20 Großbulps Karte. Ein Zauberbuch von Fistandantilus

Ich traue diesem kleinen Bastard nicht über den Weg«, knurrte Caramon.

»Ich auch nicht«, sagte Tanis leise. »Aber welche Wahl haben wir? Wir haben zugestimmt, ihm den Schatz zu bringen. Er hat nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen, wenn er uns betrügt.« Sie saßen auf dem Boden des Wartesaals, einem schmutzigen Vorraum zum Thronsaal. Die Dekorationen in diesem Zimmer waren genauso vulgär wie im anderen. Die Gefährten waren nervös und zwangen sich, etwas zu essen. Raistlin weigerte sich zu essen. Er hatte sich etwas abseits von den anderen niedergelassen und trank seine seltsame Kräutermischung, die seinen Husten linderte. Dann wickelte er sich in sein Gewand und streckte sich mit geschlossenen Augen aus. Bupu saß neben ihm und schmatzte irgend etwas aus ihrem Sack. Als Caramon zu seinem Bruder ging, stellte er entsetzt fest, daß ein Schwanz mit einem Schlürfer in ihrem Mund verschwand. Flußwind saß für sich allein da. Er nahm nicht an der Unterhaltung teil, als die Freunde wieder einmal ihre Pläne besprachen. Der Barbar starrte mißmutig auf den Boden. Als er eine leichte Berührung an seinem Arm spürte, hob er nicht einmal den Kopf. Goldmond kniete sich mit blassem Gesicht zu ihm. Sie versuchte zu sprechen, ihre Stimme versagte, und sie räusperte sich.

»Wir müssen reden«, sagte sie in ihrer Sprache.

»Ist das ein Befehl?« fragte er bitter.

Sie schluckte. »Ja«, hauchte sie.

Flußwind erhob sich und ging zu einem Wandteppich hinüber. Er sah Goldmond nicht an, noch sagte er irgend etwas. Sein Gesicht war eine ernste Maske, aber dahinter konnte Goldmond den verzehrenden Schmerz in seiner Seele erkennen. Sie legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. »Vergib mir«, sagte sie leise.

Flußwind sah sie erstaunt an. Sie stand vor ihm, den Kopf gesenkt, eine fast kindliche Scham in ihrem Gesicht. Er streichelte das silbergoldene Haar der Frau, die er mehr liebte als sein Leben. Er spürte ihr Zittern bei seiner Berührung, und sein Herz schmerzte vor Liebe. Er fuhr mit seiner Hand von ihrem Kopf zu ihrem Hals, zog sie sanft und zart an seine Brust und hielt sie plötzlich fest in seine Arme gedrückt. »Ich habe dich noch niemals solche Worte sagen hören«, sagte er und lächelte, da er wußte, sie konnte ihn nicht sehen. »Ich habe noch nie so etwas gesagt«, würgte sie, ihre Wange an sein Lederhemd gepreßt. »O mein Geliebter, ich bin trauriger, als ich es auszudrücken vermag, daß du nach Hause gekommen bist zu der Tochter des Stammeshäuptlings und nicht zu Goldmond. Aber ich hatte soviel Angst.«

»Nein«, flüsterte er. »Ich bin es, der um Vergebung bitten muß.« Er wischte mit seiner Hand ihre Tränen weg. »Mir war nicht klar, was du durchgemacht hast. Ich habe nur an mich gedacht und an die Gefahren, denen ich gegenüberstand. Ich wünschte mir, du hättest mir davon erzählt, meine Liebste.« »Ich wünschte, du hättest mich gefragt«, erwiderte sie und sah ihn ernst an. »Ich bin schon so lange die Tochter des Stammeshäuptlings, daß ich nicht mehr anders sein kann. Es ist meine Stärke. Es gibt mir Mut, wenn ich Angst habe. Ich glaube nicht, daß ich davon lassen kann.«

»Ich will nicht, daß du davon läßt.« Er lächelte sie an und strich über ihr Gesicht. »Ich habe mich in die Tochter des Stammeshäuptlings verliebt, als ich dich das erste Mal sah. Erinnerst du dich? Bei den zu deinen Ehren abgehaltenen Spielen.«

»Du hast dich geweigert, dich vor mir zu verbeugen, um meinen Segen entgegenzunehmen«, sagte sie. »Du hast die Führerschaft meines Vaters anerkannt, aber mich als Göttin abgelehnt. Du sagtest, Menschen könnten nicht aus anderen Menschen Götter machen.« Ihre Augen sahen viele Jahre zurück. »Wie groß und stolz und schön du warst, als du von uralten Göttern sprachst, die für mich damals nicht existierten.« »Und wie wütend du warst«, erinnerte er sich, »und wie wunderschön! Deine Schönheit allein war ein Segen für mich. Ich brauchte keinen anderen. Du wolltest mich von den Spielen ausschließen.«

Goldmond lächelte traurig. »Du dachtest, ich wäre zornig gewesen, weil du mich vor dem Volk beschämt hättest, aber das war es nicht.«

»Nein? Was war es dann, Tochter des Stammeshäuptlings?« Sie errötete, aber dann richtete sie ihre Augen auf ihn. »Ich war zornig, weil ich wußte, daß ich einen Teil von mir verloren hatte, als du vor mir gestanden und dich geweigert hast, vor mir auf die Knie zu fallen, und daß ich nie wieder ganz werden würde, solange du nicht diesen Teil beanspruchen würdest.« Als Antwort drückte der Barbar sie eng an sich. »Flußwind«, sagte sie schluckend, »die Tochter des Stammeshäuptlings ist immer noch da. Ich glaube nicht, daß sie jemals gehen wird. Aber du mußt wissen, daß sich Goldmond dahinter verbirgt, und falls diese Reise jemals zu Ende geführt wird und wir endlich Frieden gefunden haben, wird Goldmond dir für immer gehören, und wir werden die Tochter des Stammeshäuptlings verscheuchen.«

Ein Klopfen an der Tür ließ alle nervös aufblicken. Ein Gossenzwerg stolperte in den Raum. »Karte«, sagte er und warf Ta-nis ein zusammengeknülltes Stück Papier zu.

»Vielen Dank«, sagte der Halb-Elf ernst. »Und richte dem Großbulp unseren Dank aus.«

»Seiner Majestät dem Großbulp«, verbesserte die Wache mit ängstlichem Blick auf die mit Wandteppichen verkleidete Wand. Ungeschickt knicksend verschwand er in den Gemächern des Großbulps. Tanis breitete die Karte aus. Alle, selbst Flint, versammelten sich davor. Nach einem Blick darauf schnaufte der Zwerg jedoch verächtlich und verzog sich wieder. Tanis lachte enttäuscht. »Das hätten wir wissen müssen. Ich frage mich, ob sich der große Phudge erinnert, wo der ›große geheime Raum‹ ist.«

»Natürlich nicht.« Raistlin richtete sich auf und öffnete seine seltsam goldenen Augen. »Darum ist er nie wieder zurückgekehrt. Aber einer von uns weiß, wo die Höhle des Drachen liegt.« Alle folgten seinem Blick.

Bupu sah sie trotzig an. »Stimmt. Ich weiß«, sagte sie schmollend. »Ich kenne geheimen Ort. Ich war da, fand schöne Steine. Aber nicht Großbulp gesagt!«

»Wirst du es uns erzählen?« fragte Tanis. Bupu sah Raistlin an. Er nickte.

»Ich erzähle«, murmelte sie. »Gib Karte.«

Als Raistlin sicher war, daß die Aufmerksamkeit der anderen von der Karte in Anspruch genommen war, rief er seinen Bruder zu sich. »Bleibt es bei dem Plan?« flüsterte der Magier.

»Ja.« Caramon runzelte die Stirn. »Und doch gefällt er mir nicht. Ich sollte mit dir gehen.«

»Unsinn«, zischte Raistlin. »Du würdest mir nur im Weg stehen!« Dann fügte er sanfter hinzu. »Ich werde mich vorsehen, das verspreche ich dir.« Er legte seine Hand auf den Arm seines Bruders und zog ihn dichter zu sich. »Außerdem« – der Magier blickte sich um – »gibt es etwas, was du für mich tun mußt, mein Bruder. Du mußt mir etwas aus der Höhle des Drachen mitbringen.«

Raistlins Berührung war ungewöhnlich warm, seine Augen brannten. Caramon wollte sich verlegen zurückziehen, denn er bemerkte etwas, das er seit den Türmen der Erzmagier nicht mehr bei seinem Bruder gesehen hatte, aber Raistlins Hand hielt ihn umklammert.

»Was ist es?.« fragte Caramon widerstrebend.

»Ein Zauberbuch!« flüsterte Raistlin.

»Also darum wolltest du unbedingt nach Xak Tsaroth!« sagte Caramon. »Du wußtest, das Zauberbuch würde hier sein.« »Ich las vor Jahren darüber. Ich wußte, daß es vor der Umwälzung in Xak Tsaroth war, alle aus meinem Orden wußten es, aber wir nahmen an, daß es mit der Stadt zerstört wurde. Als ich herausfand, daß Xak Tsaroth nicht völlig zerstört war, wurde mir klar, daß auch das Buch überlebt haben könnte.« »Woher weißt du, daß es sich in der Höhle befindet?« »Ich weiß es nicht, ich vermute es einfach. Für Magier ist dieses Buch Xak Tsaroths größter Schatz. Du kannst dich darauf verlassen, wenn der Drache es gefunden hat, dann wird er es auch anwenden!«

»Und du willst, daß ich es dir hole«, sagte Caramon langsam. »Wie sieht es aus?«

»Wie mein Zauberbuch, außer daß das weiße Pergament in nachtblaues Leder gebunden ist, mit silbernen Runen auf dem Einband. Wenn man es berührt, fühlt es sich eiskalt an.« »Was bedeuten die Runen?«

»Das wirst du nicht wissen wollen...«, flüsterte Raistlin. »Wem gehörte das Buch?« fragte Caramon argwöhnisch.

Raistlin schwieg, seine goldenen Augen waren geistesabwesend, als ob er etwas suchen würde, sich an etwas lang Vergessenes erinnern wollte. »Du hast nie von ihm gehört, mein Bruder«, flüsterte er schließlich so leise, daß Caramon näher rükken mußte. »Jedoch war er einer der größten meines Ordens. Sein Name war Fistandantilus.«

»So wie du das Zauberbuch beschreibst...«, Caramon zögerte, weil er sich vor Raistlins Antwort fürchtete. Er schluckte und begann noch einmal. »Dieser Fistandantilus - trug er die Schwarze Robe?« Er konnte den durchdringenden Blick seines Bruders nicht ertragen.

»Frag nicht weiter!« zischte Raistlin. »Du bist genauso schlecht wie die anderen! Wie kann mich einer von euch überhaupt verstehen!« Als er den schmerzlichen Blick seines Bruders sah, seufzte der Magier. »Vertraue mir, Caramon. Es ist kein besonders mächtiges Zauberbuch – im Grunde ist es eines der frühen Werke des Magiers. Er hat es in jungen Jahren geschrieben, in der Tat sehr jung«, murmelte Raistlin und starrte weg. Dann blinzelte er und sagte lebhafter: »Aber es wird nichtsdestotrotz wertvoll für mich sein. Du mußt es holen! Du mußt...« Er hustete wieder.

»Sicher, Raist«, versprach Caramon und beruhigte seinen Bruder. »Reg dich nicht auf. Ich werde es finden.«

»Gut, Caramon. Hervorragend, Caramon«, wisperte Raistlin, als er wieder sprechen konnte. Er sank in seine Ecke zurück und schloß die Augen. »Jetzt laß mich ein wenig ausruhen. Ich muß mich vorbereiten.«

Caramon erhob sich und beobachtete einen Moment lang seinen Bruder, dann wandte er sich ab und stolperte beinahe über Bupu, die hinter ihm stand und ihn argwöhnisch mit aufgerissenen Augen anstarrte. »Was war denn los?« fragte Sturm barsch, als Caramon sich wieder zur Gruppe gesellte.

»Oh, nichts«, stammelte der Krieger und errötete schuldbewußt. Sturm warf Tanis einen beunruhigten Blick zu. »Was ist denn, Caramon?« fragte Tanis und sah den Kämpfer an, während er die eingerollte Karte in seinem Gürtel verstaute. »Etwas nicht in Ordnung?«

»Nnnein...«, stotterte Caramon. »Es ist nichts. Ich... ich habe versucht, Raistlin zu überreden, daß ich mit ihm gehe. Er sagte jedoch, ich würde ihm nur im Weg stehen.«

Tanis studierte Caramon aufmerksam. Er wußte, daß er die Wahrheit sagte, aber Tanis wußte auch, daß es nicht die ganze Wahrheit war. Caramon würde freudig seinen letzten Blutstropfen für jeden Gefährten vergießen, aber Tanis vermutete, daß er auf Raistlins Befehl auch alle verraten würde. Caramon sah Tanis an und bat ihn stumm, keine weiteren Fragen zu stellen.

»Er hat recht, weißt du, Caramon«, sagte Tanis schließlich und klopfte ihm auf die Schulter. »Raistlin wird nicht in Gefahr geraten. Bupu ist bei ihm. Sie wird ihn zurückbringen. Er muß nur eines seiner hervorragenden Feuerwerke heraufbeschwören, damit der Drache seine Höhle verläßt. Er wird längst verschwunden sein, wenn der Drache zurückkommt.« »Sicher«, sagte Caramon und zwang sich zu einem Lächeln. »Außerdem brauchst du mich.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Tanis ernst. »Sind alle bereit?« Die Gefährten erhoben sich stumm und grimmig. Raistlin trat zu ihnen, seine Kapuze über das Gesicht gezogen, die Hände in seiner Robe verborgen. Um den Magier war eine Aura, undefinierbar, beängstigend - eine von ihm geschaffene Aura der Macht. Tanis räusperte sich.

»Wir werden bis fünfhundert zählen«, sagte Tanis zu Raistlin. »Dann gehen wir los. Der auf der Karte markierte ›geheime Ort‹ ist eine Falltür in einem nicht weit entfernten Gebäude, wie unsere kleine Freundin sagt. Von ihr führt ein Tunnel unterhalb der Stadt bis zur Höhle des Drachen, ungefähr dort, wo wir ihn heute gesehen haben. Mach dein Ablenkungsmanöver auf dem Platz, dann komm zurück. Wir treffen uns hier, geben dem Großbulp seinen Schatz und bleiben hier bis zur Nacht. Sobald es dunkel ist, verschwinden wir.«

»Ich verstehe«, sagte Raistlin ruhig.

Ich wünschte, ich würde auch verstehen, dachte Tanis bitter. Ich wünschte, ich würde verstehen, was in dir vorgeht, Magier. Aber der Halb-Elf sagte nichts.

»Gehen jetzt?« fragte Bupu und sah Tanis ängstlich an. »Wir gehen jetzt«, antwortete Tanis.

Raistlin schlich sich aus der düsteren Gasse und bewegte sich schnell auf die zum Süden führende zu. Er bemerkte kein Lebenszeichen. Es war, als ob alle Gossenzwerge vom Nebel verschluckt worden wären. Er fand diesen Gedanken beunruhigend und hielt sich im Schatten. Der zerbrechliche Magier konnte sich im Notfall fast geräuschlos bewegen. Er hoffte nur, seinen Husten unter Kontrolle zu halten. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach, wenn er die Kräutermischung trank, deren Rezept er von Par-Salian erhalten hatte - eine Art Entschuldigung vom großen Hexenmeister für das Trauma, das der junge Magier erlitten hatte. Aber die Wirkung der Mischung hielt nicht lange an.

Bupu spähte hinter seinem Gewand hervor, ihre runden schwarzen Augen blinzelten die Straße hinunter, die nach Osten zum Großen Platz führte. »Niemand«, sagte sie und zog an seinem Gewand. »Wir gehen.«

Niemand - dachte Raistlin besorgt. Das ergab keinen Sinn. Wo waren die Gossenzwerge? Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas schief lief, aber es war keine Zeit mehr umzukehren – Tanis und die anderen waren schon auf dem Weg zum geheimen Tunneleingang. Der Magier lächelte bitter. Dieses ganze Unternehmen schien sich als Torheit herauszustellen. Wahrscheinlich würden sie alle in dieser entsetzlichen Stadt umkommen. Bupu zerrte wieder an seinem Gewand. Er zuckte zusammen, zog seine Kapuze über das Gesicht, und dann rannten er und Bupu in die in Nebel getauchte Straße.

Zwei Gestalten in Rüstungen lösten sich aus einem dunklen Türeingang und schlichen schnell hinter Raistlin und Bupu her. »Hier ist es«, Tanis öffnete eine halbvermoderte Tür und spähte hindurch. »Es ist dunkel hier. Wir brauchen Licht.« Caramon entzündete eine der Fackeln, die sie sich vom Großbulp ausgeliehen hatten. Der Krieger überreichte Tanis eine und zündete dann noch eine für sich und für Flußwind an. Tanis trat durch die Tür und fand sich sofort bis zu den Knöcheln in Wasser stehen. Er hielt die Fackel hoch und sah sich um. An den Wänden des verwüsteten Raumes sickerte Wasser herunter. In der Mitte des Raumes bildete es einen Wirbel und verschwand dann in irgendwelchen Spalten. Tanis watete zur Mitte und hielt seine Fackel dicht ans Wasser.

»Hier, ich kann es sehen«, sagte er, als die anderen ihm folgten. Er zeigte auf eine Falltür im Boden, an der ein kaum sichtbarer eiserner Ring befestigt war. »Caramon?« Tanis richtete sich auf.

»Pah!« machte Flint. »Wenn ein Gossenzwerg diese Tür öffnen kann, dann kann ich es erst recht. Geht mal zur Seite.« Der Zwerg stieß alle weg, tauchte seine Hand ins Wasser und versuchte, die Tür zu heben. Nach einem Moment des Schweigens ächzte Flint, sein Gesicht war hochrot. Er hielt inne, richtete sich keuchend auf, dann versuchte er es noch einmal. Die Tür bewegte sich nicht.

Tanis legte seine Hand auf die Schulter des Zwerges. »Flint, Bupu sagte, daß sie nur in der Trockenzeit hierherkommt. Du versuchst, das halbe Neumeer mit der Tür zu heben.«

»Nun« – der Zwerg keuchte und schnaubte – »warum hast du das nicht gleich gesagt? Dann soll der große Ochse sein Glück versuchen.«

Caramon trat heran. Er griff ins Wasser und hob und stemmte. Seine Schultermuskeln spannten sich, und die Adern traten hervor. Man hörte ein saugendes Geräusch, dann ließ der Unterdruck so plötzlich nach, daß der Kämpfer fast nach hinten gefallen wäre. Aus dem Raum floß Wasser ab, als Caramon die hölzerne Tür lockerte. Tanis hielt seine Fackel nach unten. Ein quadratischer Schacht klaffte im Boden, eine enge Eisenleiter verlief nach unten.

»Wie weit sind wir?« fragte Tanis.

»Vierhundertdrei«, antwortete Sturm. »Vierhundertvier.« Die Gefährten standen um die Falltür und zitterten in der eisigkalten Luft. Sie hörten nur das Wasser, das den Schacht hinuntertröpfelte. »Vierhundertfünfzig«, zählte der Ritter ruhig.

Tanis kratzte sich am Bart. Caramon hustete zweimal, als ob er sie an seinen abwesenden Bruder erinnern wollte. Flint fuchtelte unruhig mit seiner Streitaxt im Wasser. Tolpan kaute geistesabwesend an seinem Haarzopf. Goldmond, blaß, aber beherrscht, trat näher zu Flußwind, den schlichten braunen Stab in ihrer Hand. Er legte seinen Arm um sie. Nichts war schlimmer, als zu warten. »Fünfhundert«, sagte Sturm schließlich.

»Endlich!« Tolpan schwang sich auf die Eisenleiter. Tanis folgte und hielt seine Fackel hoch, um Goldmond zu leuchten, die nach ihm kam. Die anderen kletterten langsam den Schacht hinunter, der zum Abwassersystem der Stadt gehörte. Der Schacht verlief ungefähr acht Meter in die Tiefe, um dann in einem Tunnel zu enden, der sich nach Norden und Süden verzweigte. »Prüfe die Tiefe des Wassers«, warnte Tanis den Kender, als Tolpan gerade von der Leiter springen wollte. Der Kender, der auf der letzten Stufe stand, hielt seinen Hupakstab in das dunkle wirbelnde Wasser. Der Stab versank zur Hälfte. »Ein halber Meter«, sagte Tolpan fröhlich. Er ließ sich mit einem Aufplatschen fallen, dann sah er fragend zu Tanis hoch. »Diese Richtung«, Tanis zeigte nach Süden.

Tolpan hielt seinen Stab hoch und ließ sich von der Strömung treiben.

»Was ist mit dem Ablenkungsmanöver?« fragte Sturm.

Tanis hatte sich die gleiche Frage gestellt. »Wahrscheinlich werden wir hier unten nichts hören.« Er hoffte, daß das stimmen würde. »Raistlin wird durchkommen. Macht euch keine Sorgen«, sagte Caramon grimmig.

»Tanis!« Tolpan wich zurück. »Hier unten ist irgend etwas! Ich habe es an den Füßen gespürt.«

»Geh einfach weiter«, murrte Tanis, »und hoffe, daß es kein hungriger...«

Schweigend wateten sie weiter, die Fackeln flackerten an den Wänden. Mehr als einmal sah Tanis etwas nach ihm greifen, nur um dann festzustellen, daß es der Schatten von Caramons Helm oder Tolpans Hupak war.

Wenig später bog der Tunnel nach Osten ab. Die Gefährten hielten an. Unten, an einem Arm des Abwasserkanals schimmerte eine Lichtsäule. Diese markierte laut Bupu die Höhle des Drachen.

»Löscht die Fackeln!« zischte Tanis und tauchte die seine ins Wasser. Er berührte die glitschige Wand und folgte dem Kender im Dunkeln - Tolpans roter Umriß wies ihm den Weg. Hinter sich hörte er Flints Beschwerden über die Wirkung des Wassers auf sein Rheuma.

»Psst«, flüsterte Tanis, als sie sich dem Licht näherten. Sie versuchten, trotz der klirrenden Rüstungen geräuschlos zu sein. Bald standen sie vor einer schmalen Leiter, die nach oben zu einem Eisengitter führte.

»Niemand macht sich die Mühe, Bodengitter zu verriegeln.« Tolpan zog Tanis dicht zu sich, um in sein Ohr zu flüstern. »Aber ich bin sicher, daß ich es auch öffnen kann, wenn es verriegelt ist.« Tanis nickte. Er fügte nicht hinzu, daß Bupu auch in der Lage gewesen war, es zu öffnen. Die Kunst, Verriegelungen zu lösen, war der ganze Stolz des Kenders. Sie standen knietief im Wasser und beobachteten, wie Tolpan die Leiter hochkletterte. »Ich höre immer noch nichts von draußen«, murrte Sturm. »Psst!« knurrte Caramon schroff.

Das Gitter hatte einen Verschluß, den Tolpan in Sekundenschnelle öffnete. Dann schob er es geräuschlos zur Seite und spähte hinaus. Eine plötzliche Dunkelheit tat sich vor ihm auf, eine Dunkelheit, so dicht und undurchdringlich, daß sie ihn wie ein schweres Gewicht erschlug und er fast den Halt verlor. Er ließ das Gitter schnell wieder auf die Öffnung rutschen, glitt die Leiter hinunter und stieß mit Tanis zusammen.

»Tolpan?« der Halb-Elf faßte nach ihm. »Bist du es? Ich kann nicht sehen. Was ist los?«

»Ich weiß es nicht. Plötzlich ist es ganz dunkel geworden.« »Was bedeutet das, wirst du nichts sehen?« flüsterte Sturm Tanis zu. »Was ist mit deinem Elfentalent?«

»Weg«, sagte Tanis grimmig. »So wie im Düsterwald - und wie am Brunnen...«

Keiner sprach, als sie zusammengedrängt im Tunnel standen. Sie hörten nur noch ihren eigenen Atem und das von den Wänden tröpfelnde Wasser. Und oben stand der Drache - und wartete auf sie.

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