Als Tanis den Wald betrat, empfand er nur eine tiefe Erleichterung, der brennenden Herbstsonne entkommen zu sein. Der Halb-Elf rief sich alle Legenden ins Gedächtnis, die er über den Düsterwald gehört hatte - Geistergeschichten, die nachts am Feuer erzählt wurden -, und Raistlins böse Vorahnung. Aber Tanis fand nur, daß er noch nie zuvor einen solch lebendigen Wald betreten hatte.
Kein tödliches Schweigen, wie sie es zuvor erlebt hatten. Kleine Tiere raschelten im Gebüsch, Vögel flatterten in den hohen Zweigen über ihnen. Insekten mit fröhlich schwirrenden bunten Flügeln huschten vorbei. Blätter rauschten und regten sich, Blumen wiegten sich, obwohl keine Brise sie berührte – als ob die Pflanzen ihr Leben in vollen Zügen genossen. Alle Gefährten hatten den Wald mit gezogenen Waffen betreten, vorsichtig und wachsam und argwöhnisch. Nachdem sie eine Zeitlang versucht hatten, sich lautlos durch das Laub zu bewegen, meinte Tolpan, es wäre »irgendwie dämlich«, und sie entspannten sich – alle außer Raistlin.
Sie gingen mehr als zwei Stunden weiter. Der Pfad war gut geebnet und zeichnete sich deutlich ab. Die Schatten verlängerten sich, als die Sonne allmählich tiefer glitt. Tanis fühlte sich in diesem Wald wohl. Er hatte keine Angst, daß diese schrecklichen geflügelten Kreaturen ihnen hierher folgen würden. Das Böse schien hier nicht zu wohnen, außer, wie Raistlin sagte, wenn man seine eigene Bösartigkeit in den Wald brachte. Tanis sah zum Magier. Raistlin ging allein, mit gesenktem Kopf. Die Schatten der Bäume schienen sich dicht um den jungen Magier zu sammeln. Tanis schauderte plötzlich und stellte fest, daß die Luft kühl wurde. Es war Zeit, sich über ein Nachtlager Gedanken zu machen.
Tanis zog Tolpans Karte hervor und studierte sie, bevor das Tageslicht verschwand. Die Karte war nach Elfenart angefertigt, und über dem Wald stand in schwungvollen Schriftzügen: Düsterwald. Aber der Wald selbst war nur vage umrissen, und Tanis konnte nicht sicher erkennen, ob die Worte sich auf diesen Wald bezogen oder auf einen anderen weiter südlich. Raistlin muß sich irren, entschied Tanis - dies kann nicht der Düsterwald sein. Oder falls doch, dann ist seine Bösartigkeit einfach ein Produkt der Phantasie des Magiers. Sie wanderten weiter, in die Dämmerung, jene Zeit am Abend, in der das sterbende Licht alles höchst lebendig und ausgeprägt erscheinen läßt. Die Gefährten waren erschöpft. Raistlin humpelte, und sein Atem ging in pfeifenden Zügen. Sturms Gesicht wurde aschgrau. Der Halb-Elf wollte gerade zur Rast für die Nacht aufrufen, als der Pfad sie direkt zu einer weiten, grünen Lichtung führte. Klares Wasser sprudelte aus dem Boden und tröpfelte einen glatten Felsen hinab, so einen seichten Bach formend. Die Lichtung war mit dichtem, einladendem Gras ausgelegt; hohe Bäume hielten am Rand Wache. In diesem Moment rötete sich das Sonnenlicht, verblaßte dann, und die dunstigen Schatten der Nacht krochen um die Bäume.
»Weicht nicht vom Pfad ab«, riet Raistlin, als die Gefährten auf die Lichtung zusteuern wollten.
Tanis seufzte. »Raistlin«, sagte er geduldig, »es ist alles in Ordnung. Der Pfad ist gut sichtbar - und nicht einmal zehn Meter entfernt. Komm schon. Du mußt dich ausruhen. Das müssen wir alle. Schau...« – Tanis hielt die Karte hoch – »ich glaube nicht, daß dies der Düsterwald ist. Nach der...«
Raistlin ignorierte die Karte verächtlich. Die anderen ignorierten den Magier, verließen den Pfad und begannen ein Lager aufzubauen. Sturm sank gegen einen Baum, seine Augen vor Schmerzen geschlossen, während Caramon mit hungrigen Augen auf die kleineren flüchtenden Schatten starrte. Auf ein Zeichen von Caramon schlüpfte Tolpan in den Wald, auf der Suche nach Holz für ein Feuer.
Raistlins Gesicht verzog sich zu einem bösen Lächeln. »Ihr seid alle Dummköpfe. Dies ist der Düsterwald, ihr werdet es erleben, noch bevor die Nacht endet.« Er zuckte die Schultern. »Aber, wie du schon sagst, ich muß mich ausruhen. Jedoch werde ich nicht den Pfad verlassen.« Raistlin ließ sich auf dem Weg nieder, sein Stab lag neben ihm.
Caramon errötete verlegen, als er die anderen amüsierte Blicke austauschen sah. »He, Raist«, rief er, »komm zu uns. Tolpan sucht Holz, und ich kann vielleicht einen Hasen erlegen.« »Erlege nichts!« Raistlin brachte nur noch ein Wispern hervor, das alle aufschreckte. »Richte keinen Schaden an im Düsterwald! Weder Pflanze noch Baum, Vogel oder Tier!« »Ich meine, Raistlin hat recht«, sagte Tanis. »Wir müssen hier die Nacht verbringen, und ich will kein Tier in diesem Wald töten, wenn es nicht unbedingt sein muß.«
»Elfen wollen niemals töten«, murrte Flint. »Der Magier ängstigt uns zu Tode, und du läßt uns verhungern. Nun, falls uus heute nacht etwas angreift, hoffe ich, daß es etwas Eßbares ist!«
»Das hoffe ich auch, Zwerg.« Caramon seufzte schwer und ging zum Bach, um seinen Hunger zu ertränken.
Tolpan kehrte mit Brennholz zurück. »Ich habe es nicht geschnitten«, versicherte er Raistlin. »Ich habe es nur aufgehoben.« Aber selbst Flußwind brachte das Holz nicht zum Brennen. »Das Holz ist feucht«, erklärte er schließlich.
»Wir brauchen Licht«, sagte Flint unsicher, als die nächtlichen Schatten immer dichter wurden. Die Geräusche im Gehölz, die am Tage unschuldig waren, schienen nun böse und bedrohlich. »Du fürchtest dich doch nicht etwa vor Kindergeschichten«, zischte Raistlin.
»Nein!« schnappte der Zwerg. »Ich will nur sicherstellen, daß der Kender in der Dunkelheit meinen Rucksack nicht ausplündert.« »Nun gut«, sagte Raistlin mit ungewohnter Milde. Er sprach einen Befehl: »Shirak.« Ein blasses weißes Licht strahlte vom Kristall an der Spitze seines Stabes. Es war ein gespenstisches Licht, und es konnte wenig in der Dunkelheit ausrichten, in der Tat schien es das Bedrohliche der Nacht nur zu verstärken. »Da hast du Licht«, hauchte der Magier sanft. Er steckte den Stab in den feuchten Boden.
Im selben Moment stellte Tanis fest, daß seine Elfensicht verschwunden war. Er hätte die warmen roten Umrisse seiner Gefährten sehen müssen, aber sie waren nicht mehr als dunkle Schatten, die sich von der Dunkelheit der Lichtung abhoben. Der Halb-Elf sagte den anderen nichts, aber das friedliche Gefühl, das er zuvor genossen hatte, war von einem Splitter der Angst durchbohrt.
»Ich werde die erste Wache übernehmen«, bot Sturm an. »Mit dieser Kopfwunde sollte ich sowieso nicht schlafen. Ich kannte mal einen Mann, der damit geschlafen hat - er ist nicht mehr aufgewacht.«
»Wir werden zu zweit Wache halten«, sagte Tanis. »Die erste übernehmen wir beide.«
Die anderen öffneten ihre Rucksäcke und bereiteten ihr Lager auf dem Gras, alle außer Raistlin. Er blieb auf dem Weg sitzen, das Licht seines Stabs schien auf seinen gebeugten Kopf. Sturm machte es sich neben einem Baum bequem. Tanis ging zur Quelle und trank gierig. Plötzlich vernahm er hinter sich einen unterdrückten Schrei. Er zog sein Schwert und stand wie erstarrt. Die anderen hatten auch ihre Waffen gezogen. Nur Raistlin saß bewegungslos da.
»Legt eure Schwerter weg«, sagte er. »Sie werden euch nichts nützen. Nur eine Waffe mit einer mächtigen Magie kann da etwas ausrichten.«
Sie wurden von einer Armee von Kriegern umzingelt. Dies allein hätte schon ausgereicht, das Blut gefrieren zu lassen. Aber damit wären die Gefährten noch fertig geworden. Womit sie nicht umgehen konnten, war das Grauen, das sie überwältigte und ihre Sinne betäubte. Alle erinnerten sich an Caramons Ausspruch: »Ich kämpfe jeden Tag mit Lebenden, wenn es sein muß - aber nicht mit den Toten!«
Diese Krieger waren tot.
Nicht mehr als ein flüchtiges, zerbrechliches weißes Licht umriß ihre Gestalten. Es war, als ob ihre menschliche Wärme nach dem Tod immer noch an ihnen haftete. Das Fleisch war verfault und ließ nur noch eine Vorstellung des Körpers zurück. Jeder Kämpfer war in eine uralte, unvergessene Rüstung gekleidet. Jeder Kämpfer trug Waffen. Aber die Toten brauchten keine Waffen. Die Angst, die sie auslösten, oder die Berührung ihrer grabeskalten Hände reichte schon, Tod zu bringen.
Wie können wir gegen diese Wesen kämpfen? dachte Tanis verzweifelt. Niemals hatte er vor Feinden aus Fleisch und Blut Angst empfunden. Panik überfiel ihn, und er überlegte, den anderen zuzuschreien, sich umzudrehen und wegzulaufen. Wütend zwang sich der Halb-Elf, die Ruhe zu bewahren, sich der Wirklichkeit zu stellen. Wirklichkeit! Fast mußte er über diese Ironie lachen. Weglaufen war sinnlos: sie würden sich verirren, verlorengehen. Sie mußten bleiben und damit fertig werden – irgendwie. Er begann, auf die gespenstischen Kämpfer zuzugehen. Die Toten sagten nichts, machten keine bedrohlichen Bewegungen. Sie standen einfach da und versperrten den Weg. Es war unmöglich, sie zu zählen. Außerdem war es egal, dachte sich Tanis. Einer dieser untoten Kämpfer konnte sie alle mit einer Handbewegung töten. Als der Halb-Elf sich den Kämpfern näherte, sah er ein Licht glühen – Raistlins Stab. Der Magier stand vor den Gefährten. Tanis stellte sich neben ihn. Das blasse Kristallicht spiegelte sich im Gesicht des Magiers wider und ließ es fast genauso gespenstisch erscheinen wie die Gesichter der Toten. »Willkommen im Düsterwald, Tanis«, sagte der Magier. »Raistlin...« Tanis würgte. Er mußte mehr als einmal ansetzen, aus seiner ausgetrockneten Kehle einen Ton hervorzubringen. »Was sind das...«
»Geisterhäscher«, flüsterte der Magier, ohne seine Augen von ihnen zu nehmen. »Wir haben Glück.«
»Glück?« wiederholte Tanis ungläubig. »Warum?«
»Es sind die Geister von Menschen, die sich verpflichtet hatten, eine Aufgabe zu erfüllen. Sie versagten dabei, und nun ist es ihr Schicksal, diese Aufgabe immer wieder auszuführen, bis sie freikommen und endlich Ruhe im Tod finden.«
»Und warum, im Namen der Hölle, haben wir Glück?« wisperte Tanis barsch; seine Angst ging in Wut über. »Vielleicht haben sie sich verpflichtet, den Wald von allen Eindringlingen freizuhalten!«
»Das ist möglich« - Raistlin warf dem Halb-Elf einen kurzen Blick zu -, »obwohl ich es nicht für wahrscheinlich halte. Wir werden es herausfinden.«
Bevor Tanis reagieren konnte, ging der Magier von der Gruppe weg und stellte sich vor die Geister.
»Raist!« sagte Caramon mit erstickter Stimme und wollte sich nach vorn schieben.
»Halt ihn zurück, Tanis«, befahl Raistlin rauh. »Unser Leben hängt davon ab.«
Tanis hielt den Krieger am Arm fest und fragte Raistlin: »Was hast du vor?«
»Ich werde sie verzaubern, damit wir mit ihnen reden können. Ich werde ihre Gedanken aufnehmen, so daß sie durch mich sprechen.«
Der Magier warf seinen Kopf zurück, seine Kapuze fiel nach hinten. Er streckte seine Arme aus und begann zu sprechen: »Ast bilak parbilakar. Suh tangus moipar?« Dies wiederholte er dreimal. Während Raistlin sprach, hatten sich die Kämpfer aufgeteilt, und eine Gestalt, noch ehrfurchtgebietender und erschreckender als die anderen, trat vor. Der Geist war größer als die übrigen und trug eine schimmernde Krone. Seine glänzende Rüstung war mit dunklen Juwelen reich verziert. Sein Gesicht zeigte furchtbare Trauer und Qual. Er kam Raistlin näher. Caramon würgte und wandte seine Augen ab. Tanis wagte nicht zu sprechen oder einen Schrei auszustoßen aus Angst, den Magier zu stören und den Zauber zu brechen. Der Geist erhob eine fleischlose Hand und streckte sie langsam aus, um den jungen Magier zu berühren. Tanis zitterte- die Berührung des Geistes bedeutete den sicheren Tod. Aber Raistlin, in Trance versetzt, bewegte sich nicht. Tanis fragte sich, ob er überhaupt die eisige Hand auf sein Herz zukommen sah. Dann sprach Raistlin.
»Du, der schon seit langem tot ist, benutze meine lebende Stimme, um uns dein bitteres Leid zu erzählen. Dann gib uns die Einwilligung, diesen Wald zu passieren, denn unsere Absicht ist nicht böse, und das wirst du erkennen, wenn du in unseren Herzen liest.«
Die Geisterhand hielt abrupt inne. Die augenlosen Höhlen ergründeten Raistlins Gesicht. Dann verbeugte sich der Geist vor dem Magier. Tanis hielt den Atem an: er hatte Raistlins Macht geahnt, aber dies...!
Raistlin erwiderte die Verbeugung, dann stellte er sich neben den Geist. Sein Gesicht war fast genauso blaß wie das der gespenstischen Gestalt. Der lebende Tote und der tote Lebende, dachte Tanis schaudernd.
Als Raistlin sprach, klang seine Stimme nicht mehr pfeifend und flüsternd. Sie war tief und dunkel und befehlend und tönte durch den Wald. Sie war kalt und hohl und hätte aus dem Boden kommen können. »Wer seid ihr, die ihr den Düsterwald widerrechtlich betretet?«
Tanis versuchte zu antworten, aber seine Kehle war völlig trocken. Caramon, der neben ihm stand, war unfähig, seinen Kopf zu heben. Dann spürte Tanis an seiner Seite eine Bewegung. Der Kender! Er fluchte stumm und versuchte, Tolpan festzuhalten, aber es war zu spät. Die kleine Figur rannte auf das Licht von Raistlins Stab zu und stellte sich vor den Geist. Tolpan verbeugte sich ehrerbietig. »Ich bin Tolpan Barfuß«, stellte er sich vor. »Meine Freunde« - er winkte mit seiner kleinen Hand zu der Gruppe – »nennen mich Tolpan. Wer bist du?«
»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte die Grabesstimme. »Du brauchst nur zu wissen, daß wir Kämpfer einer längst vergessenen Zeit sind.« »Stimmt es, daß ihr ein Gelübde gebrochen habt und darum hier seid?« fragte Tolpan interessiert.
»Das ist wahr. Wir gelobten, dieses Land zu bewachen. Dann stürzte der Feuerberg vom Himmel. Das Land wurde auseinandergerissen. Böse Dinge krochen aus den Gedärmen der Erde hervor, und wir ließen unsere Schwerter fallen und flüchteten vor dem Grauen, bis wir ein bitteres Ende fanden. Wir müssen nun unseren Schwur erfüllen, sobald das Böse wieder in dieses Land fällt. Und hier werden wir bleiben, bis das Böse wieder zurückgetrieben und das Gleichgewicht wiederhergestellt ist.« Plötzlich stieß Raistlin einen Schrei aus und warf seinen Kopf zurück, seine Augen verdrehten sich, bis die Gefährten nur noch das Weiße erkennen konnten. Aus seiner Stimme wurden tausend Stimmen, die gleichzeitig schrien. Dies verunsicherte sogar den Kender, der einen Schritt zurücktrat und unbehaglich nach Tanis Ausschau hielt.
Der Geist erhob befehlend seine Hand, und der Aufruhr verebbte, als wäre er durch die Dunkelheit verschluckt worden. »Meine Männer verlangen den Grund zu erfahren, warum ihr den Düsterwald betreten habt. Wenn es aus bösen Absichten geschah, werdet ihr feststellen, daß ihr das Böse selbst über euch gebracht habt, denn ihr werdet nicht mehr leben, um den Mond aufgehen zu sehen.«
»Nein, nichts Böses. Bestimmt nicht«, sagte Tolpan hastig. »Es ist eine lange Geschichte. Aber da wir es nicht eilig haben und du offenbar auch nicht, werde ich sie dir erzählen.
Es fing alles im Wirtshaus Zur letzten Bleibe in Solace an. Du kennst es wahrscheinlich nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie lange es schon besteht, aber bestimmt noch nicht während der Umwälzung, und es hört sich an, als ob du in jener Zeit gelebt hast. Nun, da waren wir also und hörten dem alten Mann zu, der Geschichten von Huma erzählte, und er - der alte Mann, nicht Huma – bat Goldmond, ein Lied zu singen. Sie sang also, und ein Sucher entschloß sich, als Musikkritiker aufzutreten, und Flußwind - das ist der große Mann da drüben schubste den Sucher ins Feuer. Es war ein Unfall - er wollte es nicht. Aber der Sucher lief wie eine Fackel umher! Das hättest du sehen sollen! Egal, der alte Mann gab mir den Stab und sagte, ich solle ihn damit schlagen. Das tat ich, und am Stab leuchtete auf einmal ein blauer Kristall, und die Flammen erloschen und...«
»Blauer Kristall!« Die Geisterstimme echote hohl aus Raistlins Kehle, als er auf Tolpan zuging. Tanis und Sturm sprangen vor, ergriffen Tolpan und zogen ihn aus dem Weg. Aber der Geist schien nur die Gruppe aufmerksam prüfen zu wollen. Seine flackernden Augen blieben an Goldmond hängen. Er hob eine blasse Hand und winkte sie zu sich.
»Nein!« Fluß wind versuchte, sie zurückzuhalten, aber sie schob ihn sanft weg und ging zu dem Geist mit dem Stab in ihrer Hand. Die Geisterarmee umzingelte sie.
Plötzlich zog der Geist sein Schwert aus der glänzenden Scheide. Er hielt es hoch über seinen Kopf, und weißes Licht vermischte sich mit der blauen Flamme, die von der Klinge aufflackerte.
»Sieh auf den Stab!« keuchte Goldmond.
Der Stab glühte blaßblau, als würde er dem Schwert antworten. Der Geisterkönig wandte sich an Raistlin und streckte seine blasse Hand nach dem entrückten Magier aus. Caramon bellte heiser auf und befreite sich aus Tanis' Griff. Er zog sein Schwert und machte einen Satz auf den untoten Kämpfer. Die Klinge durchbohrte den schimmernden Körper, aber es war Caramon, der vor Schmerzen schrie und sich krümmend zu Boden stürzte. Tanis und Sturm knieten neben ihm. Raistlin starrte vor sich hin, sein Gesichtsausdruck war unverändert, bewegungslos.
»Caramon, wo...«, Tanis versuchte hektisch, die Verletzung des Mannes zu finden.
»Meine Hand!« Caramon wand sich schluchzend hin und her, seine linke Hand - seine Schwerthand - steckte fest unter seinem rechten Arm.
»Was ist los?« fragte Tanis. Dann sah er das Schwert des Kämpfers und wußte: Caramons Schwert war mit Eis bedeckt. Tanis sah entsetzt auf: Die Geisterhand hatte sich um Raistlins Handgelenk geklammert. Ein Schaudern peinigte den zerbrechlichen Körper des Magiers; sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, aber er fiel nicht. Er hielt die Augen geschlossen, die zynischen und bitteren Züge waren geglättet, und der Frieden des Todes überfiel ihn. Tanis sah in Ehrfurcht zu, nahm nur wie von fern Caramons heisere Schreie wahr. Wieder verwandelte sich Raistlins Gesicht, dieses Mal von Ekstase durchdrungen. Die mächtige Ausstrahlung des Magiers verstärkte sich, bis sie mit einer aurahaften Helligkeit um ihn glühte.
»Wir sind vorgeladen«, sagte Raistlin. Er sprach nun mit seiner eigenen Stimme, und dennoch kam sie Tanis sehr fremd vor. »Wir müssen gehen.«
Der Magier wandte ihnen den Rücken zu und ging in den Wald, die fleischlose Hand des Geisterkönigs hielt ihn immer noch am Handgelenk. Der Kreis der Untoten teilte sich, um ihn durchzulassen.
»Haltet sie auf«, stöhnte Caramon. Schwankend erhob er sich. »Das können wir nicht!« Tanis schlug auf ihn ein, um ihn zurückzuhalten, und schließlich brach der Kämpfer in den Armen des Halb-Elfs zusammen und weinte wie ein Kind. »Wir werden ihm folgen. Mit ihm ist alles in Ordnung. Er ist Magier, Caramon – wir können es nicht verstehen. Wir folgen nur...«
Die Augenhöhlen der Untoten schimmerten in einem scheußlichen Licht, als sie die Kameraden beobachteten, die an ihnen vorüberschritten. Hinter ihnen schlössen sich die Reihen der Geisterarmee.
Die Gefährten betraten ein Schlachtfeld. Stahl klirrte; verwundete Männer schrien um Hilfe. Der Kampf der Soldaten in der Dunkelheit war so real, daß Sturm instinktiv sein Schwert zog. Der Tumult betäubte ihn; er duckte sich und wich Schlägen aus, von denen er meinte, daß sie auf ihn gerichtet waren. Er schwang verzweifelt sein Schwert im Dunkel, er wußte, daß das sein Ende war und es keinen Ausweg gab. Er begann zu rennen und stolperte plötzlich aus dem Wald auf eine unfruchtbare, verödete Lichtung. Raistlin stand vor ihm, allein.
Die Augen des Magiers waren geschlossen. Er seufzte leise, dann brach er zusammen. Sturm rannte zu ihm, dann tauchte Caramon auf, der Sturm fast überrannte, um seinen Bruder zu erreichen, und hob Raistlin sanft auf. Einer nach dem anderen rannte wie angetrieben auf die Lichtung. Raistlin murmelte immer noch seltsame fremde Worte. Die Geister waren verschwunden. »Raist!« Caramon schluchzte gebrochen.
Die Lider des Magiers flackerten und öffneten sich. »Der Zauber... hat mich erschöpft...«, flüsterte er. »Ich muß mich ausruhen...«
»Und ausruhen sollst du dich!« dröhnte eine Stimme - eine lebende Stimme!
Tanis atmete erleichtert auf, obwohl seine Hand ans Schwert fuhr. Schnell sprangen er und die anderen beschützend vor Raistlin, die Gesichter der Dunkelheit zugewandt. Dann erschien plötzlich der silberne Mond, als ob eine Hand ihn aus einem schwarzen Seidenschal gewickelt hätte. Jetzt konnten sie den Kopf und die Schultern eines Mannes erkennen, der unter den Bäumen stand. Seine bloßen Schultern waren genauso breit und schwer wie die von Caramon. Langes Haar kräuselte sich um seinen Hals, seine Augen waren hell und glänzten kalt. Die Gefährten hörten ein Rascheln im Gebüsch und sahen einen Speer aufleuchten, der auf Tanis gerichtet war.
»Legt eure kümmerlichen Waffen weg«, höhnte der Mann. »Ihr seid umzingelt und habt keine Chance.«
»Ein Trick«, knurrte Sturm, aber noch während er sprach, hörte man ein gewaltiges Rascheln und Knacken von Baumästen. Mehr Männer erschienen, umringten sie, alle mit Speeren bewaffnet, die im Mondlicht glänzten.
Der Mann schritt auf sie zu, und die Gefährten erstarrten vor Erstaunen, ihre Hände an den Waffen wurden schlaff.
Der Mann war kein Mensch, sondern ein Zentaur! Bis zur Hüfte war er menschlich, aber der untere Teil war der Körper eines Pferdes. Mit müheloser Anmut bewegte er sich vorwärts, mächtige Muskeln spannten sich um seine gewölbte Brust. Andere Zentauren erschienen aus den Baumschatten. Tanis steckte sein Schwert in die Scheide. Flint nieste.
»Ihr kommt mit uns«, befahl der Zentaur.
»Mein Bruder ist krank«, knurrte Caramon. »Er kann nirgendwo hingehen.« »Lege ihn auf meinen Rücken«, sagte der Zentaur kühl. »Überhaupt könnt ihr alle auf uns reiten.«
»Wohin bringt ihr uns?« fragte Tanis.
»Ihr habt nicht das Recht, Fragen zu stellen.« Der Zentaur holte aus und berührte mit seinem Speer Caramons Rücken. »Wir werden weit und schnell reisen. Aber fürchtet euch nicht.« Er verbeugte sich vor Goldmond, indem er ein Vorderbein vorstreckte. »In dieser Nacht wird euch kein Schaden zugefügt werden.«
»Darf ich reiten, Tanis, bitte?« bettelte Tolpan.
»Trau ihnen nicht!« schnaufte Flint heftig.
»Ich traue ihnen nicht«, murmelte Tanis. »Aber wir scheinen nicht viele Möglichkeiten zu haben - Raistlin kann nicht laufen. Reite nur, Tolpan. Ihr anderen auch.«
Caramon, der die Zentauren argwöhnisch beäugte, hob seinen Bruder und setzte ihn auf den Rücken. Raistlin sackte geschwächt in sich zusammen. »Steig auf«, sagte der Zentaur zu Caramon. »Ich kann euch beide tragen. Dein Bruder wird deine Hilfe brauchen, denn wir reiten heute nacht sehr schnell.«
Der Krieger errötete verlegen, dann kletterte er auf den breiten Rücken des Zentaurs. Er legte einen Arm um Raistlin, als der Zentaur den Pfad hinuntergaloppierte. Tolpan, der vor Aufregung kicherte, sprang auf einen anderen Zentaur und fiel prompt auf der anderen Seite hinunter in den Schlamm. Sturm hob den Kender seufzend auf und setzte ihn auf den Rücken des Zentaurs. Dann hob der Ritter den Zwerg hoch, bevor dieser protestieren konnte, und setzte ihn hinter Tolpan. Flint versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur niesen, als der Zentaur antrabte. Tanis ritt mit dem ersten Zentaur, der der Anführer zu sein schien.
»Wohin bringst du uns?« fragte Tanis wieder.
»Zum Herrn der Wälder«, antwortete der Zentaur.
»Zum Herrn der Wälder?« wiederholte Tanis. »Wer ist er – auch ein Zentaur?«
»Nein«, entgegnete der Zentaur einsilbig und begann, den Pfad hinabzulaufen.
Tanis wollte weiterfragen, aber der Zentaur beschleunigte sein Tempo. Er wurde durchgerüttelt und hätte beinahe seine Zunge durchgebissen. Er spürte, daß er nach hinten glitt, als der Zentaur immer schneller wurde, und schlang seine Arme um den breiten Rumpf des Zentaurs.
»Nein, du brauchst mich nicht zu zerquetschen!« Der Zentaur warf ihm einen Blick zu, seine Augen glitzerten im Mondlicht. »Es ist meine Aufgabe, darauf zu achten, daß du oben bleibst. Entspann dich. Lege deine Hände auf mein Hinterteil, um ein Gleichgewicht zu finden. Ja, so. Halte dich an den Beinen fest.«
Die Zentauren verließen den Pfad und tauchten in den Wald ein. Das Mondlicht wurde von den dichten Bäumen verschluckt. Tanis spürte die Zweige an seinen Kleidern vorbeipeitschen. Aber die Zentauren verlangsamten ihren Galopp nicht, und Tanis konnte nur vermuten, daß sie den Weg gut kannten, einen Weg, den der Halb-Elf nicht sehen konnte. Bald wurden sie langsamer, und schließlich hielten sie an. Tanis konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Er wußte nur, daß seine Gefährten in der Nähe waren, weil er Raistlins rasselnden Atem, Caramons klirrende Rüstung und Flints anhaltendes Niesen hören konnte. Das Licht von Raistlins Stab war erloschen.
»Ein mächtiger Zauber liegt über diesem Wald«, flüsterte der Magier geschwächt auf Tanis' Frage. »Dieser Zauber macht jede andere Magie unwirksam.«
Tanis' Unwohlsein verstärkte sich. »Warum halten wir an?« »Weil wir am Ziel sind. Steig ab«, befahl der Zentaur. »Und wo sind wir?« Tanis glitt vom Rücken des Zentaurs. Er blickte um sich, konnte aber nichts erkennen.
»Ihr seid mitten im Düsterwald«, erwiderte der Zentaur. »Und jetzt sage ich Lebewohl... oder... nun ja, je nachdem, wie der Herr der Wälder euch beurteilt.«
»Warte eine Minute!« rief Caramon wütend. »Du kannst uns doch nicht einfach hier mitten im Wald stehenlassen, blind wie neugeborene Katzen...«
»Haltet sie auf!« befahl Tanis und griff nach seinem Schwert. Aber seine Waffe war nicht mehr da. Ein heftiger Fluch von Sturm deutete an, daß der Ritter die gleiche Entdeckung gemacht hatte. Der Zentaur gluckste. Tanis hörte Hufe auf weiche Erde aufschlagen und Äste rascheln. Die Zentauren waren verschwunden. »Die wären wir los!« nieste Flint.
»Sind alle da?« fragte Tanis.
»Ich bin hier«, piepste Tolpan. »O Tanis, war das nicht wundervoll? Ich...«
»Psst, Tolpan!« sagte Tanis. »Die Barbaren?«
»Wir sind hier«, sagte Flußwind grimmig. »Ohne Waffen.« »Keiner hat eine Waffe?« fragte Tanis. »Nun, das würde uns sowieso nichts nützen in dieser verfluchten Schwärze«, fügte er bitter hinzu.
»Ich habe meinen Stab«, sagte Goldmond leise.
»Und dies ist eine mächtige Waffe, Tochter von Que-Shu«, ertönte eine tiefe Stimme. »Eine segensreiche Waffe, um Krankheiten und Verletzungen zu bekämpfen.« Die unsichtbare Stimme wurde traurig. »In diesen Zeiten wird sie auch als Waffe gegen böse Kreaturen verwendet, die versuchen, sie aus dieser Welt zu verbannen.«