15 Flucht. Der Brunnen. Tod auf schwarzen Flügeln

Der Rauch des brennenden Drakonierlagers hing über dem schwarzen Sumpfland und schützte die Gefährten vor den seltsamen, bösartigen Kreaturen. Die Gefährten wagten nicht einmal, Raistlins Stab als Licht zu verwenden -denn sie konnten von allen Seiten Hörner blasen hören, als die drakonischen Anführer die Ordnung wiederherzustellen versuchten. Fluß wind führte sie. Obwohl Tanis sich immer auf seine eigenen Fähigkeiten hatte verlassen können, war ihm in diesem schwarzen Nebel sein Orientierungssinn völlig verlorengegangen. Ein gelegentliches flüchtiges Auftauchen der Sterne zeigte ihm, daß sie sich gen Norden bewegten. Sie waren noch nicht weit gegangen, als Flußwind einen unvorsichtigen Schritt machte und knietief im Sumpf versank. Nachdem Tanis und Caramon den Barbaren herausgezogen hatten, kroch Tolpan voran und prüfte den Boden mit seinem Hupakstab, der jedes Mal versank.

»Uns bleibt nichts anderes übrig, als durchzuwaten«, sagte Flußwind bitter.

Sie suchten eine Stelle, wo das Wasser flacher zu sein schien, verließen den festen Grund und plumpsten in den Schlamm. Zuerst war es nur knöcheltief, dann versanken sie bis zu den Knien. Schon bald wurde es tiefer und tiefer. Tanis mußte Tolpan tragen. Der kichernde Kender hielt sich an seinem Hals fest. Flint schlug standhaft jedes Hilfsangebot ab, selbst als seine Bartspitze naß wurde. Dann verschwand er. Caramon fischte den Zwerg aus dem Wasser und warf ihn sich wie einen nassen Sack über die Schulter. Der Zwerg war zu müde und zu erschrocken, um zu murren. Raistlin stolperte hustend durch das Wasser, sein Gewand zog ihn nach unten. Müde und immer noch vom Gift krank, brach der Magier schließlich zusammen. Sturm konnte ihn gerade noch packen und weiter durch den Sumpf schleifen.

Nachdem sie sich eine Stunde im eisigen Wasser abgequält hatten, erreichten sie schließlich festen Boden und ließen sich zitternd vor Kälte fallen, um sich ein wenig auszuruhen. Die Bäume begannen zu knarren und zu ächzen, ihre Zweige verbogen sich, als ein scharfer Wind vom Norden aufkam. Raistling sah hoch. Der Magier hielt den Atem an. Beunruhigt setzte er sich auf.

»Sturmwolken.« Er würgte vor Husten und versuchte zu sprechen. »Sie kommen vom Norden. Wir haben keine Zeit. Wir müssen Xak Tsaroth erreichen. Bevor der Mond untergeht! Beeilt euch!«

Alle sahen auf. Eine immer dichter werdende Dunkelheit zog aus dem Norden heran und verschluckte die Sterne. Tanis spürte die gleiche Dringlichkeit, die auch den Magier antrieb. Müde kämpfte er sich auf die Füße. Wortlos erhoben sich auch die anderen und stolperten weiter. Rußwind übernahm wieder die Führung. Wieder versperrte dunkles Sumpfwasser ihnen den Weg.

»Nicht schon wieder!« murrte Flint.

»Nein, wir brauchen nicht wieder zu waten. Seht mal«, sagte Flußwind. Er führte sie zum Wasserrand. Dort, inmitten vieler anderer Ruinen ragte ein Obelisk hervor, der entweder eingefallen oder umgestürzt worden war und so eine Brücke bildete, die zum anderen Ufer führte.

»Ich gehe als erster«, bot sich Tolpan an und hüpfte energiegeladen auf den großen Stein. »He, hier steht etwas geschrieben. Runen.« »Das muß ich sehen!« flüsterte Raistlin und eilte hinüber. Er befahl: »Shirak«, und der Kristall erstrahlte.

»Beeil dich!« grollte Sturm. »Du hast gerade unseren Standort in einem Umkreis von zwanzig Meilen preisgegeben.«

Aber Raistlin ließ sich nicht hetzen. Er hielt das Licht über die spinnenartigen Runen und studierte sie aufmerksam. Tanis und die anderen kletterten auf den Obelisk und gesellten sich zu ihm.

Der Kender bückte sich und fuhr mit seiner kleinen Hand die Runen entlang. »Was sagen sie aus, Raistlin? Kannst du sie lesen? Die Sprache scheint sehr alt zu sein.« »Sie ist sehr alt«, wisperte der Magier. »Sie rührt aus der Zeit vor der Umwälzung her. Die Runen bedeuten: ›Die herrliche Stadt Xak Tsaroth, dessen Schönheit dich umgibt, bezeugt das Gute ihrer Bewohner und ihrer ehrenhaften Taten. Die Götter belohnen uns mit der Gnade unserer Heimat.‹«

»Wie entsetzlich!« Goldmond erschauderte, als sie auf die Ruinen und die Verwüstungen blickte.

»Die Götter haben sie in der Tat belohnt«, sagte Raistlin mit einem bösen Lächeln. Niemand sprach. Dann wisperte Raistlin: »Dulak«, und das Licht ging aus. Plötzlich schien die Nacht noch dunkler. »Wir müssen weitergehen«, sagte der Magier. »Sicherlich gibt es hier noch mehr als ein gestürztes Monument, das kennzeichnet, wofür dieser Ort einst stand.« Sie gingen über den Obelisken und fanden sich in dichtem Urwald wieder. Zuerst war kein Pfad zu sehen, aber dann fand Flußwind nach langem Suchen einen, der durch Schlingpflanzen und Bäume führte. Er beugte sich, um ihn näher zu untersuchen. Sein Gesicht war verzerrt, als er sich wieder erhob.

»Drakonier?« fragte Tanis.

»Ja«, sagte er dumpf. »Spuren von vielen Klauenfüßen. Und sie führen nach Norden, direkt in die Stadt.«

Tanis fragte gedämpft: »Ist das die zerstörte Stadt - in der man dir den Stab gegeben hat?«

»Und wo der Tod schwarze Flügel hat«, fügte Flußwind hinzu. Er schloß die Augen und fuhr mit einer Hand über sein Gesicht. »Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern – aber ich fürchte mich, ohne den Grund zu kennen.«

Tanis legte seine Hand auf Flußwinds Arm. »Die Elfen haben ein Sprichwort: ›Nur die Toten sind ohne Furcht.‹«

Flußwind verblüffte ihn, als er plötzlich seine Hand drückte. »Ich habe niemals zuvor einen Elfen kennengelernt«, sagte der Barbar. »Mein Volk traut ihnen nicht und sagt, daß die Elfen sich weder um Krynn noch um Menschen kümmern. Ich glaube, mein Volk irrt sich. Ich freue mich, dich getroffen zu haben, Tanis aus Qualinost. Ich betrachte dich als meinen Freund.«

Tanis kannte sich ausreichend mit den Gebräuchen der Ebenen aus, um zu erkennen, daß sich Flußwind mit dieser Äußerung bereit erklärt hatte, alles für den Halb-Elf zu opfern - sogar sein Leben. Ein Freundschaftseid war ein heiliger Eid bei den Barbaren. »Du bist auch mein Freund, Flußwind«, sagte Tanis schlicht. »Du und Goldmond seid beide meine Freunde.« Flußwind richtete seine Augen auf Goldmond, die in ihrer Nähe stand, auf ihren Stab gestützt, mit geschlossenen Augen, das Gesicht vor Schmerz und Erschöpfung verzogen. Flußwinds Gesicht wurde vor Mitgefühl weich, als er sie ansah. Dann verhärtete es sich wieder und wurde stolz und ernst. »Xak Tsaroth ist nicht mehr weit entfernt«, sagte er kühl. »Und diese Spuren sind alt.« Er führte die Gefährten durch den Urwald. Kurz darauf veränderte sich plötzlich der Pfad vor ihnen. »Eine Straße!« rief Tolpan aus. »Der Stadtrand von Xak Tsaroth!« keuchte Raistlin. Flint sah sich voller Abscheu um. »Was für ein Schlamassel! Wenn das größte Geschenk an die Menschheit hier sein soll, dann ist es aber gut versteckt!« Tanis stimmte ihm zu. Niemals zuvor hatte er einen trostloseren Ort gesehen. Als sie weitergingen, führte die nun breite Straße sie zu einem offenen gepflasterten Hof. Zum Osten hin erstreckten sich vier hohe freistehende Säulen, die nichts trugen, denn die Ruinen des Gebäudes lagen vor ihnen. Eine riesige, unversehrte, kreisförmig angelegte Steinmauer erhob sich vor ihnen. Caramon ging zu ihr und verkündete, daß es ein Brunnen sei.

»Scheint tief zu sein«, sagte er. Er beugte sich vor und spähte hinunter. »Und stinkt.«

Nördlich vom Brunnen stand das anscheinend einzige Gebäude, das der Zerstörung durch die Umwälzung standgehalten hatte. Es war aus weißem Stein erbaut und wurde von hohen schlanken Säulen getragen. Große goldene Doppeltüren glänzten im Mondschein. »Das war ein Tempel für die alten Götter«, sagte Raistlin mehr zu sich als zu den anderen. Aber Goldmond, die neben ihm stand, hörte sein Wispern.

»Ein Tempel?« wiederholte sie und starrte auf das Gebäude. »Wie schön.« Sie ging auf den Tempel zu, seltsam fasziniert. Tanis und die anderen durchsuchten den Platz und fanden kein anderes unversehrtes Gebäude. Geriffelte Säulen lagen herum, ihre zerbrochenen Teile zeigten noch ihre frühere Schönheit. Statuen waren teilweise auf groteske Weise enthauptet. Alles war alt, so alt, daß sich sogar der Zwerg jung fühlte. Flint setzte sich auf eine Säule. »Nun, hier sind wir also.« Er blinzelte zu Raistlin und gähnte. »Was nun, Magier?« Raistlin wollte gerade etwas sagen, als Tolpan schrie: »Drakonier!« Alle wirbelten mit gezogenen Waffen herum. Ein Drakonier starrte vom Brunnenrand auf sie herab.

»Haltet ihn auf!« rief Tanis. »Er wird die anderen warnen!« Aber bevor ihn jemand erreichen konnte, hatte der Drakonier seine Flügel ausgebreitet und flog in den Brunnen. Raistlin rannte zum Brunnen und spähte über den Rand. Er hob seine Hand, um einen Zauber zu werfen, zögerte dann und ließ die Hand sinken. »Ich kann nicht«, erklärte er. »Ich kann nicht denken. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muß schlafen!« »Wir sind alle erschöpft«, sagte Tanis müde. »Wenn dort unten etwas ist, wird er es gewarnt haben. Wir können jetzt nichts unternehmen. Wir müssen uns ausruhen!«

»Er muß etwas warnen«, flüsterte Raistlin. Er zog seinen Umhang enger um sich und starrte mit aufgerissenen Augen umher. »Könnt ihr es nicht fühlen? Einer von euch? Halb-Elf? Etwas Bösartiges ist dabei, wach zu werden.«

Alle schwiegen.

Dann kletterte Tolpan auf die Mauer und sah hinunter. »Schaut! Der Drakonier schwebt da unten wie ein Blatt. Seine Flügel schlagen nicht...«

»Sei still!« schnappte Tanis.

Tolpan blickte den Halb-Elf erstaunt an - Tanis' Stimme klang angespannt und unnatürlich. Der Halb-Elf starrte auf den Brunnen und spielte nervös mit seinen Fingern. Alles war ruhig. Zu ruhig. Die Gewitterwolken ballten sich im Norden zusammen, aber es wehte kein Wind. Nicht ein Zweig knisterte, nicht ein Blatt rührte sich.

Dann wich Raistlin langsam vom Brunnen zurück und erhob seine Hände, als ob er eine furchtbare Gefahr abwehren wollte. »Ich spüre es auch.« Tanis schluckte. »Was ist es?«

»Ja, was ist es?« Tolpan blickte weiterhin eifrig in den Brunnen. Er sah genauso tief und dunkel aus wie die Stundenglasaugen des Magiers. »Holt ihn dort weg!« schrie Raistlin.

Tanis, von der Furcht des Magiers und seinem wachsenden Empfinden, daß etwas Furchtbares geschehen würde, angesteckt, rannte zu Tolpan. Schon als er zu laufen begann, spürte er den Boden unter seinen Füßen erbeben. Der Kender stieß einen erschreckten Schrei aus, als die uralte Steinmauer des Brunnens einstürzte. Tolpan fühlte sich in die grauenhafte Schwärze gleiten. Er scharrte hektisch mit Händen und Füßen, um sich an den bröckelnden Steinen festzuhalten. Tanis sprang verzweifelt vor, aber er war zu weit entfernt.

Fluß wind hatte sich auch in Bewegung gesetzt, als er Raistlins Schrei gehört hatte, und den Brunnen schneller erreicht. Er konnte Tolpan noch am Kragen packen und ihn von der Mauer wegziehen, bevor die Steine in die Schwärze stürzten. Wieder erzitterte der Boden. Dann fuhr ein eiskalter Windstoß aus dem Brunnen und wirbelte Staub und Laub vom Hof in die Luft.

»Lauft!« versuchte Tanis zu schreien, aber er würgte von dem widerlichen Gestank, der aus dem Brunnen fuhr.

Die noch stehenden Säulen begannen zu wanken. Die Gefährten starrten ängstlich auf den Brunnen. Dann riß Fluß wind seinen Blick fort. »Goldmond...«, rief er. Er ließ Tolpan fallen. »Goldmond!« Er hielt inne, als ein hohes Kreischen aus den Tiefen des Brunnens ertönte. Der Ton war so laut und schrill, daß er das Gehirn zu durchbohren schien. Flußwind suchte hektisch nach Goldmond und rief immer wieder ihren Namen. Tanis stand wie gelähmt. Unfähig sich zu bewegen, sah er Sturm, der sich mit dem Schwert in der Hand langsam vom Brunnen zurückzog. Er sah Raistlin – das gespenstische Gesicht des Magiers glänzte metallgelb, seine goldenen Augen rot im Schein des roten Mondes -, der etwas schrie, das Tanis nicht verstand. Er sah Tolpan mit weit aufgerissenen Augen zum Brunnen starren. Sturm rannte über den Hof, klemmte sich den Kender unter einen Arm und eilte auf die Bäume zu. Caramon lief zu seinem erschöpften Bruder, fing ihn auf und suchte irgendwo Schutz. Tanis wußte, daß etwas monströses Böses aus dem Brunnen erscheinen würde, aber er konnte sich nicht bewegen. Die Worte »Renne, Dummkopf, renne!« schrien in seinem Gehirn.

Auch Flußwind blieb neben dem Brunnen stehen. Er bekämpfte seine wachsende Furcht. Er konnte Goldmond nicht finden! Durch den Kender abgelenkt, hatte er nicht bemerkt, daß Goldmond auf den unzerstörten Tempel zugegangen war. Er sah sich wild um und kämpfte auf dem bebenden Boden um sein Gleichgewicht. Das hohe kreischende Geräusch, das Beben und Zittern des Bodens brachten verborgene alptraumhafte Erinnerungen zurück. »Tod auf schwarzen Flügeln.« Er schwitzte und zitterte, zwang sich dann, seine Gedanken auf Goldmond zu konzentrieren. Sie brauchte ihn, er wußte es -und nur er wußte auch, daß ihre Maske der Stärke nur ihre Furcht, ihre Zweifel und ihre Unsicherheit überdeckte. Sie würde sich schrecklich ängstigen, und er mußte sie finden.

Als die Steine des Brunnens zu rutschen begannen, wich Flußwind zurück und erblickte Tanis. Der Halb-Elf schrie und zeigte nach hinten zum Tempel. Flußwind konnte ihn aber wegen des kreischenden Lärms nicht verstehen. Dann begriff er! Goldmond! Flußwind wollte ihr nachlaufen, aber er verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.

Dann wurde plötzlich der Schrecken aus dem Brunnen sichtbar - der Schrecken seiner fiebrigen Alpträume. Flußwind schloß die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen.

Es war ein Drache.

Tanis, dem alles Blut aus dem Körper zu weichen schien, sah auf den Drachen, der aus dem Brunnen brach, und dachte: »Wie schön... wie schön...«

Schwarz und geschmeidig stieg der Drachen empor, seine glitzernden Flügel eng an die Seiten geschmiegt, mit glänzenden Schuppen. Seine Augen schimmerten rotschwarz in der Farbe geschmolzenen Steins. Seine Zähne blitzten weiß und böse auf. Die lange rote Zunge rollte sich zusammen, als er die Nachtluft einatmete. Der Enge des Brunnens entronnen, breitete der Drachen seine Flügel aus, wischte Sterne aus und verdunkelte den Mondschein. Beide Flügel waren mit weißen Klauen versehen, die im Licht von Lunitari blutrot schienen.

Eine Furcht, die sich Tanis niemals hatte vorstellen können, schnürte seine Eingeweide zusammen. Sein Herz klopfte schmerzhaft, sein Atem stockte. Er konnte nur voller Entsetzen und Ehrfurcht und Staunen die tödliche Schönheit des Tieres betrachten. Der Drache kreiste höher und höher in den Nachthimmel. Gerade als die lähmende Furcht von Tanis im Schwinden war und er nach Pfeil und Bogen suchte, sprach der Drache.

Er sprach nur ein Wort - ein Wort in der Sprache der Magie -, und eine dichte, schreckliche Dunkelheit fiel vom Himmel und ließ alle erblinden. Tanis verlor sofort jegliches Gespür, wo er sich befand. Er wußte nur, daß über ihm ein Drache flog und angreifen wollte. Er war wehrlos, konnte sich nicht verteidigen, nur sich ducken und auf dem Boden kriechen und verzweifelt versuchen, sich zu verstecken.

Seines Sehsinns beraubt, konzentrierte sich der Halb-Elf auf sein Gehör. Das kreischende Geräusch hatte mit der Dunkelheit nachgelassen. Tanis konnte das langsame sanfte Schlagen der ledernen Flügel des Drachens hören und wußte, daß er kreiste und immer höher stieg. Dann war nichts mehr zu hören. Der Halb-Elf stellte sich einen gewaltigen schwarzen Raubvogel vor, der wartend umherschwebte.

Dann vernahm er ein leises, raschelndes Geräusch, das Geräusch von zitterndem Laub, wenn sich der Wind vor einem Sturm erhebt. Das Geräusch wurde lauter und lauter, bis es das Fegen des Windes war, wenn der Sturm losschlägt, und dann war es das Toben eines Orkans. Tanis drückte seinen Körper dicht an die zerbröckelte Mauer und verdeckte seinen Kopf mit den Armen.

Der Drache griff an.

Khisanth konnte durch die Dunkelheit, die er selbst heraufbeschworen hatte, nichts erkennen, aber er wußte, daß sich die Eindringlinge noch im Hof befanden. Seine Lakaien, die Drakonier, hatten ihn gewarnt, daß eine Gruppe mit dem blauen Kristallstab durch das Land zog. Lord Verminaard wollte diesen Stab, wollte ihm den Stab zur Aufbewahrung geben, damit er niemals von Menschen gesehen würde. Aber er hatte ihn verloren, und Lord Verminaard war alles andere als erfreut gewesen. Er mußte ihn sich zurückholen. Darum hatte Khisanth einen Moment gewartet, bevor er die Dunkelheit heraufbeschworen hatte, die Eindringlinge aufmerksam betrachtet und den Stab gesucht. Wahrnehmend, daß der Stab sich schon außerhalb seiner Sichtweite befand, war er hocherfreut. Er brauchte nur noch zu zerstören.

Der angreifende Drache ließ sich vom Himmel fallen, seine ledernen Flügel krümmten sich zurück wie die Klinge eines schwarzen Dolches. Er flog direkt auf den Brunnen zu, wo er die Eindringlinge, um ihr Leben rennend, gesichtet hatte. Da Khisanth wußte, daß sie von Drachenangst gelähmt waren, war er sich sicher, sie alle auf einen Schlag vernichten zu können. Er öffnete sein mit Reißzähnen bestücktes Maul.

Tanis hörte den Drachen immer näher kommen. Das mächtige flatternde Geräusch wurde lauter und lauter, dann war einen Moment nichts zu hören. Ein keuchendes Geräusch folgte, als ob Luft in einen aufgerissenen Schlund gesogen würde, dann ein fremdes Geräusch, das ihn an Dampf erinnerte, der einem kochenden Kessel entweicht. Etwas Flüssiges platschte neben ihm auf. Er hörte Steine splittern und einkrachen und brodeln. Tropfen der Flüssigkeit fielen auf seine Hand, und er stöhnte auf, als ihn ein sengender Schmerz durchdrang.

Dann hörte Tanis einen Schrei. Es war eine tiefe männliche Stimme - Flußwind. So schrecklich, so schmerzerfüllt, daß Tanis seine Fingernägel in die Handflächen grub. Das Schreien hielt an und ging dann in ein Stöhnen über. Tanis spürte das Brausen eines riesigen Körpers, der an ihm in der Dunkelheit vorbeifegte. Die Steine, an die er seinen Körper drückte, bebten. Dann wurde das Vibrieren immer schwächer, je tiefer der Drache in die Tiefen des Brunnens tauchte. Schließlich war der Boden wieder ruhig.

Tanis öffnete die Augen. Die Dunkelheit war verschwunden. Die Sterne und die Monde funkelten im Himmel. Einen Moment lang konnte Tanis nur noch atmen. Dann erhob er sich und lief auf einen dunklen Umriß zu, der auf dem steinigen Hof lag.

Tanis war der erste, der den Körper des Barbaren erreichte. Er sah einmal hin, würgte und wandte sich ab.

Was von Flußwind übriggeblieben war, hatte mit Menschlichem keine Ähnlichkeit mehr. Das Fleisch des Mannes war versengt. Die weißen Knochen waren deutlich sichtbar, wo Haut und Muskeln an den Armen geschmolzen waren. Seine Augen liefen wie Gallert an den entfleischten kadaverartigen Wangen herunter. Sein Mund war in einem stummen Schrei geöffnet. Sein Brustkorb war freigelegt, Fleischstücke und verkohlte Stoffreste klebten an den Knochen. Aber - das war das Schreckliche – das Fleisch am Oberkörper war weggebrannt, die Organe waren enthüllt und pulsierten im roten Mondschein. Tanis sank zu Boden und übergab sich. Der Halb-Elf hatte Männer an seinem Schwert sterben sehen. Er hatte sie von Trollen in Stücke gehackt gesehen. Aber dies... dies war so entsetzlich anders, und Tanis wußte, daß dieses Bild ihn ewig verfolgen würde. Ein kräftiger Arm griff an seine Schulter und bot stummes Mitgefühl und Verständnis. Die Übelkeit ging vorüber. Tanis setzte sich auf, wischte sich den Mund ab, versuchte sich zum Schlucken zu zwingen und würgte schmerzhaft.

»Bist du in Ordnung?« fragte Caramon besorgt.

Tanis nickte, er brachte keinen Ton heraus. Dann drehte er sich um.

»Mögen die wahren Götter Erbarmen zeigen! Tanis, er lebt noch! Seine Hand hat sich bewegt!« Sturm würgte.

Tanis erhob sich und taumelte auf den Körper zu. Eine der verkohlten Hände hatte sich erhoben und griff in die Luft. »Bereite dem ein Ende!« sagte Tanis heiser. »Bereite dem ein Ende! Sturm...«

Der Ritter hatte bereits sein Schwert gezogen. Er küßte den Knauf, hob die Klinge gen Himmel und stand vor Flußwinds Körper. Er schloß die Augen und zog sich geistig in eine vergessene Welt zurück, wo der Tod in der Schlacht glorreich und gut war. Langsam und feierlich begann er ein uraltes solamnisches Todeslied. Während er die Worte sprach, die sich der Seele des Kämpfers annehmen und ihn ins Reich des Friedens tragen sollten, drehte er die Klinge des Schwertes um und legte sie auf Flußwinds Brust.

Die Stimme des Ritters erstarb.

Tanis spürte, wie ihn der Frieden der Götter wie kühles reinigendes Wasser beseelte, seine Trauer linderte und das Entsetzen fortschwemmte. Caramon, der neben ihm stand, weinte leise. Der Mondschein beleuchtete die Schwertklinge. Dann sprach eine klare Stimme. »Hört auf. Bringt ihn zu mir.« Tanis und Caramon sprangen auf und stellten sich vor Flußwinds Körper, um Goldmond den Anblick zu ersparen. Sturm kam aus seiner inneren Reise wieder in die Wirklichkeit zurück. Goldmond stand an den goldenen, von den Monden beleuchteten Doppeltüren des Tempels. Tanis wollte etwas sagen, aber plötzlich spürte er die kalte Hand des Magiers an seinem Arm. Schaudernd riß er sich los.

»Tut, was sie sagt«, zischte der Magier. »Tragt ihn zu ihr.« Tanis' Gesicht verzerrte sich vor Wut beim Anblick von Raistlins ausdruckslosem Gesicht, seinen gleichgültigen Augen.

»Tragt ihn zu ihr«, wiederholte Raistlin kalt. »Es ist nicht unsere Aufgabe, den Tod dieses Mannes herbeizuführen. Das ist Aufgabe der Götter.«

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