19 Die zerstörte Stadt. Großbulp Phudge I, der Große

Die Nacht der Umwälzung war für die Stadt Xak Tsaroth eine Nacht des Entsetzens gewesen. Als das glühende Gebirge auf Krynn niederging, wurde das Land in zwei Hälften gespalten. Die uralte und wunderschöne Stadt Xak Tsaroth stürzte an einer Felswand hinunter in eine weite Höhle, die sich durch die riesigen Risse gebildet hatte. Daher war sie nicht mehr sichtbar, und die meisten Leute glaubten, daß die Stadt völlig verschwunden war, vom Neumeer verschlungen. Aber sie existierte weiter; hing an den Höhlenwänden und bedeckte den Boden der Höhle. Auf mehreren Ebenen gab es zerstörte Gebäude. Das Gebäude, in dem die Gefährten gelandet waren und das offenbar einst eine Bäckerei gewesen war, befand sich auf der mittleren Ebene und hing eingeklemmt im Gestein. Wasser aus unterirdischen Flüssen strömte aus dem Fels in die Straße.

Tanis' Blick folgte dem Lauf des Wassers. Es floß mitten durch die zerfallene, gepflasterte Straße, entlang an anderen kleinen Geschäften und Häusern, in denen einst Menschen gelebt hatten und ihrem Tagwerk nachgegangen waren. Als die Stadt einstürzte, waren hohe Gebäude übereinander gekippt und bildeten nun einen groben Bogengang aus zerbrochenen Marmorplatten. Zerstörte Türen und Geschäftsfenster standen weit offen. In der Luft hing der Geruch des Verfalls. Er legte sich schwer auf das Gemüt. Und obwohl die Luft nach unten hin wärmer war als oben, gefror den Gefährten in der düsteren Stimmung das Blut. Keiner sprach. Sie wuschen sich, so gut sie konnten, den Schleim von ihren Leibern (und das Mehl von Tolpan) und füllten dann ihre Wasserschläuche auf. Sturm und Caramon durchsuchten die Umgebung, sahen aber keine Drakonier. Nach einer kurzen Ruhepause erhoben sich die Gefährten und setzten ihren Weg fort.

Bupu führte sie die Straße hinunter in südlicher Richtung, durch den Bogengang aus zerstörten Häusern. Die Straße öffnete sich zu einem Platz - hier flössen die kleinen Straßenbäche zu einem sich in westlicher Richtung bewegenden Strom zusammen.

»Fluß folgen«, erklärte Bupu.

Tanis runzelte die Stirn, als er außer dem Rauschen des Wassers noch ein anderes Geräusch vernahm, das Krachen und Brüllen eines gewaltigen Wasserfalls. Aber Bupu war hartnäkkig. Die Helden wateten also durch den Fluß, wobei sie gelegentlich schenkeltief einsackten. Am Ende der Straße sahen sie endlich den Wasserfall. Der Fluß führte zwischen zerbrochenen Säulen hindurch, um sich dann fast dreihundert Meter tief zum Grund der Höhle zu erbrechen. Dort ruhte der Rest der zerstörten Stadt Xak Tsaroth.

Bei dem schwachen Licht, das durch Spalten in der Höhlendecke filterte, konnte man das Herz der uralten Stadt auf dem Boden der Höhle in verschiedenen Verfallzuständen noch teilweise erkennen. Einige Gebäude schienen fast vollständig intakt zu sein. Andere jedoch waren nichts weiter als Schutt und Asche. Ein eisiger Nebel, der sich durch den Wasserfall bildete, hing über der Stadt. Die meisten Straßen waren zu Flüssen geworden, die sich vereinigten, um weiter im Norden einem tiefen Abgrund zuzufließen. Die Gefährten konnten auch die riesige Kette des Aufzuges erkennen, die weniger als hundert Meter von ihnen entfernt hing.

»Wo lebt der Großbulp?« fragte Tanis und blickte zur zerstörten Stadt hinunter. »Bupu sagte, er lebt dort drüben«, Raistlin machte Zeichen, »in jenen Gebäuden auf der Westseite der Höhle.«

»Und wer lebt in den intakten Häusern direkt unter uns?« fragte Tanis.

»Herren«, erwiderte Bupu mit finsterem Blick.

»Wie viele?«

»Einer, und einer, und einer.« Bupu zählte so lange, bis sie alle Finger verbraucht hatte. »Zwei«, sagte sie. »Nur zwei.« »Das könnte also zwischen zweihundert und zweitausend bedeuten«, murrte Sturm. »Und wie kommen wir zum Großwuup?« »Großbulp!« Bupu sah ihn wütend an. »Großbulp Phudge I, der Große.«

»Und wie kommen wir zu ihm, ohne daß uns die Herren erwischen?« Als Antwort zeigte Bupu nach oben zu dem aufsteigenden, mit Drakoniern gefüllten Topf. Tanis schaute verblüfft drein und starrte Sturm an, der sich vor Abscheu schüttelte. Bupu seufzte ärgerlich und wandte sich zu Raistlin, da die anderen offensichtlich nicht verstanden. »Herren gehen hoch. Wir gehen unten.«

Raistlin starrte durch den Nebel auf den Auf zug. Dann nickte er verstehend. »Die Drakonier glauben wahrscheinlich, dass wir in der Falle sitzen, und wissen nicht, wie wir zum unteren Teil der Stadt kommen. Falls sich der Großteil der Drakonier oben befindet, könnten wir sicher nach unten gelangen.« »Na schön«, sagte Sturm. »Aber wie bei Istar kommen wir nach unten? Die meisten von uns können nicht fliegen!« Bupu streckte die Hände aus. »Schlingenpflanze!« sagte sie. Als sie die verwirrten Blicke sah, stapfte die Gossenzwergin zum Rand des Wasserfalls und zeigte nach unten. Dicke grüne Schlingpflanzen hingen wie riesige Schlangen über dem steinigen Abhang. Die Blätter der Pflanzen waren zerrissen, zerfetzt und an einigen Stellen völlig herausgerissen, aber die Ranken selbst erschienen dick und stabil, wenn auch glitschig. Goldmond, ungewöhnlich blaß, kroch zum Rand, spähte hinunter und schob sich eilig zurück. Es war ein steiler Abhang, der über mehr als hundert Meter direkt zu einer mit Schutt übersäten Pflastersteinstraße führte. Flußwind legte beruhigend seinen Arm um sie.

»Ich habe schon unangenehmere Klettereien erlebt«, sagte Caramon aufmunternd.

»Nun, mir gefällt das nicht«, sagte Flint. »Aber trotzdem besser, als in einer Kloake rumzurutschen.« Er hielt sich an einer Kletterpflanze fest, schwang sich über den Rand und begann, sich langsam nach unten zu arbeiten. »Es ist nicht so schlimm«, rief er nach oben.

Tolpan folgte Flint. Er war so flink und geschickt, daß er von Bupu ein anerkennendes Grunzen erntete.

Die Gossenzwergin sah zu Raistlin, zeigte auf sein langes, fließendes Gewand und runzelte die Stirn. Der Magier lächelte sie beruhigend an. Er stellte sich an den Rand der Klippe und sagte leise: »Pveathrfall.« Die Kristallkugel an seinem Stab flammte auf, und Raistlin sprang über den Klippenrand und verschwand im Nebel. Bupu schrie auf. Tanis hielt sie fest, da er fürchtete, die Bewunderin könnte sich hinterherwerfen. »Mit ihm ist alles in Ordnung«, versicherte ihr der Halb-Elf und empfand Mitleid mit ihr, als er echte Furcht in ihrem Gesicht sah. »Er ist Magier«, sagte er. »Magie. Weißt du.« Bupu wußte es offensichtlich nicht, denn sie starrte Tanis argwöhnisch an, schwang ihren Beutel um den Hals und begann mit dem Abstieg. Die restlichen Gefährten wollten folgen, als Goldmond verzweifelt flüsterte: »Ich kann nicht.«

Flußwind nahm ihre Hände. »Kan-toka«, sagte er leise. »Es wird schon in Ordnung gehen. Du hast gehört, was der Zwerg gesagt hat. Sieh nur nicht nach unten.«

Goldmond schüttelte den Kopf. »Es muß einen anderen Weg geben«, sagte sie starrköpfig. »Wir werden ihn suchen!« »Wo liegt das Problem?« fragte Tanis. »Wir müssen uns beeilen...« »Sie hat Höhenangst«, sagte Flußwind.

Goldmond schob ihn beiseite. »Wie kannst du ihm das sagen!« schrie sie, ihr Gesicht wurde vor Zorn rot.

Flußwind sah sie kühl an. »Warum nicht?« fragte er mit belegter Stimme. »Er gehört nicht zu deinen Untertanen. Du kannst ihn ruhig wissen lassen, daß du ein Mensch bist, daß du Schwächen hast. Du hast nur noch einen Untertan, den du beeindrucken mußt, Häuptling, und das bin ich!« Aus Goldmonds Lippen wich die Farbe. Ihre Augen waren weit aufgerissen und hatten den starren Blick einer Leiche. »Befestige bitte den Stab an meinem Rücken«, sagte sie zu Tanis. »Goldmond, er meinte nicht...«, begann er.

»Gehorche mir!« befahl sie schroff, ihre blauen Augen funkelten vor Zorn. Tanis seufzte und befestigte den Stab an ihrem Rücken. Goldmond würdigte Flußwind keines Blickes. Dann ging sie zum Rand. Sturm, sprang zu ihr.

»Laß mich vor dir gehen«, sagte er. »Wenn du ausrutschst...« »Wenn ich ausrutsche und stürze, wirst du mit mir stürzen. Das einzige, was wir erreichen würden, wäre, daß wir beide sterben«, sagte sie eisig. Sie beugte sich vor, ergriff die Schlingpflanzen und schwang sich über den Rand. Fast sofort verloren ihre feuchten Hände den Halt. Tanis hielt den Atem an. Sturm sprang vorwärts, obwohl ihm klar wurde, daß er nichts machen konnte. Flußwind stand beobachtend mit ausdruckslosem Gesicht da. Goldmond klammerte sich krampfhaft an die Pflanze. Sie fand festen Halt und ließ nicht mehr los, unfähig zu atmen oder sich zu bewegen. Sie drückte ihr Gesicht in die feuchten, dicken Blätter, zitterte und hielt ihre Augen fest geschlossen, um nicht nach unten blicken zu müssen. Sturm kletterte ihr nach.

»Laß mich in Ruhe«, sagte Goldmond mit zusammengepreßten Zähnen. Sie holte zitternd Luft, warf Flußwind einen stolzen, herausfordernden Blick zu und begann sich weiter hinabzulassen. Sturm blieb in ihrer Nähe, während er geschickt hinunterkletterte. Tanis, der neben Fluß wind stand, wollte etwas sagen, aber er fürchtete, noch mehr Schaden anzurichten. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Rand. Flußwind folgte schweigend. Tanis fand den Abstieg leicht, obwohl er die letzten Meter ausrutschte und in einer Pfütze landete. Er bemerkte, daß Raistlin vor Kälte zitterte, sein Husten hatte sich in der feuchten Luft verschlimmert. Mehrere Gossenzwerge standen um den Magier herum und starrten ihn bewundernd an. Tanis fragte sich, wie lange der Zauber wohl noch anhalten würde. Goldmond lehnte bebend an einer Wand. Sie sah Flußwind nicht an, als er den Boden erreichte und sich von ihr mit ausdruckslosem Gesicht abwandte. »Wo sind wir?« schrie Tanis, um den Wasserfall zu übertönen. Der Nebel war so dick, daß er außer zerbrochenen, mit Kletterpflanzen und Pilzen überwucherten Säulen nichts sehen konnte.

»Großer Platz dort.« Bupu zeigte mit ihrem schmutzigen Finger in westlicher Richtung. »Kommt. Ihr folgt. Großbulp sehen!«

Sie marschierte los. Tanis streckte seine Hand aus und hielt sie fest. Bupu starrte ihn tief beleidigt an. Der Halb-Elf zog seine Hand zurück. »Bitte. Hör mal einen Moment zu! Was ist mit dem Drachen? Wo ist der Drache?«

Bupus Augen wurden groß. »Du willst Drachen?« fragte sie. »Nein!« schrie Tanis. »Wir wollen den Drachen nicht. Aber wir müssen wissen, ob der Drache hierher kommt...« Er spürte Sturms Hand an seiner Schulter und gab auf. »Vergiß es. Mach dir nichts daraus«, sagte er erschöpft. »Geh weiter.« Bupu schenkte Raistlin einen Blick voll tiefem Mitgefühl, daß er es mit solch verrückten Leuten zu tun hatte, nahm ihn bei der Hand und trottete die Straße zum Westen hinunter. Die anderen Gossenzwerge zottelten hinterher. Halbbetäubt vom donnernden Lärm des Wasserfalls folgten die Gefährten und sahen sich unbehaglich um. Dunkle Fenster und finstere Türeingänge schienen sie drohend zu beäugen. Jeden Moment erwarteten sie schuppige bewaffnete Drakonier. Aber die Gossenzwerge schienen unbekümmert zu sein. Sie patschten die Straße entlang, hielten sich so nahe wie möglich bei Raistlin und plapperten in ihrer ungehobelten Sprache. Schließlich wurde das Geräusch des Wasserfalls leiser. Der Nebel hielt sich jedoch weiterhin, und die Stille der toten Stadt war bedrückend. Plötzlich endeten die Gebäude, und die Straße mündete in einen großen, kreisrunden Platz. In seiner Mitte traf sich der Fluß mit einem aus dem Norden kommenden Strom; an ihrem Zusammenfluß bildeten sich kleine Wirbel, und vereint flössen sie dann zwischen einer anderen Gruppe verfallener Häuser weiter.

Das Licht aus einer Spalte an der Höhlendecke tänzelte auf der Wasseroberfläche.

»Andere Seite Großer Platz«, erklärte Bupu.

Die Gefährten hielten vor dem Schatten eines zerfallenen Gebäudes. Alle hatten den gleichen Gedanken: Der Platz bot in weitem Umkreis nicht den allerkleinsten Schutz, nichts, wo sie sich verstecken konnten.

Bupu, die sorglos weitergetrottet war, stellte plötzlich fest, daß ihr nur noch die Gossenzwerge folgten. Sie sah sich irritiert um. »Ihr kommt - Großbulp dieser Weg.«

»Sieh mal!« Goldmond ergriff Tanis' Arm.

Auf der anderen Seite des riesigen Platzes standen hohe Marmorsäulen, die ein Steindach trugen. Die Nebel lösten sich, und Tanis konnte hinter den Säulen einen Hof erkennen. Hinter dem Hof wiederum hoben sich die dunklen Konturen hoher, kuppelförmiger Gebäude ab. Die Nebel schlössen sich wieder. Obwohl dem Zerfall und der Zerstörung anheimgefallen, mußte dieses Gebilde einst der schönste Platz in Xak Tsaroth gewesen sein.

»Der Königspalast«, bestätigte Raistlin hustend.

»Pssst!« mahnte Goldmond. »Siehst du nicht? Nein, warte...« Einen Moment lang konnten die Gefährten überhaupt nichts erkennen. Dann verzog sich der Nebel. Die Gefährten schraken in einen dunklen Türeingang zurück. Die Gossenzwerge hielten mitten auf dem Platz inne, wirbelten herum und rannten zurück, um sich hinter Raistlin zu verkriechen. Bupu spähte unter dem Ärmel des Magiers vor zu Tanis. »Der Drache«, sagte sie. »Willst du?«

Es war der Drache.

Geschmeidig und schwarz glänzend, die ledernen Flügel an die Seiten gelegt, glitt Khisanth unter dem Dach hervor. Seine Vorderklauen klapperten auf den Marmorstufen, als er stehenblieb und mit seinen strahlendroten Augen in den Nebel blickte. Seine schwarzen Beine und sein Schwanz waren nicht zu sehen. Ein unterwürfiger Drakonier ging neben ihm. Die beiden waren offensichtlich in eine Unterhaltung vertieft. Khisanth war wütend. Der Drakonier brachte ihm beunruhigende Neuigkeien - es war unmöglich, daß einer der Fremden seinen Angriff am Brunnen überlebt hatte! Aber nun berichtete der Hauptmann seiner Wache von Fremden in der Stadt! Fremde, die seine Streitkräfte mit Geschick und Mut angegriffen hatten, Fremde, die einen braunen Stab bei sich trugen, dessen Beschreibung jedem Drakonier, der in diesem Teil des Kontinents diente, bekannt war.

»Ich kann deinem Bericht keinen Glauben schenken! Niemand würde mir entkommen.« Khisanths Stimme war sanft, fast schnurrend, trotzdem zitterte der Drakonier. »Sie hatten den Stab nicht bei sich. Ich hätte seine Gegenwart gespürt. Und diese Eindringlinge befinden sich immer noch in den oberen Kammern? Bist du sicher?«

Der Drakonier schluckte und nickte. »Es gibt keinen Weg nach unten, Hoheit, nur mit dem Aufzug.«

»Es gibt andere Wege, Echse«, schnarrte Khisanth. »Diese erbärmlichen Gossenzwerge kriechen hier überall wie Würmer herum. Die Eindringlinge haben also den Stab, und sie versuchen, in den unteren Teil der Stadt zu kommen. Das kann nur eins bedeuten – sie sind hinter den Scheiben her! Wie haben sie davon erfahren?« Der Drache warf seinen Kopf in alle Richtungen, als ob er jene durch den Nebel sehen könnte, die seine Pläne gefährdeten. Aber der Nebel wurde immer dichter. Khisanth fauchte irritiert. »Der Stab! Dieser elende Stab! Verminaard hätte mit seinen klerikalen Kräften, mit denen er sich doch immer so brüstet, dies voraussehen müssen, dann hätte der Stab vernichtet werden können. Aber nein, er ist mit seinem Krieg beschäftigt, während ich hier in dem feuchten Grab dieser verdammten Stadt verkümmere.« Khisanth kaute nachdenklich an einer Kralle.

»Du könntest die Scheiben zerstören«, schlug der Drakonier mutig vor.

»Dummkopf, das haben wir doch versucht!« höhnte Khisanth. Er hob seinen Kopf. »Nein, es ist zu gefährlich, hier länger zu bleiben. Wenn diese Eindringlinge das Geheimnis kennen, dann wissen auch andere davon. Die Scheiben müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. Informiere Lord Verminaard, daß ich Xak Tsaroth verlasse. Ich werde in Fax Tharkas auf ihn stoßen und die Eindringlinge zum Verhör mitbringen.« »Lord Verminaard informieren?« fragte der Drakonier entsetzt. »Dann nicht«, antwortete Khisanth sarkastisch. »Wenn du auf dieser Farce bestehst, dann bitte meinen Lord um Erlaubnis. Vermutlich hast du die meisten Soldaten in den oberen Teil geschickt.« »Ja, Hoheit.« Der Drakonier verbeugte sich.

Khisanth überdachte noch einmal die Angelegenheit.

»Vielleicht bist du doch nicht so ein Idiot«, sinnierte er. »Hier unten habe ich alles unter Kontrolle. Konzentriere dich auf die Suche im oberen Teil der Stadt. Wenn du die Eindringlinge findest, bringe sie unverzüglich zu mir. Verletzt sie nicht mehr als notwendig, wenn ihr sie überwältigt. Und geh mit dem Stab vorsichtig um!«

Der Drakonier fiel vor dem Drachen auf die Knie, der höhnisch aufschnaubte und sich dann in die dunklen Schatten zurückzog, aus denen er gekommen war.

Der Drakonier rannte die Treppe hinunter, wo er auf weitere Kreaturen traf, die aus dem Nebel auftauchten. Nach einem kurzen gedämpften Austausch in ihrer Sprache marschierten die Drakonier in die nördliche Straße. Sie gingen lässig, lachten über irgendeinen Witz und waren bald im Nebel verschwunden.

»Sie wirken nicht gerade besorgt«, sagte Sturm.

»Nein«, stimmte Tanis bitter zu. »Sie glauben, sie haben uns.« »Machen wir uns doch nichts vor, Tanis. Sie haben recht«, sagte Sturm. »Unser Plan hat einen gewaltigen Haken. Wenn wir uns einschleichen, ohne daß der Drache das mitbekommt, und wenn wir die Scheiben finden – müssen wir immer noch aus dieser verfluchten Stadt hinaus, in der Drakonier auf allen oberen Ebenen herumkriechen.«

»Ich habe dich zuvor gefragt, und ich frage dich jetzt noch einmal«, antwortete Tanis. »Hast du einen besseren Plan?« »Ich habe einen besseren Plan«, meldete sich Caramon schroff zu Wort. »Faß das nicht als Respektlosigkeit auf, Tanis, denn wir alle wissen, wie Elfen über das Kämpfen denken.« Der große Mann zeigte auf den Palast. »Offensichtlich lebt dort der Drache. Laßt uns ihn hervorlocken, so wie wir es geplant haben, nur daß wir ihn bekämpfen, anstatt uns wie Diebe einzuschleichen. Wenn der Drache erledigt ist, kommen wir an die Scheiben.«

»Mein lieber Bruder«, flüsterte Raistlin, »deine Stärke liegt in deinem Schwertarm, aber nicht in deinem Kopf. Tanis ist weise, so wie der Ritter sagte, als wir dieses kleine Abenteuer begannen. Du würdest gut daran tun, auf ihn zu hören. Was weißt du über den Drachen, mein Bruder? Du hast doch die Wirkung seines tödlichen Atems gesehen.« Raistlin wurde von einem Hustenanfall überwältigt. Er zog ein Tuch aus seinem Ärmel. Tanis sah, daß das Tuch blutbefleckt war.

Nach einem Moment fuhr Raistlin fort. »Du könntest dich vielleicht verteidigen und vielleicht auch gegen die scharfen Krallen und Fänge und den aufpeitschenden Schwanz angehen, der diese Säulen umreißen kann. Aber wie willst du dich, lieber Bruder, gegen seine Magie verteidigen? Er könnte dich verzaubern, so wie ich meine kleine Freundin verzaubert habe. Er könnte dich mit einem einzigen Wort in Schlaf versetzen und dich dann töten, während du süß träumst.«

»Ist ja schon gut«, murrte Caramon verdrossen. »Ich wußte nichts darüber. Verdammt, wer weiß denn schon etwas über diese Ungeheuer!«

»In Solamnia kennt man viele Legenden über Drachen«, sagte Sturm leise.

Er will auch den Drachen bekämpfen, stellte Tanis fest. Er denkt an Huma, den vollkommenen Ritter, genannt Drachentöter.

Bupu zog an Raistlins Robe. »Komm. Du gehst. Keine Herren mehr. Keine Drache mehr.« Sie und die anderen Gossenzwerge patschten wieder über den Platz.

»Und?« fragte Tanis und sah auf die beiden Krieger.

»Anscheinend haben wir keine Wahl«, sagte Sturm steif. »Wir stellen uns nicht dem Feind, sondern verstecken uns hinter Gossenzwergen! Früher oder später aber wird die Zeit kommen, und dann werden wir diesen Ungeheuern gegenübertreten!« Er drehte sich auf den Absatz um und ging erhobenen Hauptes los. Die Gefährten folgten.

»Vielleicht machen wir uns unnötige Sorgen.« Tanis kratzte sich den Bart und sah zum Palast zurück, der nun wieder im Nebel verborgen lag. »Vielleicht ist er der einzige Drache auf Krynn - einer, der das Zeitalter der Träume überlebt hat.« »Erinnere dich an die Sterne, Tanis«, murmelte Raistlin. »Die Königin der Finsternis ist zurückgekehrt. Und vergiß ihre Kriegsheere nicht. Und ihre Kriegsheere waren nach dem Hohelied unserer Vorfahren Drachen. Sie ist zurückgekehrt und mit ihr die Drachen.«

»Hier!« Bupu hängte sich an Raistlin und zeigte auf eine Straße, die nach Norden abzweigte. »Dieses Haus!«

»Zumindest ist es trocken«, grummelte Flint. Sie wandten sich nach rechts und ließen den Fluß hinter sich. Der Nebel schloß die Gefährten völlig ein, als sie auf einen weiteren Block zerfallener Häuser stießen. Dieser Teil der Stadt mußte der ärmere Teil von Xak Tsaroth selbst in seinen Glanztagen gewesen sein. Die Gossenzwerge begannen zu jauchzen und zu brüllen, als sie die Straße hinunterliefen. Sturm sah Tanis beunruhigt an.

»Kannst du sie nicht zum Schweigen bringen?« fragte Tanis Bupu. »Damit uns die Drakonier, ich meine die Herren, nicht finden.«

»Pah!« Sie zuckte die Achseln. »Keine Herren. Sie kommen nicht hierher. Angst vor Großbulp.«

Tanis hatte zwar seine Zweifel, aber als er sich umschaute, konnte er keine Drakonier entdecken. Nach seinen Beobachtungen schienen die Echsen ein gut geordnetes militärisches Leben zu führen. Im Gegensatz dazu waren die Straßen dieses Viertels mit Abfall und Schmutz überhäuft. Die verfallenen Häuser barsten vor Gossenzwergen. Männer, Frauen und drekkige zerlumpte Kinder starrten sie neugierig an. Bupu und die anderen verzauberten Gossenzwerge drängten sich um Raistlin und trugen ihn fast:

Die Drakonier waren unbestreitbar klug, dachte Tanis. Sie erlaubten ihren Sklaven, ihr Leben in Frieden zu führen - solange sie nicht aufmuckten. Eine gute Idee in Anbetracht dessen, daß die Gossenzwerge den Drakoniern zahlenmäßig überlegen waren. Obwohl sie im Grunde Feiglinge waren, hatten die Gossenzwerge den Ruf, äußerst unangenehme Kämpfer zu sein, wenn sie sich in die Enge getrieben sahen.

Bupu führte die Gruppe zu einer der dunkelsten, schäbigsten und dreckigsten Gassen, die Tanis je gesehen hatte. Ein fäuliger Dunst entströmte ihr. Die Häuser fielen nach vorn und hielten sich gerade noch aufrecht, wie Betrunkene, die aus einer Taverne stolpern. Während er sich noch umsah, flitzten kleine dunkle Kreaturen aus der Gasse, und die Kinder begannen ihnen hinterherzujagen.

»Abendessen«, kreischte eines und schmatzte mit den Lippen. »Das sind Ratten!« schrie Goldmond entsetzt.

»Müssen wir dahin gehen?« knurrte Sturm und starrte auf die wackeligen Häuser.

»Der Gestank reicht schon, um einen Troll zu Fall zu bringen«, fügte Caramon hinzu. »Und ich würde lieber unter einer Klaue des Drachen sterben als unter einer dieser Bruchbuden.« Bupu zeigte auf das verkommenste Haus in der Gasse.

»Großbulp!«

»Bleib hier und halte Wache, wenn du möchtest«, sagte Tanis zu Sturm. »Ich werde mit dem Großbulp reden.«

»Nein«, knurrte der Ritter und folgte dem Halb-Elf gestikulierend in die Gasse. »Wir bleiben zusammen.« Die Gasse verlief etwa zweihundert Meter nach Osten, bog dann nach Norden ab und endete plötzlich. Vor ihnen erhob sich eine verfallene Ziegelsteinmauer. Der Rückweg war von Gossenzwergen blockiert, die ihnen nachgerannt waren. »Hinterhalt!« zischte Sturm und zog sein Schwert. Aus Caramons Kehle stieg ein tiefes Grollen. Die Gossenzwerge wurden beim Anblick des aufblitzenden kalten Stahls von Panik erfaßt. Sie stolperten und fielen übereinander, wirbelten herum und ergriffen die Flucht.

Bupu starrte Sturm und Caramon voller Abscheu an. Dann wandte sie sich an Raistlin. »Du sie aufhören!« verlangte sie und zeigte auf die Krieger. »Oder nicht Großbulp.«

»Halte dein Schwert zurück, Ritter«, zischte Raistlin, »bis du sicher bist, einen Widersacher gefunden zu haben, der dir ebenbürtig ist.« Sturm blickte Raistlin finster an, und einen Moment lang dachte Tanis, er würde den Magier angreifen, aber dann schob er seine Waffe in die Scheide. »Ich wünschte, ich könnte dein Spiel durchschauen, Magier«, sagte Sturm eisig. »Du warst so versessen darauf, in diese Stadt zu kommen, schon bevor wir von den Scheiben erfuhren. Warum? Worauf bist du aus?« Raistlin antwortete nicht. Er starrte den Ritter mit seinen seltsam goldenen Augen feindselig an, dann flüsterte er Bupu zu: »Sie werden euch nicht mehr belästigen, Kleine.«

Bupu vergewisserte sich, ob die Krieger wirklich eingeschüchtert waren, dann ging sie weiter und klopfte zweimal an die Wand. »Geheimtür«, sagte sie wichtigtuerisch.

Ein zweimaliges Klopfen war die Antwort.

»Signal«, sagte sie. »Dreimal klopfen. Sie uns herein.« »Aber sie hat nur zweimal geklopft...«, kicherte Tolpan. Bupu sah ihn an.

»Psst!« wies Tanis den Kender zurecht.

Nichts passierte. Bupu klopfte stirnrunzelnd noch zweimal. Wieder wurde zweimal zurückgeklopft. Sie wartete. Caramon, dessen Augen auf die Gasse gerichtet waren, begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen. Bupu klopfte wieder zweimal. Die gleiche Antwort. Schließlich brüllte Bupu: »Ich klopfe Codeklopf. Laßt uns rein!«

»Geheimklopf fünfmal«, antwortete eine gedämpfte Stimme. »Ich klopfe fünfmal!« behauptete Bupu wütend. »Laßt uns rein!«

»Du hast sechsmal geklopft.«

»Ich habe achtmal gezählt«, warf eine andere Stimme ein. Bupu donnerte plötzlich mit beiden Händen gegen die Wand. Sie öffnete sich. Bupu spähte hinein. »Ich klopfe viermal. Laßt uns rein!« sagte sie und hob eine geballte Faust.

»Schon gut«, murrte eine Stimme.

Bupu schloß die Tür und klopfte zweimal. Tanis hoffte zutiefst, daß weitere Verspätungen vermieden würden. Er sah den Kender, der sich vor unterdrücktem Lachen kaum halten konnte.

Die Tür öffnete sich wieder. »Kommt herein«, sagte die Wache säuerlich. »Aber das waren keine vier Mal«, flüsterte er Bupu zu. Sie ignorierte ihn und rauschte verächtlich an ihm vorbei, ihren Sack hinter sich herziehend. »Wir sehen Großbulp«, verkündete sie.

»Du nimmst dieses Pack zum Großbulp?« Eine der Wachen keuchte und starrte mit aufgerissenen Augen auf den stämmigen Caramon und den hochgewachsenen Flußwind. Sein Gefährte war zurückgewichen. »Großbulp sehen«, sagte Bupu stolz. Einer der Wächter, der seine Augen unablässig auf die bedrohlich wirkende Gruppe gerichtet hielt, wich in einen stinkenden schmutzigen Korridor zurück, dann fing er zu rennen an und schrie aus vollem Halse. »Eine Armee! Eine Armee ist eingedrungen!« Sie konnten das Echo seiner Schreie im Korridor hören. »Pah!« machte Bupu. »Glup-Phunger-Brut! Kommt! Großbulp sehen.«

Sie bog in den Flur ein. Die Gefährten hörten immer noch die Schreie des Gossenzwergs.

»Eine Armee! Eine Armee von Riesen! Rettet den Großbulp!« Großbulp, Phudge I war ein Gossenzwerg unter Gossenzwergen. Er war beinahe intelligent, ein notorischer Feigling und sollte märchenhaft reich sein. Die Bulpe waren seit langer Zeit die Elitesippe in Xak Tsaroth - oder »Th«, wie sie die Stadt nannten -, seitdem Nulp Bulp eines Nachts sturzbetrunken eine Säule hinuntergefallen war und die Stadt entdeckt hatte. Als er am nächsten Morgen nüchtern erwachte, beanspruchte er sie für seine Sippe. Die Bulpe zogen prompt ein und erlaubten den Sippen Slud und Glup Jahre später gnädigerweise, auch in der Stadt zu leben. Das Leben war gut in der zerstörten Stadt gemessen an den Bedürfnissen der Gossenzwerge. Die Außenwelt ließ sie in Ruhe (da die Außenwelt nicht die leiseste Ahnung hatte, daß sie sich dort aufhielten, und wenn doch, dann hätte sich niemand darum gekümmert). Die Bulpe hatten keine Schwierigkeiten, ihre Herrschaft über die anderen Sippen zu behaupten, in erster Linie darum, weil es ein Bulp (Glung) mit einer wissenschaftlichen Ader gewesen war (gewisse eifersüchtige Mitglieder der Slud-Sippe munkelten, daß seine Mutter ein Gnom gewesen wäre), der den Aufzug mit den zwei riesigen Eisentöpfen entwickelt hatte, die von den vorherigen Stadtbewohnern für Schweineschmalz verwendet worden waren. Der Aufzug versetzte die Gossenzwerge in die Lage, ihre Nahrungssuche zum Urwald oberhalb der versunkenen Stadt auszudehnen, und verbesserte somit weitgehend ihre Lebensbedingungen. Glung Bulp wurde ein Held und einstimmig zum Großbulp erklärt. Seitdem war die Herrschaft über die Sippen bei der Bulp-Familie geblieben.

Die Jahre vergingen, und plötzlich zeigte die Außenwelt Interesse an Xak Tsaroth. Die Ankunft des Drachen und der Drakonier stellte einen traurigen Einbruch im Leben der Gossenzwerge dar. Die Drakonier hatten anfänglich geplant, die dreckigen kleinen Störenfriede auszurotten, aber die Gossenzwerge - geführt vom großen Phudge - hatten gekatzbuckelt und sich geduckt und gewinselt und geheult und sich so demütig in den Staub geworfen, daß die Drakonier Gnade walten ließen und sie kurzerhand versklavten.

So kam es, daß die Gossenzwerge – zum ersten Mal seit einigen hundert Jahren ihres Daseins in Xak Tsaroth - zum Arbeiten gezwungen wurden. Die Drakonier setzten Häuser instand, stellten alles unter militärischen Befehl und machten den Gossenzwergen im allgemeinen das Leben schwer, indem sie sie zu den niedersten Diensten zwangen.

Unnötig zu erwähnen, daß der große Phudge über diesen Zustand nicht glücklich war. Er verbrachte lange Stunden mit Überlegungen, wie man dem Drachen beikommen könnte. Natürlich kannte er die Höhle des Untiers und hatte auch einen geheimen Weg entdeckt. Er hatte sich sogar einmal eingeschlichen, als der Drache ausgeflogen war. Phudge war über die Menge schöner Steine und glänzender Münzen vor Ehrfurcht ergriffen gewesen. Der Großbulp hatte in seiner wilden Jugend einige Reisen unternommen, und er wußte, daß die Leute in der Außenwelt gierig auf diese schönen Steine waren und im Tausch viele bunte und prächtige Kleider geben würden (Phudge hatte eine Schwäche für schöne Kleider). Auf der Stelle hatte der Großbulp eine Karte gezeichnet, um den Weg zum Schatz nie zu vergessen. Er hatte sogar die Geistesgegenwart besessen, einige kleinere Steine einzustecken. Phudge träumte noch monatelang von diesem Reichtum, aber er fand nie wieder eine Gelegenheit, die Höhle noch einmal aufzusuchen. Das hatte zwei Gründe: Zum einen hatte der Drache niemals wieder für länger die Höhle verlassen, und zum anderen wurde Phudge nicht mehr aus seiner Karte schlau. Wenn nur der Drache für immer verschwinden würde, dachte er; oder wenn ein Held auftauchte und ihn angenehmerweise erschlüge. Das waren seine liebsten Träume, und so standen die Dinge, als der große Phudge seine Wache hörte, die den Angriff einer Armee ankündigte.

Und so geschah es, daß – als Bupu schließlich den großen Phudge unter seinem Bett hervorzerrte und ihn überzeugte, daß er nicht von einer Armee von Riesen überfallen werden sollte Großbulp Phudge I zu glauben begann, daß Träume doch wahr werden können.

»Und jetzt seid ihr also hier, um den Drachen zu töten«, sagte Großbulp Phudge I zu Tanis Halb-Elf. »Nein«, erwiderte Tanis geduldig. »So ist es nicht.« Die Gefährten standen im Saal der Aghar vor dem Thron eines Gossenzwergs, den Bupu als den Großbulp vorgestellt hatte. Bupu behielt die Gefährten im Auge und erwartete eifrig ihre ehrfürchtigen, überwältigten Blicke. Und sie wurde nicht enttäuscht. Der Gesichtsausdruck der Gefährten konnte wahrhaftig als überwältigt bezeichnet werden.

Die Bulps hatten sämtliche Kostbarkeiten der Stadt Xak Tsaroth zusammengerafft, um den Thronsaal ihres Herrschers zu schmücken. Gemäß der Philosophie: Wenn ein Meter goldener Stoff gut ist, dann sind zwanzig Meter um so besser, und mit einem merkwürdigen ästhetischen Geschmack hatten die Gossenzwerge Großbulps Thronsaal in ein Meisterstück der Verwirrung verwandelt. Schwere verschlissene Goldtücher drapierten jeden Zentimeter der Wände. Riesige Wandteppiche hingen von der Decke (einige falsch herum). Die Wandteppiche mußten einst wunderschön gewesen sein; sie zeigten Szenen aus dem Stadtleben oder stellten Geschichten und Legenden aus der Vergangenheit in zarten Farben dar. Aber die Gossenzwerge, die sie aufmöbeln wollten, waren mit schreienden und sich beißenden Farben an das Gewebe gegangen. Sturm war völlig schockiert, als er mit einem leuchtendroten Huma, der gegen einen violettgepunkteten Drachen unter strahlendgrünem Himmel kämpfte, konfrontiert wurde.

Graziöse nackte Statuen, alle ganz unanatomisch aufgestellt, schmückten außerdem den Raum. Auch sie waren von den Gossenzwergen zu neuer Geltung gebracht worden. Da man reinen weißen Marmor als langweilig und bedrückend empfand, waren die Statuen mit ausreichendem Realismus und einem Blick fürs Detail so bemalt worden, daß Caramon - mit einem verlegenen Blick auf Goldmond - errötete und von da weitestgehend die Augen auf den Boden geheftet hielt. Die Gefährten hatten in der Tat Schwierigkeiten, ernst zu bleiben, als sie in dieses künstlerische Gruselkabinett geführt wurden. Nur einer versagte völlig: Tolpan wurde unverzüglich von solchen Kicheranfällen überwältigt, daß sich Tanis gezwungen sah, den Kender in den Warteraum vor dem Thronsaal zurückzuschicken, damit er sich wieder beruhigen konnte. Die anderen verneigten sich feierlich vor dem großen Phudge mit Ausnahme von Flint, der ohne eine Spur eines Lächelns aufrecht stehen blieb, die Hände an seiner Streitaxt. Der Zwerg hatte seine Hand auf Tanis' Arm gelegt, bevor sie den Thronsaal betreten hatten. »Laß dich nicht auf den Arm nehmen, Tanis«, warnte Flint. »Man kann diesen Kreaturen nicht alles glauben.«

Der Großbulp war ein wenig nervös, als er sich den Gefährten gegenübersah; insbesondere der Anblick der riesigen Kämpfer irritierte ihn. Aber Raistlin gab einige ausgewählte Erklärungen, die den Großbulp beruhigten. Der Magier, von Hustenanfällen geschüttelt, erklärte, daß sie keinen Ärger machen wollten, sondern nur einen Gegenstand von religiöser Bedeutung aus der Höhle des Drachen zurückholen und wieder verschwinden wollten, vorzugsweise ohne den Drachen zu stören.

Dies paßte natürlich überhaupt nicht in Phudges Pläne. Er ging deshalb davon aus, er hätte nicht richtig gehört. Eingemummt in grelle Roben, lehnte er sich zurück und wiederholte ruhig: »Ihr hier. Habt Schwerter. Tötet Drachen.«

»Nein«, sagte Tanis wieder. »Wie unser Freund Raistlin erklärte, bewacht der Drache einen Gegenstand, der unseren Göttern gehört. Wir wollen diesen Gegenstand zurückholen und die Stadt verlassen, bevor der Drache etwas merkt.« Der Großbulp runzelte die Stirn. »Wie weiß ich, daß ihr nicht den ganzen Schatz nehmt, Großbulp nur mit verrücktem Drachen zurücklaßt? Da ist großer Schatz – schöne Steine.« Raistlin sah mit durchdringend glänzenden Augen auf. Sturm spielte nervös an seinem Schwert und betrachtete seinerseits den Magier voller Abscheu.

»Wir werden dir die schönen Steine mitbringen«, versicherte Tanis dem Großbulp. »Hilf uns, und du wirst den ganzen Schatz bekommen. Wir sind nur an dieser Reliquie unserer Götter interessiert.«

Für den Großbulp war es offenkundig geworden, daß er es mit Dieben und Lügnern zu tun hatte und nicht mit Helden, wie er erwartet hatte. Diese Gruppe hatte anscheinend genausoviel Angst vor dem Drachen wie er, und dieser Umstand brachte ihn auf eine Idee. »Was wollt ihr von Großbulp?« fragte er und versuchte dabei, seine Schadenfreude zu unterdrücken und geschickt zu erscheinen. Tanis seufzte erleichtert auf. Zumindest schienen sie irgendwie weiterzukommen. »Bupu« – er zeigte auf die Gossenzwergin, die an Raistlins Ärmel hing - »erzählte uns, daß du der einzige in der Stadt bist, der uns zur Höhle des Drachen führen könnte.«

»Führen!« Der große Phudge verlor einen Moment lang die Fassung und kroch noch tiefer in seine Roben. »Nicht führen! Großbulp ist nicht entbehrlich. Leute brauchen mich!« »Nein, nein. Ich meinte nicht führen«, verbesserte sich Tanis hastig. »Wenn du eine Karte hättest oder jemanden holen könntest, der uns den Weg zeigt.«

»Karte!« Phudge wischte den Schweiß mit dem Ärmel seiner Robe weg. »Hättest du zuerst sagen sollen. Karte. Ja. Ich lasse Karte holen. In der Zwischenzeit eßt ihr. Gäste von Großbulp. Wachen, führt sie in den Speisesaal!«

»Nein, vielen Dank«, sagte Tanis höflich, unfähig, die anderen anzusehen. Sie waren auf ihrem Weg zum Großbulp bereits am Speisesaal vorbeigekommen. Der Geruch allein hatte schon ausgereicht, selbst Caramon den Appetit zu verderben. »Wir haben selbst genug Proviant«, redete Tanis weiter. »Wir würden uns jedoch gern ausruhen, um unsere weiteren Pläne zu besprechen.«

»Sicher.« Der Großbulp rutschte nach vorn. Zwei seiner Wachen eilten herbei, um ihm vom viel zu hohen Thron zu helfen. »Geht zurück in Wartesaal. Setzt euch. Eßt. Redet. Ich hole Karte. Vielleicht erzählt ihr Phudge Pläne?«

Tanis blickte schnell zum Gossenzwerg und sah die schielenden Augen vor List und Tücke blitzen. Den Halb-Elf überlief es plötzlich eiskalt. Ihm wurde klar, daß dieser Gossenzwerg alles andere als ein Tölpel war. Tanis wünschte sich jetzt, sich genauer mit Flint beraten zu haben. »Unsere Pläne sind noch nicht ausgereift, Majestät«, entgegnete der Halb-Elf. Der Großbulp wußte es besser. Vor langer Zeit hatte er ein Loch durch die Wand des Wartesaals bohren lassen, um seine Untertanen belauschen zu können, während sie auf eine Audienz warteten. Von daher wußte er bereits eine Menge über die Pläne der Gefährten und ließ das Thema fallen. Die Anrede mit »Majestät« hatte vielleicht etwas damit zu tun: Noch nie hatte der Großbulp etwas so Passendes gehört.

»Majestät«, wiederholte Phudge und seufzte vor Vergnügen. Der Großbulp winkte gnädig mit seiner schmutzigen Hand, und die Gefährten verließen sich verbeugend den Raum. Großbulp Phudge I stand einen Augenblick neben seinem Thron und lächelte freundlich, bis seine Gäste fort waren. Dann veränderte sich seine Miene, und sein Lächeln wurde so gerissen und hinterhältig, daß seine Wachen voll eifriger Vorfreude näher rückten. »Du«, sagte er zu einer Wache. »Geh zum Schlafraum. Hole die Karte und gib sie den Dummköpfen.«

Die Wache salutierte und rannte davon. Die andere Wache blieb dicht bei ihm und wartete mit offenem Mund auf weitere Befehle. Phudge blickte sich um, dann zog er den Wächter dichter heran und überlegte genau, wie der nächste Befehl zu formulieren war. Er brauchte einige Helden, und wenn er seine eigenen schaffen mußte, egal um was für einen Abschaum es sich handelte, dann würde er es tun. Falls sie sterben würden, war es kein großer Verlust. Sollte es ihnen gelingen, den Drachen zu töten, um so besser. Die Gossenzwerge würden das bekommen, was - für sie - wertvoller war als alle schönen Steine auf Krynn: die Rückkehr zu ihren süßen friedlichen Tagen der Freiheit!

Phudge beugte sich hinüber und flüsterte der Wache ins Ohr: »Du gehst zum Drachen. Bestelle ihm die besten Grüße von Seiner Majestät Großbulp Phudge I und erzähle ihm...«

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