehöhlt!

»Ich kenne dich nicht.« Die Stimme klang rauh und flüsternd.

»Lea hat mich — früher oft hierher gebracht.«

»Oh, Ethans kleiner Freund!« Eine knochige Hand erhob sich zitternd. Sie ergriff Jareds Handgelenk. Der Ewige Mann versuchte zu lächeln, aber der Eindruck wurde durch den ungekämmten Bart, hervorstehende Backenknochen und einen zahnlosen Mund verwischt.

»Wie alt bist du?« fragte Jared.

Schon als er die Frage stellte, wußte er, daß es keine Antwort darauf gab. Allein existierend, bevor Lea und Ethan kamen, kannte der Mann keine Maßstäbe, mit denen sich die Zeit berechnen ließ.

»Zu alt, mein Sohn. Und ich bin so einsam gewesen.« Die schwache Stimme war von Verzweiflung erfüllt.

»Sogar mit Lea und Ethan?«

»Sie wissen nicht, was es bedeutet, geliebte Menschen dahingehen zu sehen, von der Schönheit der Ursprungswelt verbannt zu sein —«

Jared fuhr zusammen. »Du hast in der Ursprungswelt gelebt?«

»— vertrieben zu werden, wenn man seine Enkel und ihre Ur-Urenkel zu Überlebenden hat heranwachsen hören können.«

»Hast du in der Ursprungswelt gelebt?« fragte Jared noch einmal.

»Aber man kann es ihnen nicht übelnehmen, daß sie einen Andersartigen loswerden wollten, der nicht zu altern verstand. Was meinst du — ob ich in der Ursprungswelt gelebt habe? Ha. Bis zu einigen Generationen, nachdem wir das Licht verloren hatten.«

»Du meinst, du bist dort gewesen, als Licht noch bei den Menschen war?«

Nach langem Schweigen erwiderte der Ewige Mann: »Ja. Ich — wie sagten wir damals? — ich sah Licht.«

»Du ›sahst‹ Licht?«

Der andere lachte kurz. »Sah«, plapperte er. »Vergangenheit des Wortes ›sehen‹. Sehen, sah, gesehen.«

Sehen! Da war das Wort wieder — geheimnisvoll, herausfordernd, und so dunkel wie die Legenden, aus denen es stammte.

»Hast du Licht gehört?« fragte Jared.

»Ich sah Licht. Wie herrlich war das damals! Die Kinder liefen mit fröhlichen, hellen Gesichtern herum, ihre Augen glänzten und —«

»Hast du Es gefühlt?« schrie Jared. »Hast du Es berührt? Hast du Es gehört?«

»Was?«

»Licht!«

»Nein, nein, mein Sohn. Ich habe es gesehen.«

»Wie war es? Erzähle!«

Der andere schwieg, sank auf seiner Bank in sich zusammen. Schließlich atmete er tief ein. »Ich weiß es nicht! Es ist so lange her, daß ich mich nicht einmal erinnern kann, wie Licht aussah!«

Jared packte ihn bei den Schultern. »Versuch es doch!«

»Ich kann nicht!« schluchzte der alte Mann.

»Hatte es etwas mit — den Augen zu tun?«

Klopf-klopf-klopf…

Er hatte sich wieder in sein Inneres zurückgezogen, vergrub bittere Erinnerungen und quälende Gedanken wieder unter dem Geröll der Gewohnheit und Gleichgültigkeit.

Es kam nun für Jared nicht mehr in Frage, die Welt Leas zu verlassen — nicht, seit das senile Gedächtnis des Ewigen Mannes die Hoffnung bot, daß sich neue Wege auf der Suche nach Licht eröffneten. Aber er konnte Della nicht sagen, warum er noch bleiben mußte. Er tat also einfach, als sei er körperlich noch nicht in der Lage, die Reise fortzusetzen.

Della gab sich mit dieser Erklärung anscheinend zufrieden; jedenfalls wartete sie widerstrebend auf seine Gesundung.

Daß ihr ursprüngliches Mißtrauen Lea gegenüber impulsiv und vorübergehend gewesen war, ersah man daraus, daß die beiden Frauen einander im Lauf der Zeit etwas näherkamen. Bei irgendeiner Gelegenheit sagte Della sogar zu Jared, daß ihr erster Eindruck von Lea und Ethan falsch gewesen sein könnte. Es sei eigentlich alles anders, als sie anfangs geglaubt habe. Auch Ethan sei beileibe nicht der tölpelhafte, schwerfällige Kerl, den sie zuerst in ihm vermutet habe — nicht im geringsten.

Taktvoll vermied es Lea, Jareds und Ethans Gedanken zu lesen, solange Della in der Nähe war. Della vergaß deshalb entweder, daß Lea diese Fähigkeit besaß, oder sie dachte wenigstens kaum daran.

Auch Lea mußte sich anpassen. Obgleich sie Della freundlich behandelte, spürte Jared stets, daß es unangenehm war, die Gedanken des Mädchens nicht erkennen zu können.

Während Jared darauf wartete, daß der Ewige Mann wieder aus seiner Versunkenheit emportauchte und Gesellschaft zuließ, spürte er dieser Entwicklung nach.

In der fünften Periode nach ihrer Ankunft badete Della mit Ethan im Fluß. Jared schärfte die Speerspitzen an einem scharfen Stein, als ihn Leas Gedanken erreichten: »Bitte vergiß die Zerverwelt, Jared.«

»Du weißt, daß ich mich schon entschieden habe.«

»Dann mußt du es dir eben anders überlegen. Die Tunnels sind voll von Ungeheuern.«

»Woher weißt du das? Du hast mir selbst erzählt, daß du Angst davor hast, ihren Gedanken zu lauschen.«

»Aber ich habe andere Gedanken belauscht — in den beiden Schächten.«

»Und was hast du erfahren?«

»Schrecken, Panik und eigenartige Eindrücke, die ich nicht verstehe. Die Ungeheuer sind überall. Und die Leute rasen davon, verbergen sich, kriechen in ihre Grotten, nur um später wieder die Flucht zu ergreifen.«

»Treiben sich auch in der Nähe dieser Welt Ungeheuer herum?«

»Ich glaube nicht — noch nicht, jedenfalls.«

Wieder eine Komplikation mehr, erkannte Jared. Es war vielleicht gar keine Frage des Beliebens, sich auf den Weg zur Zerverwelt zu machen. Wahrscheinlich mußte er so schnell wie möglich aufbrechen.

»Nein, Jared. Geh nicht — bitte!«

Und er hatte mehr als selbstlose Sorge um sein Wohl entdeckt. Hinter Leas Worten wurden Anfälle verzweifelter Einsamkeit spürbar, durchwirkt mit der Angst, ihre Welt könne in die schreckliche Isolierung zurücksinken, aus der sie durch Jareds und Dellas Auftauchen gerissen worden war.

Aber er hatte sich entschlossen und bedauerte nur, keine Gelegenheit zu einem zweiten Gespräch mit dem Ewigen Mann zu haben.

Genau zu dieser Zeit jedoch hörte sein Klopfen auf.

Jared rannte zu ihm.

Und als er am Fluß vorüberkam, fragte Della: »Wohin läufst du denn?«

»Ich muß den Ewigen Mann hören. Dann ziehen wir weiter.«


Jared kauerte auf der Bank und fragte besorgt: »Können wir jetzt reden?«

»Geh fort«, stöhnte der alte Mann. »Du bringst es wieder so weit, daß ich mich erinnern muß. Ich will mich nicht erinnern.«

»Unsinn! Ich suche nach Licht! Du kannst mir helfen!«

Der alte Mann atmete schwer.

»Versuch doch, dich an das Licht zu erinnern!« flehte Jared. »Hat es irgend etwas mit den — den Augen zu tun gehabt?«

»Ich — weiß es nicht. Es scheint, als könnte ich mich an Helligkeit entsinnen — und — ich weiß nicht, was sonst.«

»Helligkeit? Was ist das?«

»Etwas wie — ein lautes Geräusch, ein durchdringender Geschmack, ein harter Schlag vielleicht.«

Jared hörte die Unsicherheit im Gesicht des Ewigen Mannes. Hier war jemand, der ihm vielleicht sogar sagen konnte, was er suchte! Aber der Ewige Mann sprach nur in Rätseln, die nicht klarer waren als die Legenden selbst.

Er bemühte sich, seine Ungeduld zu zähmen, indem er vor dem nickenden Skelett hin- und herging. Vor seiner Nase konnte die umfassende Antwort auf die Frage liegen, wie Licht dem Menschen Nutzen bringen würde, wie es alle Dinge zugleich berühren und sofortige, unglaublich verfeinerte Eindrücke vermitteln müßte. Könnte man nur den Schleier des Vergessens wegreißen!

Er versuchte es in anderer Richtung: »Wie steht es mit Dunkelheit? Weißt du darüber etwas?«

Er hörte, wie es den Alten schauderte.

»Dunkelheit?« wiederholte der Ewige Mann zögernd, voll plötzlicher Furcht. »Ich — oh, Gott!«

»Was ist denn los?«

Der Mann zitterte am ganzen Körper. Sein greisenhaftes Gesicht verzerrte sich zu einer tragischen Maske.

Jared hatte noch nie solche Angst gehört. Der Alte versuchte, sich aufzurichten, aber er sank zurück und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Oh, Gott! Die Dunkelheit! Die furchtbare Dunkelheit! Jetzt erinnere ich mich. Sie ist überall um uns!«

Entgeistert wich Jared zurück.

Aber der Eremit packte ihn bei der Hand und zog ihn mit der Kraft der Verzweiflung zu sich. Dann schrillten seine angstvollen Rufe durch die Welt, drangen hinaus in den Tunnel: »Spürst du, wie sie sich um uns schließt? Gräßliche, schwarze, abscheuliche Dunkelheit! Oh, Gott, ich wollte mich nicht erinnern! Du hast mich dazu gezwungen!«

Jared lauschte aufmerksam und erschreckt. Spürte der Ewige Mann die Dunkelheit — jetzt? Aber er hatte doch gesagt, sie sei ›überall um uns‹, nicht wahr?

Jared fühlte jedoch nichts als den kühlen Hauch der Luft. Trotzdem fürchtete er sich. Es war, als hätte die Angst des Alten auf ihn abgefärbt.

War Dunkelheit etwas, das man fühlte oder vielleicht sehte — vielmehr ›sah‹? Aber wenn man sie sehen konnte, konnte man doch dasselbe mit der Dunkelheit tun, wie der Kustos es beim Allmächtigen Licht für möglich hielt. Aber — was war es?

Für einen Augenblick wurde Jared von beklemmender Angst vor einer undeutlichen Gefahr befallen, die er weder hören noch fühlen oder riechen konnte. Eine üble, unheimliche Empfindung — ein Ersticken, eine Stille, die nicht Geräuschlosigkeit war, sondern ein ihr zugleich Fremdartiges und Verwandtes.

Als er Della fand, hielt sie sich bei Lea und Ethan auf. Gesprochen wurde nichts. Es war, als hätte der unfaßbare Schrecken auch sie erfaßt.

Della hatte bereits Nahrungsmittel in ihre Tragtasche gepackt, und Lea brachte resigniert Jareds Speere.

Schweigend gingen sie zum Ausgang. Auch beim Abschied fielen keine Worte.

Nach ein paar Schritten drehte sich Jared um und rief: »Ich komme wieder.« Er ließ seine Speere gegen die Felswand klappern, studierte die Echos und machte sich auf den Weg.

Die dunkle Welt der Guten Frau, des Kleinen Lauschers und des unglaublichen Ewigen Mannes verlor sich in den unergründbaren Tiefen der Erinnerung. Und Jared spürte beinahe schmerzhaft, daß er unwiederbringlich etwas verloren hatte, als ihm klar wurde, daß auch Erinnerungen aus Traumstoff bestehen und der einzige Beweis für die Existenz von Leas Welt im Widerhall seiner Gedanken zu finden sein würde.

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