5 Die offene Tür. Flucht in die Dunkelheit

Raistlin setzte sich neben den Herd und wärmte seine mageren Hände an dem kleinen Feuer. Seine goldenen Augen leuchteten heller als die Flammen, während er wie gebannt auf den blauen Kristallstab starrte, der über dem Schoß der Frau lag. »Was denkst du?« fragte Tanis.

»Falls sie ein Scharlatan ist, dann ein sehr guter«, kommentierte Raistlin nachdenklich. »Wurm! Du wagst es, die Tochter des Stammeshäuptlings als Scharlatan zu bezeichnen!« Der riesige Barbar trat zu Raistlin, seine Augenbrauen finster zusammengezogen. Caramon stieß einen leisen, grollenden Ton aus, bewegte sich vom Fenster weg und stellte sich hinter seinen Bruder.

»Flußwind...« Die Frau legte ihre Hand auf den Arm des Mannes. »Bitte. Er meint es nicht so. Und es ist nur recht, daß sie uns nicht trauen. Sie kennen uns nicht.«

»Und wir kennen sie nicht«, knurrte der Mann.

»Dürfte ich ihn ansehen?« fragte Raistlin.

Goldmond nickte und hielt ihm den Stab entgegen. Der Magier streckte seinen langen, knochigen Arm aus, seine dürren Hände grapschten gierig nach dem Stock. Als Raistlin ihn jedoch berührte, blitzte ein blaues Licht auf, und ein knisterndes Geräusch ertönte. Der Magier riß seine Hand zurück und schrie vor Schmerz auf. Caramon sprang vor, aber sein Bruder hielt ihn zurück.

»Nein, Caramon«, flüsterte Raistlin heiser und hielt seine verletzte Hand fest. »Die Dame hat damit nichts zu tun.« Die Frau starrte erstaunt auf den Stab.

»Was ist es dann?« fragte Tanis atemlos. »Ein Stab, der heilt und zugleich Wunden zufügt?«

»Er kennt sich selbst kaum«, Raistlin befeuchtete seine Lippen, seine Augen glänzten. »Paßt auf! Caramon, nimm den Stab.« »Ich nicht!« Der Kämpfer wich wie vor einer Schlange zurück. »Nimm den Stab«, befahl Raistlin.

Widerstrebend streckte Caramon eine zitternde Hand aus. Sein Arm zuckte, als seine Finger immer näher kamen. Er schloß die Augen und biß die Zähne in Erwartung des Schmerzes zusammen, als er den Stab berührte. Nichts geschah.

Caramon öffnete verwirrt die Augen. Er hielt den Stab fest, hob ihn mit seiner riesigen Hand hoch und grinste.

»Seht ihr.« Raistlin gestikulierte wie ein Zauberkünstler, der der Menge einen Trick zeigt. »Nur jene von schlichter Güte, mit einem reinen Herzen« - sein Sarkasmus war beißend »können den Stab berühren. Es ist wahrhaftig ein geweihter Heilstab, von einem Gott gesegnet. Es ist keine Magie. Keine magischen Gegenstände, von denen ich je gehört habe, verfügen über heilende Mächte.«

»Psst!« befahl Tolpan, der Caramons Platz am Fenster eingenommen hatte. »Die Wachen des Theokraten!« warnte er mit leiser Stimme.

Niemand sprach. Jetzt konnten sie alle die stampfenden Schritte von Goblins auf den Brückenwegen vernehmen. »Sie durchsuchen die Häuser!« flüsterte Tanis ungläubig. Fäuste trommelten an die Tür des Nachbarhauses.

»Die Sucher verlangen das Recht, einzutreten!« krächzte eine Stimme. Nach einer Pause sagte die Stimme: »Niemand zu Hause, sollen wir die Tür eintreten?«

»Nein«, antwortete eine andere Stimme. »Wir berichten das nur dem Theokraten, soll er doch die Tür eintreten. Wenn sie unverschlossen wäre, wäre es etwas anderes – dann dürften wir hinein.«

Tanis sah zu der Tür in der Wand ihm gegenüber. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er hätte schwören können, daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatten -jetzt war sie einen Spalt geöffnet!

»Die Tür!« flüsterte er. »Caramon...«

Aber der Kämpfer hatte sich schon hinter die Tür gestellt, mit dem Rücken zur Wand, seine riesigen Hände in Bereitschaft. Die Schritte kamen zum Stehen. »Die Sucher verlangen das Recht, einzutreten.« Die Goblins klopften an die Tür, dann hielten sie überrascht inne, als sie sich öffnete.

»Hier ist niemand«, sagte einer. »Laß uns weitergehen.« »Dir fehlt Phantasie, Grum«, sagte der andere. »Eine gute Gelegenheit, ein paar Silberlinge mitgehen zu lassen.« Ein Goblinkopf erschien in der Tür. Seine Augen richteten sich auf Raistlin, der ruhig mit seinem Stab dasaß. Der Goblin grunzte beunruhigt, dann fing er an zu lachen.

»Ho ho! Sieh mal, was wir da haben. Einen Stab!« Die Augen des Goblins strahlten. Er trat einen Schritt auf Raistlin zu, dicht gefolgt von seinem Kameraden. »Her mit dem Stab!«

»Sicher«, flüsterte der Magier. Er hielt seinen Stab vor. »Shirak«, sagte er. Die Kristallkugel flackerte auf. Die Goblins kreischten und schlössen die Augen und tasteten nach ihren Schwertern. In diesem Moment sprang Caramon hinter der Tür hervor, griff die Goblins an den Hälsen und schlug ihre Köpfe mit großer Kraft zusammen. Die Leichname der Goblins zerfielen zu stinkenden Haufen.

»Tot?« fragte Tanis, Ms Caramon sich über sie beugte und sie beim Licht von Raistlins Stab untersuchte.

»Leider.« Seufzte er. »Ich habe zu fest zugeschlagen.« »Jetzt ist es aus«, sagte Tanis grimmig. »Jetzt haben wir noch zwei Wachen des Theokraten umgebracht. Die ganze Stadt wird sich auf einen Kampf einstellen. Wir können hier nicht mehr bleiben - wir müssen hier raus! Und ihr zwei« - er wandte sich an die Barbaren – »kommt lieber mit uns mit.«

»Wo immer wir auch hingehen«, brummte Flint gereizt. »Wohin wolltet ihr eigentlich?« fragte Tanis Flußwind. »Wir waren unterwegs nach Haven«, antwortete der Barbar widerwillig.

»Dort leben weise Männer«, sagte Goldmond. »Wir hoffen, daß sie uns etwas über den Stab sagen können. Dieser Stab hat unser Leben gerettet...«

»Das müßt ihr uns später erzählen«, unterbrach Tanis. »Wenn diese Wachen nicht zurückkommen, wird jeder Goblin in Solace ausschwärmen. Raistlin, mach das Licht aus.«

Der Magier sagte ein anderes Wort: »Dumak.« Der Kristall glimmerte, dann erstarb das Licht.

»Was machen wir mit den Leichen?« fragte Caramon und stieß mit seinem Stiefel gegen einen Goblin. »Und was ist mit Tika? Wird sie nicht in Schwierigkeiten kommen?«

»Laß die Körper hier liegen.« Tanis hatte schnell einen Plan parat. »Und hack die Tür auf. Sturm, reiß Tisch und Stühle um. Es soll aussehen, als wären wir eingebrochen und mit diesen Burschen in einen Kampf verwickelt worden. Auf diese Weise wird Tika kaum Ärger bekommen. Sie ist ein kluges Mädchen, sie wird das schon hinkriegen.«

»Wir brauchen Lebensmittel«, bemerkte Tolpan. Er rannte in die Küche, wühlte auf den Borden und stopfte Brot und alles, was essbar aussah, in seinen Beutel. Flint warf er einen Weinschlauch zu. Sturm stieß ein paar Stühle um. Caramon veränderte die Lage der Körper, um den Eindruck zu erwecken, sie wären in wildem Kampf gestorben. Die Barbaren standen vor dem niedergebrannten Feuer und sahen Tanis unsicher an. »Nun?« fragte Sturm. »Was jetzt? Wohin gehen wir?«

Tanis zögerte und ging in Gedanken rasch alle Möglichkeiten durch. Die Barbaren kamen aus dem Osten und - falls ihre Geschichte stimmte und ihr Stamm wirklich versucht hatte, sie zu töten – würden nicht zurückkehren. Die Gruppe konnte in Richtung Süden reisen, in das Königreich der Elfen, aber Tanis empfand einen seltsamen Widerstand, in seine Heimat zurückzukehren. Auch wußte er, daß es den Elfen nicht gefiel, wenn Fremde ihre geheime Stadt betraten.

»Wir werden nach Norden ziehen«, sagte er schließlich. »Wir werden die beiden bis zum Scheideweg begleiten, dann können wir weiter entscheiden. Sie können dann südöstlich nach Haven weiterziehen, falls sie es wünschen. Ich für meinen Teil will weiter in den Norden. Ich will mich vergewissern, ob die Gerüchte wahr sind, daß sich dort Soldaten sammeln.« »Und vielleicht, um auf Kitiara zu treffen«, flüsterte Raistlin hinterhältig.

Tanis errötete. »Ist der Plan in Ordnung?« fragte er und sah die anderen an.

»Obwohl du nicht der Älteste von uns bist, Tanis, so bist du doch der Klügste«, sagte Sturm. »Wir folgen dir – wie immer.«

Caramon nickte. Raistlin steuerte bereits auf die Tür zu. Flint schulterte brummend den Weinschlauch.

Tanis spürte eine sanfte Hand seinen Arm berühren. Er wandte sich um und sah in die klaren blauen Augen der wunderschönen Barbarin. »Wir danken euch«, sagte Goldmond langsam, als ob sie es nicht gewohnt wäre, Dankbarkeit zu zeigen. »Ihr riskiert euer Leben für uns, obwohl wir Fremde sind.«

Tanis lächelte und drückte ihre Hand. »Ich heiße Tanis. Das dort sind die Brüder Caramon und Raistlin. Der Ritter heißt Sturm Feuerklinge. Flint Feuerschmied trägt den Wein, und Tolpan Barfuß ist unser kluger Schlosser. Du bist Goldmond, und er heißt Flußwind. Nun - wir sind nicht länger Fremde.« Goldmond lächelte müde. Sie strich über seinen Arm und ging dann zur Tür, stützte sich dabei auf ihren Stab, der wieder normal und nichtssagend aussah. Tanis sah ihr nach, dann zu Flußwind, der ihn anstarrte, das dunkle Gesicht eine undurchdringbare Maske.

»Nun«, fügte Tanis stumm hinzu, »einige von uns sind keine Fremden mehr.«

Bald waren alle draußen. Tolpan führte sie. Tanis stand einen Moment lang allein im verwüsteten Wohnzimmer und starrte auf die Leichen der Goblins. Eigentlich sollte es eine friedliche Heimkehr nach bitteren Jahren des einsamen Wanderns werden. Er dachte an sein behagliches Heim. Er dachte an all die Dinge, die er sich vorgenommen hatte - Dinge, die er gemeinsam mit Kitiara machen wollte. Er dachte an lange Winterabende, mit Geschichtenerzählen am Feuer im Wirtshaus, dann nach Hause gehen, zusammen unter den Felldecken lachen, in den verschneiten Morgen schlafen...

Tanis trat nach den glühenden Kohlen und verstreute sie. Kitiara war nicht zurückgekehrt. Goblins hatten seine friedliche Stadt besetzt. Er floh in die Nacht, um einem Haufen gläubiger Fanatiker zu entkommen, und mit aller Wahrscheinlichkeit würde er niemals zurückkehren können.

Elfen bemerken nicht das Fließen der Zeit. Sie leben Hunderte von Jahren. Für sie vergehen die Jahreszeiten wie ein kurzer Regenschauer. Aber Tanis war ein Halbmensch. Er spürte eine Veränderung nahen, fühlte die beunruhigende Ruhelosigkeit, die Menschen vor einem Gewitter empfinden.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann trat er hinaus durch die zerstörte Tür, die nur noch in einer Angel hing.

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