12 Der Herr der Wälder. Eine friedliche Unterbrechung

Wer bist du?« rief Tanis. »Zeige dich!«

»Wir werden dir auch nichts tun«, bluffte Caramon.

»Natürlich werdet ihr das nicht.« Nun klang die tiefe Stimme amüsiert. »Ihr habt ja keine Waffen. Ich werde sie euch zur gegebenen Zeit zurückgeben. Niemand bringt Waffen in den Düsterwald, nicht einmal ein Ritter von Solamnia. Fürchte dich nicht, edler Ritter. Ich habe deine uralte und höchst wertvolle Klinge erkannt! Ich werde sie sicher aufbewahren. Vergebt mir diesen offensichtlichen Mangel an Vertrauen, aber selbst der große Huma hat die Drachenlanze vor meine Füße gelegt.«

»Huma!« keuchte Sturm. »Wer bist du?«

»Ich bin der Herr der Wälder.« Noch während die tiefe Stimme sprach, teilte sich die Dunkelheit. Die Gefährten stießen ein ehrfürchtiges schweres Atmen aus, so leise wie der Frühlingswind. Silbernes Mondlicht schien hell auf einen hohen Felsvorsprung. Auf diesem Vorsprung stand ein Einhorn. Es betrachtete sie kühl, seine klugen Augen strahlten vor unendlicher Weisheit.

Die Schönheit des Einhorns durchdrang das Herz. Goldmond spürte plötzlich Tränen aus ihren Augen fließen, und sie mußte sie vor der erhabenen Ausstrahlung des Tieres schließen. Sein Fell war so silbern wie das Mondlicht, sein Hörn schimmerte wie eine Perle, seine Mähne wie Meeresschaum. Der Kopf hätte aus glitzerndem Marmor geformt sein können, aber kein Mensch und nicht einmal ein Zwerg hätte die Eleganz und Grazie der feinen Linien des mächtigen Halses und des muskulösen Brustkorbs erfassen können. Die Beine waren stark und doch zierlich, die Hufe schmal und gespalten wie bei einer Ziege. Später, als Goldmond auf dunklen Pfaden wanderte und ihr Herz vor Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit düster war, brauchte sie nur die Augen zu schließen und sich an das Einhorn zu erinnern, um Trost zu finden.

Das Einhorn warf den Kopf zurück und verbeugte sich dann in einem ernsten Willkommensgruß. Die Gefährten, die sich tölpelhaft und ungeschickt vorkamen, verbeugten sich auch. Das Einhorn wirbelte plötzlich herum, verließ den Felsvorsprung und näherte sich ihnen. Tanis, der das Gefühl hatte, von einem Zauber befreit worden zu sein, blickte sich um. Das helle silberne Mondlicht beleuchtete eine waldige Lichtung. Hohe Bäume umgaben sie wie riesige, wohltätige Wächter. Der Halb-Elf wurde sich eines tiefen, beständigen Friedens bewußt. Aber ebenso herrschte hier eine unendliche Traurigkeit.

»Ruht euch aus«, sagte der Herr der Wälder, als er die Gefährten erreichte. »Ihr seid müde und hungrig. Man wird euch Essen geben und Wasser zum Reinigen bringen. Ihr könnt eure Wachsamkeit und eure Ängste für diesen Abend ablegen. Hier seid ihr in Sicherheit, falls es sie überhaupt heute abend in diesem Land gibt.« Caramon, dessen Augen bei der Erwähnung von Essen aufleuchteten, ließ seinen Bruder vorsichtig auf den Boden nieder. Raistlin sank in das Gras gegen einen Baumstamm. Sein Gesicht war im silbernen Mondlicht leichenblaß, aber sein Atem ging ruhig. Er wirkte nicht krank, sondern einfach nur furchtbar erschöpft. Caramon setzte sich neben ihn und sah sich nach Eßbarem um. Dann seufzte er tief.

»Vielleicht wieder nur Beeren«, sagte der Krieger unglücklich zu Tanis. »Ich sehne mich nach Fleisch - geröstetes Wildbret, ein schönes durchgebratenes Stück Hase...«

»Psst«, wandte Sturm leise ein und blickte zum Herrn der Wälder. »Wahrscheinlich wird er dich zuerst rösten!« Zentauren kamen aus dem Wald hervor und trugen ein sauberes weißes Tischtuch, das sie auf dem Gras ausbreiteten. Andere stellten Kristallkugellichter auf das Tuch. Tolpan untersuchte sie neugierig: »Das sind Wanzenlichter!« In den Kristallkugeln hingen Tausende winziger Wanzen, und jede trug zwei hellschimmernde Punkte auf ihrem Rücken. Sie wimmelten zufrieden im Innern der Kugeln umher.

Als nächstes brachten die Zentauren Schüsseln mit erfrischendem Wasser und saubere weiße Tücher. Weitere Zentauren schafften Stühle herbei, auf die Caramon unschlüssig starrte. Sie waren aus einem einzigen Stück Holz gefertigt und schienen gemütlich zu sein, jedoch hatte jeder Stuhl nur ein Bein!

»Setzt euch bitte«, sagte der Herr der Wälder freundlich. »Auf so etwas kann ich nicht sitzen!« protestierte der Krieger. »Ich werde umkippen.« Er stand vor dem Tischtuch. »Außerdem ist das Tuch auf dem Gras ausgebreitet. Ich werde mich ins Gras setzen.«

»Ganz nahe am Essen«, murrte Flint in seinen Bart. Die anderen schauten unbehaglich auf die Stühle, die seltsamen Kristallwanzenlampen und die Zentauren. Die Tochter des Stammeshäuptlings jedoch wußte, wie man sich als Gast zu benehmen hatte. Obwohl die Außenwelt ihr Volk als Barbaren betrachtete, verfügte Goldmonds Stamm über strenge Regeln der Höflichkeit, die gewissenhaft befolgt wurden. Goldmond wußte, daß es eine Beleidigung für den Gastgeber war, wenn man ihn warten ließ. Sie ließ sich mit königlicher Anmut nieder. Der einbeinige Stuhl schaukelte leicht, paßte sich dann ihrem Gewicht an, als wäre er nur für sie hergestellt worden. »Setz dich an meine rechte Seite, Kämpfer«, sagte sie förmlich, sich der vielen Augen bewußt, die auf ihr ruhten. Flußwinds Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsbewegung, obwohl es ein absurder Anblick war, als er versuchte, mit seinem riesigen Körper auf dem scheinbar zerbrechlichen Stuhl Platz zu nehmen. Aber dann lehnte er sich behaglich zurück und lächelte fast ungläubig.

»Danke, daß ihr so lange gewartet habt, bis ich sitze«, sagte Goldmond hastig, um das Zögern der anderen zu überdecken. »Nun könnt ihr Platz nehmen.«

»Oh, es ist alles in Ordnung«, begann Caramon und legte seine Arme über die Brust. »Ich habe nicht gewartet. Ich werde nicht auf diesem komischen Stuhl sitzen...« Sturms Ellbogen bohrte sich tief in Caramons Rippen.

»Edle Dame«, Sturm verbeugte sich und setzte sich mit ritterlicher Würde. »Na schön, wenn er es kann, dann kann ich es erst recht«, murmelte Caramon. Dabei wurde seine Entscheidung durch die Tatsache beschleunigt, daß die Zentauren das Essen brachten. Er half seinem Bruder auf einen Stuhl, setzte sich selbst vorsichtig hin und vergewisserte sich, daß der Stuhl sein Gewicht tragen konnte.

Vier Zentauren stellten sich an die vier Ecken des riesigen Tischtuches. Dann hoben sie das Tuch in Tischhöhe hoch und ließen es los. Das Tuch blieb schwebend in der Luft, seine feinbestickte Oberfläche war genauso hart und stabil wie die Tische im Wirtshaus Zur letzten Bleibe.

»Wie wunderbar! Wie haben sie das gemacht?« rief Tolpan und spähte unter das Tuch. »Da ist nichts!« berichtete er mit großen Augen. Die Zentauren lachten schallend, und selbst der Herr der Wälder lächelte. Dann tischten die Zentauren auf. Dampfendes geröstetes Fleisch erfüllte die Luft mit einem verführerischen rauchigen Duft. Wohlriechende Brote und riesige Holzschalen mit Früchten glitzerten im sanften Lampenlicht. Caramon, der sich nun auf seinem Stuhl sicher fühlte, rieb sich die Hände. Dann grinste er breit und hob seine Gabel. »Ahh!« Er seufzte erwartungsvoll, als ein Zentaur vor ihn eine Platte mit gebratenem Wildfleisch stellte. Caramon stieß die Gabel hinein und schnupperte den Dampf und Duft des Safts ein, die dem Fleisch entströmten. Plötzlich bemerkte er, daß ihn alle anstarrten. Er hielt inne und sah sich um.

»Waaa...?« fragte er blinzelnd. Dann blieben seine Augen auf dem Herrn der Wälder haften. Er errötete und legte schnell die Gabel weg. »Ich... ich... es tut mir leid. Dieser Hirsch muß jemand sein, den du gekannt hast—ich meine—einer deiner Untertanen.«

Der Herr der Wälder lächelte sanft. »Beruhige dich, Krieger«, sprach das Einhorn. »Der Hirsch erfüllt den Zweck seines Lebens, indem er den Jäger mit Nahrung versorgt. Wir betrauern nicht den Verlust derjenigen, deren Schicksal sich erfüllte.« Tanis schien es, daß die dunklen Augen des Herrn der Wälder zu Sturm wanderten, während er sprach, und in ihnen lag eine tiefe Traurigkeit, die das Herz des Halb-Elfen mit kalter Angst erfüllte. Doch dann sah er das herrliche Tier wieder lächeln. »Ich träume mal wieder«, dachte er.

»Wie sollen wir wissen, Herr der Wälder«, fragte Tanis zögernd, »ob das Leben eines Lebewesens sein Schicksal erfüllt hat? Ich habe sehr alte Menschen kennengelernt, die in Bitterkeit und Verzweiflung starben. Ich habe Kinder gesehen, die vor ihrer Zeit starben, aber die ein Vermächtnis der Liebe und der Freude zurückließen, so daß die Trauer über ihr Dahinscheiden durch das Wissen gemildert wurde, daß ihr kurzes Leben anderen sehr viel gegeben hat.« »Du hast deine eigene Frage besser beantwortet, Tanis HalbElf, als ich es hätte tun können«, sagte der Herr der Wälder feierlich. »Indem du sagtest, daß unser Leben nicht am Gewinn gemessen wird, sondern am Geben.«

Der Halb-Elf wollte etwas erwidern, aber der Herr der Wälder kam ihm zuvor. »Lege deine Sorgen jetzt beiseite. Genieße den Frieden meines Waldes, solange er anhält.«

Tanis sah den Herrn der Wälder durchdringend an, aber das wundervolle Tier hatte seine Aufmerksamkeit von ihm abgewandt und starrte nun in den Wald hinein, seine Augen waren sorgenvoll umwölkt. Der Halb-Elf fragte sich, was das wohl bedeuten könnte, und saß in dunklen Gedanken verloren da, bis er eine sanfte Hand spürte.

»Du solltest essen«, sagte Goldmond. »Deine Sorgen werden mit dem Mahl nicht verschwinden - und falls doch, um so besser.« Tanis lächelte sie an und begann mit großem Appetit zu essen. Er nahm den Rat des Herrn der Wälder an und verbannte seine Sorgen für eine Weile. Goldmond hatte recht: Sie würden ihm sowieso bleiben.

Die übrigen Gefährten taten dasselbe und musterten das Seltsame ihrer Umgebung mit dem selbstbewußten Auftreten erfahrener Reisende. Obwohl es nur Wasser zu trinken gab - zu Flints großer Enttäuschung -, wusch die kühle, klare Flüssigkeit das Entsetzen und den Zweifel aus ihren Herzen fort, so wie sie das Blut und den Schmutz von ihren Händen gereinigt hatte. Sie lachten, unterhielten sich, aßen und genossen ihr Zusammensein. Der Herr der Wälder beteiligte sich nicht an den Gesprächen, sondern beobachtete sie nur. Sturms blasses Gesicht hatte wieder Farbe gewonnen. Er aß mit Anmut und Würde. Neben ihm saß Tolpan. Er beantwortete die schier unerschöpflichen Fragen des Kenders über seine Heimat. Unauffällig holte er aus Tolpans Beutel ein Messer und eine Gabel hervor, die auf seltsame Weise ihren Weg dorthin gefunden hatten. Der Ritter saß so weit wie möglich von Caramon entfernt und tat sein Bestes, ihn zu ignorieren. Der riesige Krieger genoß sein Mahl offensichtlich. Er aß dreimal soviel, dreimal so schnell und dreimal so laut wie die anderen. Wenn er nicht gerade aß, beschrieb er Flint einen Kampf mit einem Troll und benutzte dabei einen Knochen als Schwert, um seine Hiebe zu veranschaulichen. Flint aß herzhaft und sagte ihm, daß er der größte Lügner auf Krynn wäre. Raistlin, der neben seinem Bruder saß, aß sehr wenig. Er sagte nichts, sondern hörte nur aufmerksam den anderen zu und nahm alles in sich auf, um es zu speichern und irgendwann einmal darauf zurückgreifen zu können.

Goldmond aß mit vornehmer Anmut. Die Que-Shu-Prinzessin war es gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu speisen und mühelos Konversation zu führen. Sie plauderte mit Tanis, ermunterte ihn, das Elfenland zu beschreiben und andere Orte, die er besucht hatte. Flußwind zeigte sich sehr verlegen und gehemmt. Zwar war er nicht ein so lärmender Esser wie Caramon, aber offensichtlich war er mehr daran gewöhnt, mit anderen Stammesangehörigen am Lagerfeuer und nicht in königlichen Hallen zu essen.

Schließlich schoben alle ihre Teller beiseite und machten es sich in den seltsamen Stühlen bequem. Tolpan sang eines seiner Wanderlieder zum Vergnügen der Zentauren. Dann erhob Raistlin plötzlich seine Stimme. Sein leises Flüstern fuhr durch das Gelächter und das laute Gespräch.

»Herr der Wälder«, zischte der Magier, »heute haben wir gegen abscheuliche Kreaturen gekämpft, die uns noch nie zuvor auf Krynn begegnet sind. Weißt du mehr über sie?«

Mit der entspannten und festlichen Stimmung war es sofort vorbei. Alle tauschten bittere Blicke aus.

»Diese Kreaturen gehen wie Menschen«, fügte Caramon hinzu, »aber sie sehen aus wie Reptilien. Statt Händen und Füßen haben sie Klauen und Flügel, und« - seine Stimme sank -»sie verwandeln sich in Stein, wenn sie sterben.«

Der Herr der Wälder betrachtete sie mit Traurigkeit und erhob sich. Er schien die Frage erwartet zu haben.

»Ich kenne diese Kreaturen«, antwortete er. »Vor einer Woche haben einige von ihnen den Düsterwald zusammen mit Goblins aus Haven betreten. Sie trugen Kapuzen und Umhänge, zweifellos um ihr entsetzliches Aussehen zu verbergen. Die Zentauren folgten ihnen heimlich, um sicherzugehen, daß sie keinen Schaden anrichteten, bevor die Geisterhäscher sich mit ihnen beschäftigten. Sie berichteten mir, daß sich diese Kreaturen als Drakonier bezeichnen und zum Orden von Drako gehören.«

Raistlin runzelte die Stirn. »Drako«, flüsterte er verwirrt. »Aber wer sind sie? Welcher Rasse gehören sie an?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann euch nur sagen: Sie gehören nicht zur Tierwelt und auch zu keiner Rasse auf Krynn.«

Es dauerte einen Moment, bis alle diese Mitteilung verdaut hatten. Caramon blinzelte. »Ich ver...«, begann er.

»Mein Bruder, er meint, daß sie nicht von dieser Welt sind«, erklärte Raistlin ungeduldig.

»Aber woher kommen sie dann?« fragte Caramon verwirrt. »Das ist die Frage, nicht wahr?« sagte Raistlin kalt. »Woher kommen sie – und warum?«

»Das kann ich nicht beantworten.« Der Herr der Wälder schüttelte den Kopf. »Aber bevor meine Geisterarmee diesen Drakoniern ein Ende bereitete, sprachen sie von ›Armeen im Norden‹.«

»Ich habe sie gesehen.« Tanis erhob sich. »Lagerfeuer...« Seine Stimme erstarb, als ihm klar wurde, was der Herr der Wälder gerade gesagt hatte. »Armeen! Von diesen Drakoniern? Es müssen Tausende sein!«

Jetzt standen alle auf und redeten gleichzeitig.

»Unmöglich!« sagte der Ritter finster blickend.

»Wer steht hinter ihnen? Die Sucher? Bei den Göttern«, bellte Caramon. »Ich habe Lust, nach Haven zu gehen und...« »Nicht nach Haven, nach Solamnia«, riet Sturm laut. »Wir sollten nach Qualinost«, argumentierte Tanis. »Die Elfen...« »Die Elfen haben ihre eigenen Probleme«, unterbrach sie der Herr der Wälder, seine kühle Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. »So wie die Sucherfürsten in Haven. Kein Ort ist sicher. Aber ich werde euch sagen, wohin ihr gehen müßt, um Antworten auf eure Fragen zu erhalten.«

»Was meinst du damit, du wirst uns sagen, wohin wir gehen müssen?« Raistlin trat langsam nach vorn. »Was weißt du über uns?« Der Magier hielt inne, seine Augen verengten sich bei einem plötzlichen Gedanken.

»Ja, ich habe euch erwartet«, erwiderte der Herr der Wälder als Antwort auf Raistlins Gedanken. »Ein großes strahlendes Wesen erschien mir heute in der Wildnis. Es sagte mir, daß der Träger des blauen Kristallstabs heute abend den Düsterwald betreten würde. Die Geisterhäscher würden den Träger des Stabes und seine Begleiter passieren lassen - obwohl es seit der Umwälzung Menschen, Elfen, Zwergen und Kendern nicht erlaubt ist, den Düsterwald zu betreten. Diese Botschaft soll ich dem Träger des Stabes übergeben: Er muß direkt über das Ostwall-Gebirge fliegen. In zwei Tagen muß der Stabträger Xak Tsaroth erreicht haben. Dort wird er, falls er sich als würdig erweist, das großartigste Geschenk erhalten, das man der Welt geben kann.«

»Ostwall-Gebirge! Wir müßten fliegen, um Xak Tsaroth in zwei Tagen zu erreichen. Strahlendes Wesen! Hah!« Der Zwerg schnippte verächtlich mit den Fingern.

Die anderen sahen sich unbehaglich an. Schließlich sagte Tanis zögernd: »Ich fürchte, der Zwerg hat recht, Herr der Wälder. Die Reise nach Xak Tsaroth ist lang und gefährlich. Wir müssen durch Länder, von denen wir wissen, daß sich dort Goblins und diese Drakonier aufhalten.«

»Und dann müssen wir die Ebenen passieren.« Flußwind sprach zum ersten Mal seit dem Treffen mit dem Herrn der Wälder. »Wir werden unser Leben verlieren.« Er zeigte auf Goldmond. »Die Que-Shu sind wilde Kämpfer, und sie kennen das Land. Sie sind wachsam. Wir würden niemals sicher durchkommen.« Er sah zu Tanis. »Und mein Volk liebt keine Elfen.«

»Warum überhaupt nach Xak Tsaroth gehen?« polterte Caramon. »Das großartigste Geschenk - was könnte das sein? Ein mächtiges Schwert? Eine Lade mit Kupfermünzen? Das käme zwar recht, aber anscheinend braut sich im Norden eine Schlacht zusammen. Und ich würde sie ungern verpassen.« Der Herr der Wälder nickte ernst. »Ich verstehe eure Sorgen«, sagte er. »Ich biete euch jede Hilfe an, die in meiner Macht steht. Ich werde dafür sorgen, daß ihr Xak Tsaroth in zwei Tagen erreicht. Die Frage ist, wollt ihr überhaupt?« Tanis wandte sich den anderen zu. Sturms Gesicht drückte Unentschiedenheit aus. Er sah Tanis an und seufzte. »Der Hirsch führte uns hierher«, sagte er langsam, »vielleicht damit wir diesen Rat erhalten. Aber mein Herz ist im Norden, in meiner Heimat. Falls Armeen dieser Drakonier einen Angriff vorbereiten, ist mein Platz bei den Rittern, die sich sicherlich verbünden, um dieses Böse zu bekämpfen. Dennoch will ich dich nicht verlassen, Tanis, oder dich, meine Dame.« Er nickte Goldmond zu, dann sackte er zusammen, seine Hände an seinen schmerzenden Kopf pressend.

Caramon zuckte die Achseln. »Ich gehe überallhin und kämpfe gegen alles, Tanis. Das weißt du. Was meinst du, Bruder?« Aber Raistlin starrte in die Dunkelheit und antwortete nicht. Goldmond und Flußwind unterhielten sich leise. Sie nickten sich zu, dann sagte Goldmond zu Tanis: »Wir gehen nach Xak Tsaroth. Wir danken euch für alles, was ihr für uns getan habt...«

»Aber wir wollen nicht länger um die Hilfe anderer bitten«, erklärte Flußwind stolz. »Und so wie wir unsere Suche allein begonnen haben, so werden wir sie auch allein beenden.« »Und ihr werdet allein sterben!« sagte Raistlin leise. Tanis schauderte. »Raistlin«, sagte er, »ich will mit dir allein reden.«

Der Magier verneigte sich gehorsam und ging mit dem HalbElf in ein kleines Dickicht. Dunkelheit umfing sie. »Wie in alten Tagen«, sagte Caramon, dessen Augen seinem Bruder unsicher folgten.

»Und sieh dir diesen ganzen Ärger an, in den wir geraten sind«, erinnerte Flint ihn und ließ sich aufs Gras fallen. »Ich frage mich, worüber sie wohl reden«, sagte Tolpan. Vor langer Zeit hatte der Kender versucht, diese privaten Unterredungen zwischen Magier und Halb-Elf zu belauschen, aber jedesmal hatte Tanis ihn erwischt und verscheucht. »Und warum können sie es nicht mit uns besprechen?«

»Weil wir vermutlich Raistlins Herz herausreißen würden«, antwortete Sturm mit leiser, schmerzerfüllter Stimme. »Es ist mir egal, was du sagst, Caramon, aber in deinem Bruder steckt eine dunkle Seite, und Tanis hat sie gesehen. Dafür bin ich sehr dankbar. Er kann damit umgehen, ich nicht.«

Merkwürdigerweise sagte Caramon nichts. Sturm starrte den Kämpfer verwirrt an. In alten Tagen wäre dieser aufgesprungen, um seinen Bruder zu verteidigen. Jetzt saß er stumm da, mit besorgtem und bestürztem Gesicht. Es gibt also eine dunkle Seite in Raistlin, und Caramon weiß darüber Bescheid. Sturm fragte sich schaudernd, was in den vergangenen fünf Jahren wohl passiert war, daß über den fröhlichen Kämpfer solch ein dunkler Schatten gefallen war.

Raistlin ging dicht neben Tanis. Wie immer fühlte sich Tanis in der Anwesenheit des jungen Magiers unbehaglich. Jedoch gerade jetzt wußte er nicht, wen er sonst hätte um Rat fragen sollen. »Was weißt du über Xak Tsaroth?« fragte Tanis. »Dort stand ein Tempel - ein Tempel zu Ehren der alten Götter«, hauchte Raistlin. Seine Augen glitzerten im unheimlichen Licht des roten Mondes. »Er wurde während der Umwälzung zerstört, und seine Bewohner flohen, sie waren überzeugt, daß die Götter sie verlassen hatten. Der Ort geriet in Vergessenheit. Ich wußte nicht, daß er noch existiert.«

»Was hast du gesehen, Raistlin?« fragte Tanis leise nach einer langen Pause. »Du hast weit weg gesehen - was hast du gesehen?« »Ich bin Magier, Tanis, und kein Seher.«

»Speis mich nicht so ab. Ich weiß, daß du nicht über die Gabe der Voraussicht verfügst. Du hast nachgedacht und nicht mit Hilfe einer Glaskugel gewahrsagt. Und du bist auf Antworten gestoßen. Ich will diese Antworten wissen. Du hast mehr Verstand als wir anderen zusammen, selbst wenn...« Er stockte. »Selbst wenn ich verkrüppelt und verschroben bin.« Raistlins Stimme erhob sich mit barscher Arroganz. »Ja, ich bin klüger als du - als ihr alle. Und eines Tages werde ich euch das beweisen! Eines Tages wirst du – mit all deiner Stärke und deinem Charme und guten Aussehen - du - ihr alle - werdet mich Meister nennen!« Tanis, an diesen Wortschwall gewöhnt, wartete geduldig ab. Der Magier entspannte sich. »Aber jetzt gebe ich dir meinen Rat. Was habe ich gesehen? Diese Armeen, Tanis, Armeen der Drakonier werden Solace und Haven und alle Länder eurer Väter überrennen. Das ist der Grund, warum wir Xak Tsaroth erreichen müssen. Was wir dort finden werden, wird die Untaten dieser Armee beweisen.« »Aber warum diese Armeen?« fragte Tanis. »Was könnte jemand mit der Macht über Solace und Haven und den Ebenen bis zum Osten im Sinn haben? Sind es die Sucher?«

»Sucher! Pah!« schnaubte Raistlin verächtlich. »Öffne deine Augen, Halb-Elf. Jemand oder etwas Mächtiges hat diese Kreaturen geschaffen - diese Drakonier. Nicht die idiotischen Sucher. Und niemand unternimmt diese ganze Anstrengung, um zwei Dörfer einzunehmen oder um einen blauen Kristallstab zu suchen. Dies ist ein Eroberungskrieg, Tanis. Jemand will Ansalon erobern! Innerhalb von zwei Tagen wird dem Leben auf Krynn, so wie wir es kennen, ein Ende bereitet werden. Das bedeutete das Omen der gefallenen Sterne. Die Königin der Finsternis ist zurückgekehrt. Wir stehen einem Widersacher gegenüber, der versucht, uns zumindest zu versklaven, wenn nicht vielleicht völlig zu vernichten.«

»Dein Rat?« fragte Tanis widerwillig. Er spürte eine nahende Veränderung, und wie alle Elfen fürchtete und verabscheute er Veränderungen.

Raistlin lächelte sein verzerrtes, bitteres Lächeln und schwelgte in dem Moment seiner Überlegenheit. »Daß wir unverzüglich nach Xak Tsaroth aufbrechen. Daß wir uns heute abend, wenn möglich, auf den Weg machen mit den Mitteln, die der Herr der Wälder uns zur Verfügung stellen kann. Wenn wir dieses Geschenk nicht innerhalb von zwei Tagen erhalten -werden es die Armeen der Drakonier bekommen.«

»Was für ein Geschenk könnte das nur sein?« fragte sich Tanis laut. »Ein Schwert oder Münzen, wie Caramon meint?«

»Mein Bruder ist ein Dummkopf«, bemerkte Raistlin kalt. »Du glaubst den Unsinn nicht, und ich auch nicht.«

»Was dann?« fragte Tanis weiter.

Raistlins Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich habe dir meinen Rat gegeben. Befolge ihn oder laß es bleiben. Ich habe meine eigenen Gründe, dorthin zu gehen. Laß es dabei bewenden, Halb-Elf. Aber es wird gefährlich werden. Xak Tsaroth wurde vor dreihundert Jahren aufgegeben. Ich glaube nicht, daß es lange verlassen geblieben ist.«

»Das ist wahr«, sinnierte Tanis. »Glaubst du, daß wir auserwählt wurden, Raistlin?« fragte Tanis. Der Magier zögerte nicht. »Ja. So wurde es mir in den Türmen der Erzmagier mitgeteilt. Und auch Par-Salian sagte es mir.« »Aber warum?« fragte Tanis ungeduldig. »Wir sind alle keine Helden - nun, vielleicht Sturm...«

»Ah«, meinte Raistlin. »Aber wer hat uns auserwählt? Und für welchen Zweck? Darüber solltest du dir Gedanken machen!« Der Magier verbeugte sich spöttisch vor Tanis, dann wandte er sich um und ging zu der Gruppe zurück.

Geflügelter Schlaf Rauch im Osten. Dunkle Erinnerungen Xak Tsaroth«, sagte Tanis. »Das ist meine Entscheidung.« »Ist es das, was der Magier rät?« fragte Sturm störrisch. »So ist es«, antwortete Tanis. »Und ich glaube, sein Ratschlag ist vernünftig. Falls wir Xak Tsaroth nicht in zwei Tagen erreichen, werden das andere tun, und dieses ›größte Geschenk wäre wohl für immer verloren.«

»Das größte Geschenk!« sagte Tolpan mit glänzenden Augen. »Denk nur, Flint! Juwelen von unschätzbarem Wert! Oder vielleicht...«

»Ein Humpen Bier und Otiks Bratkartoffeln«, murrte der Zwerg. »Und ein schönes warmes Feuer. Aber nein - Xak Tsaroth!«

»Ich denke, wir sind uns einig«, sagte Tanis. »Wenn du meinst, daß du im Norden gebraucht wirst, Sturm, natürlich...« »Ich gehe mit euch nach Xak Tsaroth.« Sturm seufzte. »Für mich gibt es nichts im Norden. Ich habe mir selber etwas vorgemacht. Die Ritter meines Ordens sind in alle Winde zerstreut, haben sich in bröckelnden Festungen verkrochen und bekämpfen die Gläubiger.«

Das Gesicht des Ritters verzog sich schmerzhaft, und er senkte den Kopf. Tanis fühlte sich plötzlich müde. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Er wollte noch etwas sagen, spürte dann aber eine sanfte Hand seine Schulter berühren. Er sah auf Goldmonds Gesicht, kühl und ruhig im Mondlicht.

»Du bist müde, mein Freund«, sagte sie. »Wir alle sind müde. Aber wir freuen uns, daß du mitkommst. Flußwind und ich.« Sie sah auf, ihr klarer Blick glitt über die ganze Gruppe. »Wir freuen uns, daß ihr alle mitkommt.«

Tanis blickte zu Flußwind, unsicher, ob der hochgewachsene Barbar wirklich derselben Meinung war.

»Auf ein weiteres Abenteuer«, sagte Caramon und errötete verlegen. »He, Raist?« Aber Raistlin ignorierte seinen Zwillingsbruder und sah zum Herrn der Wälder. »Wir müssen sofort aufbrechen«, sagte der Magier kühl. »Du erwähntest deine Hilfe, um das Gebirge zu überqueren.« »In der Tat«, erwiderte der Herr der Wälder und nickte ernst. »Auch ich freue mich über diese Entscheidung. Ich hoffe, ihr begrüßt meine Hilfe.«

Der Herr der Wälder hob den Kopf und sah in den Himmel hinauf. Die Gefährten folgten seinem Blick. Der Nachthimmel schimmerte hell von den Sternen. Bald wurden die Gefährten gewahr, daß oben etwas flog und die Sterne beim Vorbeifliegen ignorierte.

»Ich glaub', ich bin ein Gossenzwerg«, sagte Flint feierlich. »Fliegende Pferde. Und was kommt als nächstes?«

»Oh!« machte Tolpan. Der Kender war vor Erstaunen wie erstarrt, als er die über ihnen kreisenden wunderschönen Tiere sah, die mit jeder Drehung immer tiefer herabstiegen. Ihr Fell strahlte blauweiß im Mondschein. Tolpan klatschte in die Hände. In seinen kühnsten Kenderträumen hatte er sich nicht / das Fliegen vorstellen können. Dies allein war es wert, gegen sämtliche Drakonier auf Krynn zu kämpfen.

Die Pegasi landeten auf dem Boden, ihre Federflügel erzeugten einen Wind, der gegen die Zweige pfiff und das Gras niederdrückte. Ein riesiger Pegasus mit Flügeln, die den Boden berührten, verbeugte sich ehrerbietig vor dem Herrn der Wälder. Sein Gehabe war stolz und edel. Auch die anderen wunderschönen Kreaturen verbeugten sich nacheinander. »Du hast uns gerufen?« fragte der Pegasi-Führer den Herrn der Wälder.

»Diese meine Gäste haben Dringendes im Osten zu erledigen. Ich bitte dich, sie mit der Schnelligkeit der Winde über das Ostwall-Gebirge zu tragen.«

Der Pegasus betrachtete erstaunt die Gefährten. Mit würdevoller Miene stolzierte er zu ihnen und starrte einen nach dem anderen an. Als Tolpan seine Hand hob, um die Nase des Rosses zu streicheln, stellte er beide Ohren hoch und legte seinen riesigen Kopf nach hinten. Aber als er zu Flint kam, schnaufte er voller Abscheu und wandte sich zum Herrn der Wälder: »Ein Kender? Menschen? Und ein Zwerg?«

»Mir brauchst du keinen Gefallen zu erweisen, Pferd!« schnaubte Flint.

Der Herr der Wälder nickte nur und lächelte. Der Pegasus verbeugte sich in widerstrebender Zustimmung. »Nun gut, Herr«, erwiderte er. Mit machtvoller Grazie trabte er zu Goldmond und beugte sein Vorderbein, um ihr das Besteigen zu erleichtern. »Nein, du brauchst nicht zu knien, edles Tier«, sagte sie. »Ich habe Pferde geritten, bevor ich laufen konnte. Ich brauche solche Hilfe nicht.« Sie reichte Flußwind ihren Stab, warf ihren Arm um den Hals des Pegasus und zog sich auf seinen breiten Rücken hoch. Ihr silbriggoldenes Haar flog wie weiße Federn im Mondschein, ihr Gesicht war rein und kalt wie Marmor. Nun sah sie wahrhaftig wie die Prinzessin eines Barbarenstammes aus.

Sie nahm ihren Stab wieder von Flußwind entgegen, hob ihn in die Luft und begann ein Lied zu singen. Fluß wind, dessen Augen vor Bewunderung glänzten, sprang hinter ihr auf den Rücken des geflügelten Pferdes. Er legte seine Arme um sie und begleitete mit seiner tiefen Stimme ihr Lied.

Tanis hatte keine Vorstellung davon, was sie sangen, aber es hörte sich wie ein Lied über Sieg und Triumph an. Es brachte sein Blut in Wallung, und am liebsten hätte er mitgesungen. Ein Pegasus kam auf ihn zu. Er zog sich hoch und machte es sich auf seinem breiten Rücken bequem. Er saß direkt vor den mächtigen Flügeln.

Nun bestiegen alle Gefährten, gefesselt von der Hochstimmung des Moments, die Pegasi. Goldmonds Lied verlieh ihren Seelen Flügel, und die Pegasi breiteten ihrerseits ihre riesigen Flügel aus. Sie stiegen immer höher und kreisten über dem Wald. Der silberne und der rote Mond badeten das Tal unter ihnen und die Wolken über ihnen in einem unheimlichen, wunderschönen purpurnen Glanz, der in tiefviolette Nacht überging. Das letzte, was die Gefährten vom Wald sahen, war der Herr der Wälder, der wie ein vom Himmel gefallener Stern glänzte, allein und verloren auf einem sich verdunkelnden Land.

Die Gefährten fühlten sich nacheinander von einer Schläfrigkeit überwältigt. Tolpan widerstand diesem magischen Schlaf am längsten. Verzaubert durch den Wind, der sein Gesicht umfächelte, und durch die Sicht auf die hohen Bäume, die ihn normalerweise weit überragten und nun auf Kindergröße geschrumpft waren, kämpfte Tolpan lange darum, wach zu bleiben. Flints Kopf ruhte an seiner Schulter. Der Zwerg schnarchte laut. Goldmond lag in Flußwinds Arme geschmiegt. Sein Kopf war über ihre Schulter gesunken. Selbst im Schlaf hielt er sie beschützend fest. Caramon war über dem Hals des Pferdes zusammengesackt und atmete laut. Sein Bruder hatte sich an den breiten Rücken seines Bruders gelehnt. Sturm schlief friedlich, sein Gesicht hatte sich entspannt. Sogar Tanis' bärtiges Gesicht wat frei von Sorgen und Kummer und der Last der Verantwortung. Tolpan gähnte. »Nein«, murmelte er, blinzelte schnell und kniff sich.

»Ruh dich jetzt aus, kleiner Kender«, sagte sein Pegasus amüsiert. »Sterblichen ist es nicht bestimmt zu fliegen. Dieser Schlaf ist zu deinem Schutz. Wir wollen nicht, daß du dich ängstigst und herunterfällst.«

»Werde ich nicht«, protestierte Tolpan und gähnte wieder. Sein Kopf sank nach vorn. Der Hals des Pegasus fühlte sich warm und gemütlich an, das Fell duftete gut und war weich. »Ich werde mich nicht ängstigen«, flüsterte Tolpan schläfrig. »Ich habe nie Angst...« Er schlief ein.

Der Halb-Elf erwachte und erschrak, denn er fand sich auf einer Wiese liegend wieder. Der Führer der Pegasi stand vor ihm und starrte in den Osten. Tanis setzte sich auf. »Wo sind wir?« fragte er. »Hier ist keine Stadt.« Er sah sich um. »Warum - wir haben noch nicht einmal das Gebirge überquert!« »Es tut mir leid.« Der Pegasus drehte sich zu ihm um. »Wir konnten euch nur bis zum Ostwall-Gebirge bringen. Dort im Osten braut sich Böses zusammen. Eine Finsternis erfüllt die Luft, solch eine Dunkelheit habe ich noch nie auf Krynn erlebt seit unzähligen...« Er stockte, beugte seinen Kopf und scharrte unruhig auf dem Boden. »Ich wage nicht weiterzufliegen.« »Wo sind wir?« wiederholte der verwirrte Halb-Elf. »Und wo sind die anderen Pegasi?«

»Ich habe sie nach Hause geschickt. Ich blieb hier, um euren Schlaf zu bewachen. Da du jetzt wach geworden bist, muß auch ich umkehren.« Der Pegasus blickte Tanis ernst an. »Ich weiß nicht, wie dieses große Böse auf Krynn zum Leben erwacht ist. Ich hoffe, du und deine Gefährten habt damit nichts zu tun.«

Er breitete seine riesigen Flügel aus.

»Warte!« Tanis erhob sich. »Was...«

Der Pegasus erhob sich in die Lüfte, kreiste zweimal über ihnen und war verschwunden. »Welches Böse?« fragte Tanis dumpf. Er seufzte und sah sich wieder um. Seine Gefährten schliefen noch friedlich. Er betrachtete den Horizont und versuchte, sich zu orientieren. Es war kurz vor der Morgendämmerung. Das Sonnenlicht schickte sich an, den Osten zu erhellen. Er stand auf einer flachen Ebene. Kein Baum wuchs in Sichtweite, nichts als weite Steppe.

Tanis setzte sich wieder, um den Sonnenaufgang zu beobachten und auf das Erwachen seiner Freunde zu warten. Er war nicht besonders besorgt, denn er vermutete, daß Flußwind das Land kennen würde. Er streckte sich aus, das Gesicht nach Osten gewandt. Nach diesem seltsamen Schlaf fühlte er sich erfrischter als manche Nacht vorher. Plötzlich setzte er sich aufrecht, sein entspanntes Gefühl war verschwunden, eine unsichtbare Hand schien ihm plötzlich die Kehle zuzudrücken. Denn dort, wo die Sonne aufging, schlängelten sich drei dichte, schmierige schwarze Rauchwolken empor. Tanis stolperte auf die Füße. Er lief zu Flußwind und schüttelte ihn sanft, um Goldmond nicht zu stören.

»Psst«, flüsterte Tanis, legte einen Finger warnend auf die Lippen und nickte zu der schlafenden Frau hin, als Flußwind ihn anblinzelte. Als er Tanis' besorgte Miene sah, war der Barbar sofort wach. Er erhob sich leise, ging mit Tanis weg und sah ihn an.

»Was ist los?« wisperte er. »Wir sind in den Ebenen von Abanasinia. Fast eine halbe Tagesreise vom Ostwall-Gebirge entfernt. Mein Dorf liegt im Osten...«

Er verstummte, als Tanis schweigend nach Osten zeigte. Dann stieß er einen flachen rauhen Schrei aus, als er den sich im Himmel windenden Rauch erblickte. Goldmond erwachte von einem Moment auf den anderen. Sie saß auf und sah Fluß wind verschlafen, dann mit wachsender Besorgnis an. Sie folgte seinem entsetzten Blick. »Nein«, stammelte sie. »Nein!« schrie sie. Sie erhob sich schnell und sammelte ihr Gepäck zusammen. Die anderen waren durch ihren Schrei wach geworden. »Was ist los?« Caramon sprang auf.

»Ihr Dorf«, sagte Tanis leise und zeigte mit seiner Hand. »Es brennt. Anscheinend sind die Soldaten schneller, als wir angenommen haben.« »Nein«, sagte Raistlin. »Erinnere dich - diese Drakonier haben erwähnt, daß sie den Stab bis zu einem Dorf in den Ebenen verfolgt haben.«

»Mein Volk«, murmelte Goldmond. Sie sackte in Flußwinds Armen zusammen und starrte auf den Rauch. »Mein Vater...« »Wir sollten hier lieber verschwinden.« Caramon sah sich beunruhigt um. »Wir heben uns hier ab wie ein Juwel am Nabel einer Zigeunerin.«

»Ja«, sagte Tanis. »Wir müssen hier unbedingt weg. Aber wohin sollen wir gehen?« fragte er Flußwind.

»Que-Shu«, Goldmonds Stimme erlaubte keinen Einspruch. »Es liegt auf unserem Weg. Das Ostwall-Gebirge liegt direkt hinter meinem Dorf.« Sie begann durch das hohe Gras zu stapfen. Tanis blickte zu Flußwind.

»Marulina!« rief der Barbar ihr nach. Er folgte ihr und griff nach ihrem Arm. »Nikh pat-takh merilar!« sagte er streng. Sie starrte zu ihm hoch, ihre Augen waren so blau und so kalt wie der Morgenhimmel. »Nein«, sagte sie resolut, »ich gehe zu unserem Dorf. Es ist unsere Schuld, wenn dort etwas passiert. Es ist mir egal, ob da Tausende von diesen Ungeheuern warten. Ich will mit unserem Volk sterben, so wie es meine Pflicht ist.« Ihre Stimme erstarb. Tanis' Herz schmerzte vor Mitgefühl. Flußwind legte seinen Arm um sie, und zusammen gingen sie der aufsteigenden Sonne entgegen.

Caramon räusperte sich. »Ich hoffe, daß ich Tausende von diesen Dingern treffe«, brummte er und hob sein Gepäck und das seines Bruders hoch. »He«, sagte er erstaunt. »Sie sind schwer.« Er blickte in seinen Rucksack. »Proviant. Für mehrere Tage. Und mein Schwert ist wieder da!«

»Zumindest brauchen wir uns über eine Sache keine Sorgen zu machen«, sagte Tanis düster. »Wie geht es dir, Sturm?« »Gut«, antwortete der Ritter. »Nach diesem Schlaf geht es mir sehr viel besser.«

»Dann laßt uns aufbrechen. Flint, wo ist Tolpan?« Als Tanis sich umdrehte, wäre er fast über den Kender gestolpert, der direkt hinter ihm stand. »Arme Goldmond«, sagte Tolpan leise. Tanis klopfte ihm auf die Schulter. »Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie wir befürchten«, sagte der Halb-Elf und folgte den Barbaren durch das hohe Gras. »Vielleicht haben die Barbaren sie besiegt, und es sind Siegesfeuer.«

Tolpan seufzte und sah zu Tanis hoch. »Du bist ein verdammter Lügner, Tanis«, sagte der Kender. Er hatte das Gefühl, daß der Tag sehr lang werden würde.

Dämmerung. Ein fahler Sonnenuntergang. Gelbe und braune Strahlen überzogen den Himmel und versanken dann in einer trüben Nacht. Die Gefährten saßen um ein Feuer gekauert, das keine Wärme bot, denn auf Krynn gab es keine Flamme, die die Kälte aus ihren Seelen hätte nehmen können. Sie sprachen nicht miteinander, sondern starrten nur ins Feuer und versuchten sich einen Reim auf das zu machen, was sie gesehen hatten, versuchten, im Sinnlosen einen Sinn zu finden.

Tanis hatte in seinem Leben schon viel Schreckliches erlebt. Aber das verwüstete Dorf Que-Shu würde in seinen Erinnerungen immer das Symbol des Kriegsgrauens bleiben. Aber wenn er versuchte, die Bilder von Que-Shu heraufzubeschwören, so waren es immer nur flüchtige Bilderfetzen – sein Geist weigerte sich, das schreckliche Erlebnis von neuem vor seinen Augen erstehen zu lassen. Seltsam genug, daß er sich an die geschmolzenen Steine in Que-Shu erinnerte, und merkwürdigerweise sogar sehr lebhaft. Nur in seinen Träumen sah er die verkrümmten und geschwärzten Körper, die neben den rauchenden Steinen lagen.

Die riesigen Steinmauern, die Steintempel und Steingebäude, die geräumigen Steinhäuser mit ihren Felshöfen und ihren Skulpturen, die große Steinarena – alles war geschmolzen wie Butter an einem heißen Sommertag. Die Steine glühten noch, obwohl das Dorf offensichtlich schon einige Tage zuvor angegriffen worden war. Aber welches Feuer auf Krynn konnte Stein zum Schmelzen bringen?

Er erinnerte sich an ein knarrendes Geräusch, das er gehört und das ihn verwirrt hatte. Er hatte sich gefragt, was es sein konnte. Bis er dann die Ursache dieses einzigen Geräusches in dem totenstillen Dorf ausmachen konnte. Er rannte durch das zerstörte Dorf, bis er es sah. Er erinnerte sich, die anderen gerufen zu haben, bis sie schließlich gekommen waren. Sie starrten auf die geschmolzene Arena.

Riesige Steinblöcke hatten sich aus den Seiten der schüsselförmigen Vertiefung gelöst und bildeten geschmolzene Felswellen auf dem Boden der Arena. In der Mitte - auf dem schwarzverkohlten Gras - stand ein einfacher Galgen. Zwei stabile Pfosten mußten mit unvorstellbarer Kraft in den verbrannten Boden gerammt worden sein. Fünfzehn Meter über dem Gras war ein Querbalken durch die beiden Pfosten gezogen. Das Holz war verkohlt und blasig. Obenauf hockten Aasgeier. Drei Ketten schwangen hin und her. Das war der Grund des knarrenden Geräusches. An jeder Kette schaukelte, an den Füßen aufgehängt, ein Leichnam. Die Körper waren nicht menschlich, es waren Hobgoblin. Über den Querbalken war jeweils ein Brustpanzer mit einer zerbrochenen Schwertklinge befestigt. Auf diesen zerdellten Panzern waren in der Umgangssprache ungeschickt Worte gemeißelt. »Das geschieht mit denen, die gegen meinen Befehl Gefangene nehmen. Töten oder getötet werden.« Das Ganze war mit Verminaard unterzeichnet.

Verminaard. Der Name sagte Tanis nichts.

Andere Bilder. Er erinnerte sich an Goldmond, die mitten im zerstörten Haus ihres Vaters stand und versuchte, Scherben einer zerbrochenen Vase wieder zusammenzusetzen. Er erinnerte sich an einen Hund – das einzige lebendige Wesen, das sie im ganzen Dorf fanden -, an den Körper eines toten Kindes geschmiegt. Caramon hielt an, um den kleinen Hund zu streicheln. Das Tier schreckte zurück und leckte dann die Hand des Mannes. Dann leckte es über das kalte Gesicht des toten Kindes und sah hoffnungsvoll zum Krieger auf, als erwartete es, daß dieser Mensch alles wieder in Ordnung bringen würde, daß sein kleiner Spielgefährte wieder laufen und lachen würde. Er erinnerte sich, daß Caramon das weiche Fell des Hundes sanft gestreichelt hatte...

Flußwind, der einen Stein aufhob, ihn krampfhaft festhielt und dann auf sein verbranntes und vernichtetes Dorf starrte. Bilder von Sturm, wie er gelähmt vor dem Galgen stand und auf das Zeichen starrte... seine Lippen, die sich wie im Gebet oder im stummen Gelübde bewegten...

Das vor Leid zerfurchte Gesicht des Zwerges, der in seinem langen Leben soviel Tragisches gesehen und erlebt hatte; der mitten im verwüsteten Dorf stand und sanft Tolpans Rücken streichelte, nachdem er den Kender schluchzend in einer Ecke aufgelesen hatte...

Goldmonds hektische Suche nach Überlebenden. Sie kroch auf den geschwärzten Steinen, rief Namen, lauschte auf Antworten, bis sie heiser wurde und Fluß wind sie schließlich überzeugte, daß es hoffnungslos war. Falls es Überlebende gegeben hatte, waren sie längst geflohen...

Er selbst, Tanis, allein mitten im Dorf und auf Staubhaufen mit Pfeilspitzen schauend, die er dann als Drakonierkörper erkannte ... Die kalte Hand, die seinen Arm berührte... die flüsternde Stimme des Magiers.

»Tanis, wir müssen gehen. Hier können wir nichts mehr tun, und wir müssen Xak Tsaroth erreichen. Dort werden wir unsere Vergeltung haben.«

Und so hatten sie Que-Shu verlassen. Sie waren bis spät in die Nacht gewandert, keiner von ihnen hatte anhalten wollen, jeder wollte seinen Körper zur völligen Erschöpfung bringen, um den Schreckensträumen eines leichten Schlafs zu entgehen. Aber die Träume kamen trotzdem.

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