8 Die Geschichte des Stabes. Seltsame Kleriker. Unheimliche Gefühle

Der dichte Wald des Solace-Tals war eine grüne Masse pulsierenden Lebens. Unter den Dächern der Vallenholzbäume blühten Distelbüsche. Der Boden war mit lästigen Kletterpflanzen überzogen. Man mußte vorsichtig auf diese Pflanzen treten, denn sonst schlangen sie sich einem um den Knöchel und hielten das hilflose Opfer so lange gefangen, bis es von einem der Raubtiere, die im Tal lauerten, verschlungen wurde. Auf diese Weise versorgte sich auch die Schlingpflanze mit dem, was sie zum Leben brauchte - Blut. Sie brauchten über eine Stunde, um sich durch das Gebüsch zu hacken und zur Haven-Straße zu gelangen. Alle waren zerkratzt, zerrissen und erschöpft, und die vor ihnen liegende Straße mit ihrer weichen, lockeren Erde war ihnen willkommen. Erst als sie kurz vor der Straße anhielten und sich ausruhten, bemerkten sie, daß völlige Ruhe herrschte. Ein Schweigen war über das Land gefallen, als ob jedes Lebewesen den Atem anhielt und wartete. Jetzt hatten sie die Straße erreicht, und niemand war besonders erpicht, aus dem Schutz des Gebüsches hervorzutreten.

»Glaubst du, es ist sicher?« fragte Caramon und lugte aus einer Hecke.

»Sicher oder nicht, diesen Weg müssen wir nehmen«, sagte Tanis. »Falls du nicht fliegen kannst oder wieder in den Wald zurück willst. Wir haben eine Stunde gebraucht, um einige hundert Meter zurückzulegen. Bei diesem Tempo dürften wir die Kreuzung nächste Woche erreichen.«

Caramon errötete verärgert. »Ich meinte nicht...«

»Tut mir leid«, seufzte Tanis. Auch er spähte auf die Straße. Die riesigen Vallenholzbäume bildeten einen dunklen Korridor im grauen Licht. »Mir gefällt es genauso wenig.«

»Trennen wir uns, oder bleiben wir zusammen?« unterbrach Sturm das seiner Meinung nach müßige Gespräch mit eiskaltem, praktischem Verstand. »Wir bleiben zusammen«, entgegnete Tanis. Und fügte nach einem Moment hinzu: »Trotzdem sollte jemand kundschaften gehen.«

»Das mache ich, Tanis«, bot sich Tolpan an, der aus dem Busch unter Tanis' Ellbogen hervorsprang. »Niemand würde es verdächtig finden, daß ein Kender allein reist.«

Tanis runzelte die Stirn. Tolpan hatte recht - niemand würde ihn beargwöhnen. Es war im allgemeinen bekannt, daß Kender gern auf Wanderschaft gingen und Krynn auf der Suche nach Abenteuern durchreisten. Aber Tolpan hatte die beunruhigende Angewohnheit, seine Mission zu vergessen und die Reiseroute zu ändern, wenn irgend etwas Interessanteres seine Aufmerksamkeit fesselte.

»Nun gut«, sagte Tanis schließlich. »Aber vergiß nicht, Tolpan Barfuß, halte deine Augen offen und deine Gedanken zusammen. Kein Umherstreifen, und vor allem« - Tanis fixierte den Kender mit strengen Augen – »halte deine Hände aus den Taschen anderer Leute.«

»Solange es keine Bäcker sind«, fügte Caramon hinzu. Tolpan kicherte, schob sich durch das Gestrüpp und hatte bald die Straße erreicht; sein Hupakstab bohrte Löcher in den Sand, seine Beutel hüpften beim Gehen auf und ab. Und dann sang er ein Liedchen.

Tanis grinste, ließ noch einige Minuten vergehen, und nachdem er den letzten Vers des Liedes gehört hatte, trat er vor. Schließlich traten alle auf die Straße mit genauso viel Angst wie ein Trupp schlechter Schauspieler vor einer feindseligen Zuschauerschaft. Ihnen war, als ruhte jedes Auge aus Krynn auf ihnen.

Der tiefe Schatten unter den flammenfarbigen Blättern machte es unmöglich, im Wald seitlich der Straße irgend etwas auszumachen. Sturm führte allein und im bitteren Schweigen die Gruppe. Tanis wußte, daß der Ritter sich durch eigene Dunkelheit schleppte, obwohl er den Kopf stolz hochhielt. Caramon und Raistlin folgten. Tanis hielt ein Auge auf den Magier, besorgt über seinen Zustand.

Raistlin hatte einige Schwierigkeiten gehabt, durch das Gestrüpp zu kommen, aber jetzt kam er gut voran. Er stützte sich mit einer Hand auf seinen Stab, in der anderen hielt er ein aufgeschlagenes Buch. Tanis wunderte sich anfangs, was der Magier las, bis ihm klar wurde, daß es sein Zauberbuch war. Es ist der Fluch der Magier, daß sie ständig lernen und jeden Tag ihre Zaubersprüche wiederholen müssen. Die Worte der Magie brennen sich dem Geist ein, flackern dann und erlöschen, wenn der Zauber geworfen ist. Jeder Zauber zerstört einen Teil der physischen und geistigen Energie des Magiers, bis er völlig erschöpft ist und sich ausruhen muß, bevor er seine Magie erneut anwenden kann.

Flint stapfte auf der anderen Seite neben Caramon. Die beiden begannen leise über den Bootsunfall zu streiten, der zehn Jahre zurücklag.

»Versuchen, mit bloßen Händen einen Fisch zu fangen...«, grummelte Flint voller Abscheu.

Tanis bildete mit den Barbaren das Schlußlicht. Er wandte seine Aufmerksamkeit Goldmond zu. Jetzt, wo er sie deutlich im fleckigen grauen Licht unterhalb der Bäume sah, bemerkte er um ihre Augen Linien, die sie älter als neunundzwanzig erscheinen ließen. »Unser Leben war nicht einfach«, vertraute Goldmond ihm an. »Flußwind und ich lieben uns schon seit vielen Jahren. Doch es ist das Gesetz meines Volkes, daß ein Kämpfer, der die Tochter des Stammeshäuptlings heiraten will, eine große Tat vollbringen muß, denn er muß sich ihrer würdig erweisen. Es wurde immer schlimmer für uns. Flußwinds Familie war von unserem Stamm Jahre zuvor vertrieben worden, weil sie sich geweigert hatten, unsere Vorfahren zu ehren. Sein Großvater glaubte an uralte Götter, die vor der Umwälzung existiert hatten, obwohl es keine Beweise für ihre Existenz auf Krynn gab.

Mein Vater hatte entschieden, daß ich nicht so tief unter meinem Stand heiraten sollte. Er schickte Flußwind auf eine Mission, die kaum zu erfüllen war.— Er sollte ein Objekt mit heiligen Eigenschaften finden, das die Existenz dieser alten Götter beweisen könnte. Natürlich glaubte mein Vater nicht, daß es so einen Gegenstand geben würde. Er hoffte, Flußwind würde den Tod finden oder daß ich mit der Zeit einen anderen lieben könnte.« Sie sah zu Flußwind hoch und lächelte. Aber sein Gesicht blieb hart, seine Augen starrten in die Ferne. Ihr Lächeln versiegte. Seufzend fuhr sie mit ihrer Geschichte fort. Sie schien eher zu sich als mit Tanis zu sprechen.

»Flußwind war jahrelang unterwegs. Und mein Leben war leer. Manchmal dachte ich, mein Herz würde sterben. Und dann kehrte er vor einer Woche zurück. Er war halbtot, verwirrt und hatte hohes Fieber. Er stolperte in das Lager und brach vor meinen Füßen zusammen, seine Haut brannte bei der Berührung. In seiner Hand hielt er diesen Stab umklammert. Wir mußten ihn ihm entreißen. Auch in Ohnmacht ließ er ihn nicht los.

Im Fieber sprach er über einen dunklen Ort, eine zerstörte Stadt, wo der Tod schwarze Flügel trüge. Dann, als er vor Angst und Entsetzen in Panik geriet und die Diener ihn ans Bett fesseln mußten, erinnerte er sich an eine Frau, eine in blaues Licht gekleidete Frau. Sie kam zu ihm an den dunklen Ort und heilte ihn und gab ihm den Stab. Diese Erinnerung ließ ihn ruhiger werden, und das Fieber sank.

Vor zwei Tagen...« Sie hielt inne, war es wirklich erst zwei Tage her? Es schien ein Leben zu sein! Seufzend erzählte sie weiter: »Er zeigte meinem Vater den Stab und erzählte ihm, daß er ihn von einer Göttin erhalten hätte, daß er aber ihren Namen nicht wüßte. Mein Vater sah sich den Stab an« – Goldmond hob ihn hoch - »und befahl ihm, etwas zu tun irgend etwas. Nichts geschah. Er warf ihn Flußwind wieder zu, erklärte ihn zum Betrüger und befahl dem Stamm, ihn als Strafe für seine Gotteslästerung zu Tode zu steinigen.« Goldmonds Gesicht wurde beim Sprechen blaß, Flußwinds Gesicht finster trüb.

»Sie fesselten Flußwind und zogen ihn zur Klagemauer.« Sie konnte nur noch flüstern. »Sie fingen an, ihn mit Steinen zu bewerfen. Er sah mich mit solch einer Liebe an, und er schrie, daß nicht einmal der Tod uns trennen könnte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ohne ihn zu leben. Ich rannte zu ihm. Die Steine trafen uns beide...« Goldmond faßte sich an die Stirn, weinte in der Erinnerung an den Schmerz, und Tanis bemerkte erst jetzt eine frische, tiefe Narbe auf ihrer Haut. »Auf einmal war da ein blendender Blitz. Als Flußwind und ich wieder sehen konnten, standen wir auf der Straße nach Solace. Der Stab glühte blau, schimmerte und wurde dann wieder so, wie du ihn jetzt siehst. Wir entschieden uns daraufhin, nach Haven zu gehen und die weisen Männer im Tempel über den Stab zu befragen.«

»Flußwind«, fragte Tanis beunruhigt. »Was weißt du noch von dieser zerstörten Stadt? Wo war sie?«

Flußwind antwortete nicht. Er blickte Tanis aus den Winkeln seiner dunklen Augen an, offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit weg. Dann starrte er in die schattigen Bäume. »Tanis Halb-Elf«, sagte er schließlich. »Das ist dein Name?« »Die Menschen nennen mich so«, antwortete Tanis. »Mein Elfenname ist für Menschen zu lang und zu schwierig auszusprechen.« Flußwind runzelte die Stirn. »Warum«, fragte er, »wirst du Halb-Elf und nicht Halb-Mensch genannt?«

Die Frage traf Tanis wie ein Schlag. Er mußte sich beherrschen, keine wütende Antwort zu geben. Er wußte, Flußwind stellte diese Frage aus einem bestimmten Grund. Sie war nicht als Beleidigung gemeint. Dies war eine Prüfung, wurde Tanis klar. Und er wählte seine Worte sorgfältig.

»Für die Menschen ist ein halber Elf nur ein Teil eines ganzen Wesens. Und ein halber Mensch ist ein Krüppel.«

Flußwind dachte lange über die Antwort nach, nickte schließlich einmal und beantwortete plötzlich Tanis' Frage. »Ich bin viele Jahre gewandert«, erzählte er. »Oft wußte ich nicht einmal, wo ich eigentlich war. Ich folgte der Sonne und dem Mond und den Sternen. Die Reise war wie ein dunkler Traum.« Einen Moment lang schwieg er. Als er wieder sprach, kam seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Es war einst eine sehr schöne Stadt, mit weißen Gebäuden, die von riesigen Marmorsäulen getragen wurden. Aber nun sieht sie aus, als ob eine Riesenhand die Stadt aufgehoben und gegen eine Gebirgswand geschleudert hätte. Die Stadt ist jetzt sehr alt und sehr böse.«

»Tod auf schwarzen Flügeln«, sagte Tanis leise.

»Er stieg auf wie ein Gott aus der Dunkelheit, von seinen Kreaturen verehrt, gellend und heulend.« Das Gesicht des Barbaren erblaßte unter seiner sonnengebräunten Haut. Er schwitzte in der kühlen Morgenluft. »Ich kann darüber nicht reden !« Goldmond legte ihre Hand auf seinen Arm, und die Spannung in seinem Gesicht löste sich.

»Und aus diesem Alptraum erschien eine Frau, die dir den Stab gab?« drängte Tanis.

»Sie heilte mich«, sagte Flußwind. »Ich lag im Sterben.« Tanis betrachtete aufmerksam den Stab, den Goldmond in der Hand hielt. Es war ein schlichter, gewöhnlicher Stab, den man erst dann wahrnahm, wenn man seine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Ein seltsames Bild war in seine Spitze geschnitzt, und Federn – so wie es die Barbaren lieben – waren darüber gebunden. Dennoch hatte er ihn blau glühen sehen! Er hatte seine Heilkräfte gespürt. War er ein Geschenk uralter Götter – gekommen, um in dieser Zeit der Bedrängnis zu helfen? Oder war er böse? Was wußte er überhaupt von diesen Barbaren? Tanis überdachte Raistlins Behauptung, daß der Stab nur von Lebewesen mit reinem Herzen berührt werden konnte. Er schüttelte den Kopf. Es klang gut. Er wollte es glauben. In Gedanken verloren, spürte er, daß Goldmond seinen Arm berührte. Tanis sah auf – Sturm und Caramon gaben Zeichen. Der Halb-Elf stellte plötzlich fest, daß er und die Barbaren ziemlich weit zurückgefallen waren. Er fing an zu laufen. »Was ist los?«

Sturm antwortete trocken: »Der Kundschafter kommt zurück.« Tolpan kam die Straße herunter auf sie zu. Er winkte dreimal. »Ins Gebüsch!« befahl Tanis. Die Gruppe verließ eilig die Straße und versank im Gebüsch, alle außer Sturm.

»Komm schon!« Tanis ergriff den Ritter am Arm. Sturm entzog sich dem Halb-Elf. »Ich verstecke mich nicht im Graben!« erklärte der Ritter eisig. »Sturm...«, begann Tanis und versuchte, seine aufsteigende Wut zu unterdrücken. Er schluckte bittere Worte hinunter, die nichts bringen würden und nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten konnten. Statt dessen wendete er sich mit zusammengepreßten Lippen vom Ritter ab und wartete in grimmigem Schweigen auf den Kender.

Tolpan kam angeflitzt, seine Beutel hüpften beim Laufen wild auf und ab.

»Kleriker!« keuchte er. »Eine Gesellschaft von Klerikern. Acht Stück!«

Sturm rümpfte die Nase. »Ich dachte, es wäre zumindest ein Bataillon von Goblinwachen. Ich denke, mit acht Klerikern werden wir fertig.«

»Ich bin mir nicht sicher«, entgegnete Tolpan. »Ich habe auf ganz Krynn Kleriker gesehen, aber solche noch nie.« Er blickte besorgt die Straße hinunter, dann zu Tanis mit einem ungewöhnlichen Ernst in seinen braunen Augen. »Erinnerst du dich, was Tika über die seltsamen Männer in Solace gesagt hat - die mit Hederick herumhängen? Mit Kapuzen und in schwere Roben gekleidet? Nun, diese Beschreibung paßt genau auf diese da! Und, Tanis, ich hatte bei ihrem Anblick ein ganz unheimliches Gefühl...« Der Kender schauderte. »Wir werden sie gleich sehen.«

Tanis warf Sturm einen schnellen Blick zu. Der Ritter hob die Augenbrauen. Beide wußten, daß Kender das Gefühl der Angst nicht kannten, dafür waren sie jedoch äußerst empfindsam gegenüber den Ausstrahlungen anderer Lebewesen. Tanis konnte sich nicht erinnern, daß der Anblick irgendeines Wesens auf Krynn Tolpan jemals ein »unheimliches Gefühl« vermittelt hätte – und er hatte sich mit dem Kender schon in einigen merkwürdigen Gegenden aufgehalten.

»Da kommen sie«, sagte Tanis plötzlich. Die drei zogen sich in den Schatten der Bäume zur Linken zurück und beobachteten die Kleriker, die um die Straßenbiegung kamen. Für den HalbElf waren sie noch zu weit entfernt, um viel über sie sagen zu können, außer daß sie sich sehr langsam bewegten und einen großen Handkarren hinter sich zogen.

»Vielleicht solltest du mit ihnen sprechen, Sturm«, sagte Tanis leise. »Wir müssen mehr über die Straße wissen. Aber sei vorsichtig, mein Freund.«

»Ich werde vorsichtig sein«, antwortete Sturm lächelnd. »Ich habe nicht die Absicht, mein Leben sinnlos wegzuwerfen.« Der Ritter faßte Tanis einen Moment lang in stummer Entschuldigung am Arm, dann ließ er ihn los, um sein Schwert zu lockern. Er ging auf die andere Straßenseite und lehnte sich gegen einen abgebrochenen Holzpfahl, den Kopf gesenkt, als wollte er sich ausruhen. Tanis stand einen Moment unentschlossen da, dann wandte er sich um und bahnte sich einen Weg durch das Gebüsch, Tolpan auf seinen Fersen.

»Was ist denn los?« grunzte Caramon, als Tanis und Tolpan erschienen. Der Krieger streckte sich, so daß sein Waffenarsenal heftig zu klirren begann. Die übrigen Gefährten hatten sich hinter ein Gebüsch gedrängt, von wo aus sie jedoch die Straße überblicken konnten.

»Psst.« Tanis kniete sich neben Caramon und Flußwind, der hinter einem Busch einige Meter zu Tanis' Linken kauerte. »Kleriker«, flüsterte er. »Sturm soll sie ausfragen.« »Kleriker!« Caramon schnaubte spöttisch und machte es sich bequem. Aber Raistlin wurde unruhig.

»Kleriker«, wisperte er nachdenklich. »Mir gefällt das nicht.« »Wie meinst du das?« fragte Tanis.

Raistlin lugte aus den dunklen Schatten seiner Kapuze zum Halb-Elf. Tanis konnte nur die goldenen Augen des Magiers erkennen, enge Schlitze voller List und Klugheit.

»Seltsame Kleriker.« Raistlin sprach mit umständlicher Geduld, wie zu einem Kinde. »Der Stab hat spirituelle, heilende Fähigkeiten – Fähigkeiten, die man auf Krynn seit der Umwälzung nicht mehr erlebt hat! Caramon und ich sahen einige dieser Männer in Solace. Findest du es nicht seltsam, mein Freund, daß diese Kleriker und dieser Stab zur selben Zeit am selben Ort erscheinen, obwohl beide zuvor nie gesehen wurden? Vielleicht gehört ihnen rechtmäßig dieser Stab.« Tanis blickte zu Goldmond. Sie sah sehr beunruhigt aus. Sicherlich hatte sie sich dieselbe Frage gestellt. Er sah wieder zur Straße. Die verhüllten Gestalten bewegten sich im Schneckentempo, während sie den Karren zogen. Die Gefährten warteten schweigend. Graue Wolken zogen sich zusammen, der Himmel wurde dunkler, und bald darauf begann es durch die Zweige zu tropfen.

»Es regnet«, brummte Flint. »Nicht genug, daß ich mich wie ein Pilz in einen Busch quetschen muß, jetzt werde ich auch noch bis auf die Knochen naß...«

Tanis funkelte den Zwerg wütend an. Flint murmelte noch etwas und schwieg dann. Bald hörten die Gefährten nur noch den Regen, der auf die Blätter prasselte und auf Schild und Helm trommelte. Es war ein kalter, beständiger Regen, ein Regen, der durch den dicksten Mantel drang. Er floß über Caramons Drachenhelm und tröpfelte an seinem Hals hinunter. Raistlin begann zu zittern und zu husten und hielt sich die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen, als ihn alle entsetzt anstarrten. Tanis sah auf die Straße. Wie Tolpan hatte er niemals zuvor etwas Ähnliches wie diese Kleriker während seiner hundert Lebensjahre auf Krynn gesehen. Sie waren hochgewachsen, über einen Meter achtzig. Lange Gewänder verhüllten ihre Körper, mit Kapuzen versehene Umhänge bedeckten die Gewänder. Selbst ihre Füße und Hände waren vermummt, wie Bandagen über Leprawunden. Als sie sich Sturm näherten, blickten sie sich vorsichtig um. Einer von ihnen sah direkt auf das Gebüsch, wo sich die Gefährten versteckt hielten. Nur die dunkelglänzenden Augen waren durch einen Stoffschlitz zu erkennen.

»Heil dir, Ritter von Solamnia«, grüßte der führende Kleriker in der Umgangssprache. Seine Stimme klang hohl, lispelnd eine nichtmenschliche Stimme. Tanis erschauerte. »Seid gegrüßt, Brüder«, antwortete Sturm ebenfalls in der Umgangssprache. »Ich bin heute schon viele Meilen gewandert, und ihr seid die ersten Reisenden, auf die ich stoße. Ich habe seltsame Gerüchte gehört, und ich müßte Näheres über die Straße wissen. Woher kommt ihr?«

»Eigentlich aus dem Osten«, erwiderte der Kleriker. »Aber heute sind wir von Haven aufgebrochen. Für das Wandern ist der Tag eiskalt, Ritter, darum ist wohl die Straße so leer. Wir auch, wenn uns nicht ein Notfall dazu veranlaßt hätte. Wir haben dich unterwegs nicht getroffen, also mußt du aus Solace kommen, Ritter.«

Sturm nickte. Die übrigen Kleriker standen in der Nähe des Karrens und unterhielten sich murmelnd. Der Anführer sagte etwas zu ihnen in einer fremden kehligen Sprache. Tanis blickte fragend seine Gefährten an. Tolpan schüttelte den Kopf, die anderen auch: Keiner von ihnen hatte diese Sprache je gehört. Der Kleriker sprach wieder in der Umgangssprache. »Ich bin neugierig, über diese Gerüchte zu hören, Ritter.« »Man munkelt von Armeen im Norden«, erwiderte Sturm. »Ich reise in diese Richtung, in meine Heimat Solamnia.«

»Von diesen Gerüchten wissen wir nichts«, antwortete der Kleriker. »Soweit uns bekannt ist, ist die Straße zum Norden frei.«

»Ah, das kommt davon, wenn man Betrunkenen glaubt.«

Sturm zuckte mit den Schultern. »Aber welchen Notfall meint ihr, der euch Brüder bei solch einem schlechten Wetter heraustreibt?«

»Wir suchen einen Stab«, antwortete der Kleriker bereitwillig. »Mit einem blauen Kristall. Wir hörten, daß er in Solace gesichtet wurde. Weißt du etwas darüber?« »Ja«, meinte Sturm. »Ich habe in Solace davon gehört. Von den gleichen Kameraden, die mir auch von den Armeen im Norden erzählten. Was ist an diesen Geschichten dran?« Der Kleriker schien einen Moment lang verwirrt zu sein. Er blickte sich unsicher um.

»Erzähl mir«, sagte Sturm und lehnte sich wieder an den Pfahl, »warum sucht ihr den Stab mit dem blauen Kristall? Ein schlichter Holzstab würde besser zu euch passen.«

»Es handelt sich um einen geweihten Heilstab«, erwiderte der Kleriker ernst. »Einer unserer Brüder ist schwer krank; ohne die gesegnete Berührung mit diesem heiligen Relikt wird er sterben.«

»Heilen?« Sturm hob die Augenbrauen. »Ein gesegneter Heilstab wäre von unschätzbarem Wert. Wie konntet ihr dann solch einen seltenen und wundervollen Gegenstand aus den Augen verlieren?«

»Wir haben ihn nicht - verloren!« schnaubte der Kleriker. Tanis sah, wie der Mann seine vermummten Hände vor Wut zusammenpreßte. »Er wurde unserem heiligen Orden gestohlen. Wir verfolgten die Spur des Diebes bis zu einem Barbarendorf in den Ebenen, dann verlor sich seine Spur. Dann hörten wir Gerüchte über seltsame Geschehnisse in Solace, und darum gehen wir dorthin.« Er zeigte auf den Karren. »Diese unheilvolle Reise ist nur ein kleines Opfer für uns, verglichen mit den Schmerzen, die unser Bruder erleiden muß.«

»Leider kann ich nicht helfen...«, begann Sturm.

»Ich kann euch helfen«, ertönte eine klare Stimme neben Tanis. Er griff um sich, aber es war zu spät. Goldmond hatte sich hinter dem Busch erhoben und ging entschlossen auf die Straße zu, schob Zweige und Dornensträucher beiseite. Flußwind sprang hoch und stürzte ihr nach.

»Goldmond!« Tanis riskierte ein durchdringendes Wispern. »Ich muß es wissen!« erwiderte sie nur.

Die Kleriker, die Goldmonds Stimme hörten, blickten sich wissend an und nickten sich zu. Tanis spürte eine Spannung, aber bevor er etwas sagen konnte, war auch Caramon auf die Füße gesprungen.

»Diese Barbaren werden mich nicht hier hocken lassen, während sie sich amüsieren!« erklärte Caramon und arbeitete sich hinter Flußwind durch das Dickicht.

»Sind jetzt alle verrückt geworden?« knurrte Tanis. Er packte Tolpan am Kragen und zog den Kender, der Caramon fröhlich hinterherspringen wollte, zurück. »Flint, paß auf den Kender auf. Raistlin...«

»Mach dir keine Sorgen um mich, Tanis«, flüsterte der Magier. »Ich habe nicht die Absicht, mich zu zeigen.«

»Gut. Bleibt hier.« Tanis erhob sich und bewegte sich langsam nach vorn. Ein »unheimliches Gefühl« beschlich ihn.

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