7 Nachts in einer Höhle. Meinungsverschiedenheiten. Tanis entscheidet

Ein eisiger Wind blies über den See. Sturmwolken rollten aus dem Norden und radierten die klaffenden schwarzen Löcher im Himmel aus. Die Gefährten kauerten sich im Boot zusammen und zogen ihre Umhänge dichter an sich, als der Regen niederprasselte. Caramon half Sturm beim Rudern. Der Kämpfer versuchte, mit dem Ritter zu sprechen, aber Sturm ignorierte ihn. In grimmigem Schweigen ruderte er weiter und murmelte nur gelegentlich etwas auf solamnisch.

»Sturm! Dort - zwischen den großen Steinen auf der linken Seite!« rief Tanis aus.

Sturm und Caramon ruderten angestrengt. Bei dem Regen war es schwierig, die Grenzsteine auszumachen, und einen Moment lang schien es, als hätten sie in der Dunkelheit die Orientierung verloren. Dann tauchten die Steine schemenhaft vor ihnen auf. Sturm und Caramon manövrierten das Boot ans Ufer. Tanis sprang hinaus und zog es auf den Strand. Sintflutartige Regenfälle prasselten nieder. Die Gefährten kletterten naß und frierend aus dem Boot. Sie mußten den Zwerg herausziehen Flint war vor Angst steif wie ein toter Goblin. Flußwind und Caramon versteckten das Boot im dichten Ufergebüsch. Tanis führte die anderen einen steinigen Pfad hinauf zu einer schmalen Öffnung in der Felswand. Goldmond sah unschlüssig auf die Öffnung. Sie schien nicht mehr zu sein als ein riesiger Spalt. Im Innern jedoch war die Höhle groß genug, so daß sich alle bequem ausstrecken konnten. »Nettes Heim«, Tolpan sah sich um. »Nicht viele Möbel hier.« Tolpan lächelte den Halb-Elf an. Es war gut, den alten Tanis zu sehen. Er hatte seinen Freund als ungewöhnlich launisch und unschlüssig erlebt, nicht als den starken Führer, an den er sich aus alten Tagen erinnerte. Jedoch nun, da sie wieder unterwegs waren, war der Glanz in die Augen des Halb-Elfen zurückgekehrt. Er hatte seine brütende Schale verlassen und wieder die Führung übernommen, war wieder in seine gewohnte Rolle geschlüpft. Er brauchte dieses Abenteuer, um sich von seinen Problemen abzulenken - was immer das für welche waren. Der Kender, der niemals Tanis' inneren Aufruhr verstanden hatte, war über dieses zufällige Abenteuer glücklich.

Caramon trug seinen Bruder aus dem Boot und legte ihn so sanft wie möglich auf den weichen, warmen Sand, der den Boden der Höhle bedeckte, während Flußwind ein Feuer machte. Dann verdeckte der Barbar den Höhleneingang mit Gestrüpp, um den Schein des Feuers zu verbergen und den Regen fernzuhalten. Er fügt sich gut ein, dachte Tanis, als er den Barbar bei seiner Arbeit beobachtete. Er könnte fast einer von uns sein. Seufzend wandte der Halb-Elf seine Aufmerksamkeit Raistlin zu. Besorgt betrachtete er den jungen Magier. Raistlins blasses Gesicht, in dem sich das flackernde Feuer spiegelte, erinnerte den Halb-Elfen an die Zeit, als er, Flint und Caramon Raistlin gerade noch von einem bösartigen Mob befreien konnten, der den Magier auf einem Scheiterhaufen verbrennen wollte. Raistlin hatte versucht, einen Kleriker-Pfuscher zu entlarven, der die Dorfbewohner um ihr Geld betrog. Doch statt sich auf den Kleriker zu stürzen, hatten sich die Dorfbewohner auf Raistlin gestürzt. So wie Tanis zu Flint gesagt hatte - die Leute wollten an irgend etwas glauben.

Caramon kümmerte sich um seinen Bruder, legte seinen dicken Umhang um seine Schultern. Raistlins Körper wurde von Hustenanfällen geschüttelt, und Blut tröpfelte aus seinem Mund. Seine Augen glänzten fiebrig. Goldmond kniete neben ihm nieder, mit einem Becher Wein in der Hand.

»Kannst du das trinken?« fragte sie ihn leise.

Raistlin schüttelte den Kopf, versuchte zu sprechen, hustete und schob ihre Hand weg. Goldmond sah zu Tanis hoch. »Vielleicht - mein Stab?« fragte sie. »Nein«, röchelte Raistlin. Er bedeutete Tanis, näher zu kommen. Selbst als Tanis neben ihm saß, konnte er kaum die Worte des Magiers verstehen; seine Sätze wurden von Keuchen und Hustenanfällen unterbrochen. »Der Stab wird mich nicht heilen, Tanis«, flüsterte er. »Verschwende seine Kraft nicht für mich. Wenn es ein gesegneter Gegenstand ist... ist seine heilige Macht begrenzt. Mein Körper war der Preis... für meine Magie. Dieser Schaden ist unwiderruflich. Nichts kann helfen...« Seine Stimme erstarb, er schloß die Augen.

Das Feuer flackerte plötzlich auf, als Wind in die Höhle zog. Tanis sah auf: Sturm zog den Busch beiseite und betrat die Höhle. Er stützte Flint, der auf unsicheren Füßen hereinstolperte. Sturm setzte ihn neben dem Feuer ab. Beide waren völlig durchnäßt. Sturm war in bezug auf den Zwerg mit seiner Geduld völlig am Ende und, wie Tanis schien, mit der ganzen Gruppe. Tanis beobachtete ihn besorgt. Er erkannte die Zeichen einer tiefen Depression, die den Ritter manchmal überwältigte. Sturm liebte das Ordentliche, das Disziplinierte. Das Verschwinden der Sterne - die Störung der natürlichen Ordnung der Dinge – hatte ihn schwer getroffen. Tolpan legte eine Decke über den Zwerg, der auf dem Höhlenboden niederkauerte; seine Zähne klapperten so sehr, daß sein Helm rappelte. »Sch-sch-schiff...« konnte er nur noch sagen. Tolpan goß ihm einen Becher Wein ein, den der Zwerg gierig leerte.

Sturm sah Flint voller Abscheu zu. »Ich übernehme die erste Wache«, sagte er und ging wieder zum Höhleneingang.

Flußwind erhob sich. »Ich werde dich begleiten«, sagte er schroff.

Sturm runzelte die Stirn, dann drehte er sich langsam zu dem Barbar um. Tanis konnte das Gesicht des Ritters erkennen, im Schein des Feuers war es wie ein Relief geschnitten, dunkle Linien gruben sich um den harten Mund. Obwohl der Ritter kleiner war, ließen sein edles Auftreten und seine Standfestigkeit ihn dem Barbar ebenbürtig erscheinen.

»Ich bin ein Ritter von Solamnia«, sagte Sturm. »Mein Schwert ist meine Ehre, und meine Ehre ist mein Leben. Ich habe im Gasthaus mein Wort gegeben, daß ich Euch und Eure Dame beschützen werde. Falls Ihr Euch entscheidet, mein Wort anzuzweifeln, bezweifelt Ihr meine Ehre und beleidigt mich. Ich kann nicht dulden, daß diese Beleidigung im Raum stehenbleibt.« »Sturm!« Tanis war auf den Füßen.

Der Ritter, der seine Augen auf den Barbar gerichtet hielt, hob seine Hand. »Misch dich nicht ein, Tanis«, sagte Sturm. »Nun, wie sollen wir es austragen - Schwerter, Messer? Wie kämpft ihr Barbaren?«

Flußwinds unerschütterlicher Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er betrachtete den Ritter aufmerksam mit seinen dunklen Augen. Dann sprach er, wobei er seine Worte sorgfältig wählte. »Ich wollte Eure Ehre nicht in Frage stellen. Ich kenne die Menschen und ihre Städte nicht, und ich sage es geradeheraus ich habe Angst. Es ist meine Angst, die mich so sprechen läßt. Ich habe Angst, seitdem man mir den blauen Kristallstab übergeben hat. Und vor allem habe ich Angst um Goldmond.« Der Barbar sah zu der Frau hinüber. »Ohne sie werde ich sterben. Wie soll ich Vertrauen...« Seine Stimme versagte. Seine gleichmütige Maske brach zusammen, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und Müdigkeit. Seine Knie sackten zusammen, und er fiel vornüber. Sturm fing ihn auf.

»Du hast recht«, sagte der Ritter. »Ich verstehe. Du bist müde und krank.« Tanis half ihm, den Barbar im hinteren Teil der Höhle hinzulegen. »Ruhe dich aus. Ich werde Wache halten.« Der Ritter schob sich an dem Busch vorbei, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, trat er in den Regen hinaus. Goldmond hatte der heftigen Auseinandersetzung schweigend zugehört. Jetzt kniete sie an Flußwinds Seite. Er legte seinen Arm um sie und hielt sie dicht an sich, sein Gesicht in ihr silbriggoldenes Haar vergraben. In Flußwinds Fellumhang eingehüllt, schliefen sie bald ein, Goldmonds Kopf ruhte auf seiner Brust.

Tanis atmete erleichtert auf und wandte sich wieder Raistlin zu. Der Magier war in einen unruhigen Schlaf gefallen. Manchmal murmelte er seltsame Worte in der Sprache der Magie, seine Hand griff nach dem Stab. Tanis blickte zu den anderen. Tolpan saß neben dem Feuer und sortierte seine »erworbenen« Schätze. Er saß im Schneidersitz, die Schätze vor sich auf dem Höhlenboden ausgebreitet. Tanis konnte glitzernde Ringe sehen, einige ungewöhnliche Münzen, die Feder eines Ziegenmelkervogels, mehrere Schnüre, ein Perlenhalsband, eine Seifenpuppe und eine Pfeife. Einer der Ringe kam ihm bekannt vor. Es war ein Elfenring, den Tanis vor langer Zeit von einer ihm wichtigen Person erhalten hatte.

Tanis schlich zum Kender hinüber, um die anderen nicht zu wecken. »Tolpan...« Er klopfte dem Kender auf die Schulter. »Mein Ring...«

»Wirklich?« fragte Tolpan mit unschuldigen, weit geöffneten Augen. »Ist das deiner? Dann bin ich ja froh, daß ich ihn gefunden habe. Du mußt ihn im Wirtshaus verloren haben.« Tanis nahm den Ring mit einem gequälten Lächeln an sich, dann setzte er sich zum Kender. »Hast du eine Karte dieser Gegend, Tolpan?« Die Augen des Kenders glänzten. »Eine Karte? Ja, Tanis. Natürlich.« Er fegte all seine Schätze zusammen, stopfte sie in einen Beutel und fingerte einen handbemalten, hölzernen Schriftrollenbehälter aus einem anderen Beutel. Er zog ein Bündel Karten heraus. Tanis hatte schon früher die Sammlung des Kenders gesehen, aber sie überraschte ihn immer wieder aufs neue.

»Ich dachte, du kennst hier jeden Baum, Tanis.« Tolpan sortierte seine Karten, gelegentlich fiel ein sehnsüchtiger Blick auf eine besonders schöne.

Der Halb-Elf schüttelte den Kopf. »Ich habe hier viele Jahre gelebt«, sagte er. »Aber ich kenne nicht alle dunklen und geheimen Wege.«

»Es wird nicht viele nach Haven geben.« Tolpan zog eine Karte hervor und breitete sie auf dem Boden aus. »Die HavenStraße durch das Solace-Tal ist der kürzeste Weg, das steht fest.«

Tanis studierte die Karte beim Schein des erlöschenden Lagerfeuers. »Du hast recht«, sagte er. »Die Straße ist nicht nur der direkteste – es scheint auch der einzig passierbare Weg für mehrere Meilen zu sein. Sowohl im Süden als auch im Norden liegt vor uns das Kharolis-Gebirge - keine Pässe.« Stirnrunzelnd rollte Tanis die Karte auf und gab sie zurück. »Was wird sich wohl der Theokrat ausmalen?«

Tolpan gähnte. »Nun«, sagte er und steckte die Karte sorgfältig wieder in den Behälter, »dies ist ein Problem, das von klügeren Leuten, als ich es bin, gelöst werden wird. Ich bin zu meinem Vergnügen da.« Nachdem er den Behälter wieder in einem Beutel verstaut hatte, legte er sich flach auf den Boden, zog seine Beine bis zum Kinn hoch und schlief bald den friedlichen Schlaf kleiner Kinder und Tiere.

Tanis sah ihn neidisch an. Obwohl er todmüde war, konnte er sich nicht entspannen. Die meisten waren inzwischen eingeschlummert, nur der Caramon wachte über seinen Bruder. Tanis ging zu ihm hinüber. »Leg dich hin«, flüsterte er. »Ich passe auf Raistlin auf.« »Nein«, sagte der Caramon. »Vielleicht braucht er mich.« »Aber du könntest auch ein wenig Schlaf gebrauchen.« »Aber ja doch.« Caramon grinste. »Leg dich selbst ein wenig hin, Kindermädchen. Deinen Kindern geht es gut. Schau - sogar dem Zwerg.« »Da brauch' ich nicht hinzusehen«, sagte Tanis. »Der Theo-krat kann ihn höchstwahrscheinlich in Solace schnarchen hören. Nun, mein Freund, dieses Wiedersehen ist nicht so verlaufen, wie wir es vor fünf Jahren geplant hatten.«

»Was ist?« fragte Caramon leise und sah zu seinem Bruder. Tanis tätschelte ihn am Arm, dann legte er sich hin, rollte sich in seinen Mantel und schlief schließlich ein.

Die Nacht verstrich - langsam für die, die Wache hielten, schnell für die Schlafenden. Caramon löste Sturm ab. Tanis löste Caramon ab. Der Sturm heulte die ganze Nacht, der Wind peitschte den See auf. Blitze krachten durch die Nacht, Bäume standen in Flammen. Unentwegt rollte der Donner. Gegen Morgen beruhigte sich der Sturm, und der Halb-Elf sah in die graue, eisige Dämmerung. Der Regen hatte aufgehört, aber die Sturmwolken hingen immer noch tief. Die Sonne kam nicht durch. Tanis verspürte wachsenden Druck. Eine Wetterbesserung war nicht abzusehen in Anbetracht der Sturmwolken, die sich zum Norden hin versammelten. Herbststürme waren selten, besonders solche heftigen. Da er der Natur eng verbunden war, war Tanis über das seltsame Wetter fast genauso beunruhigt wie Raistlin über die Sternenkonstellation. Er fühlte, daß sie aufbrechen mußten, obwohl es noch sehr früh war. Er ging in die Höhle, um die anderen zu wecken.

Trotz des Feuers war die Höhle eisig und düster. Goldmond und Tolpan bereiteten das Frühstück. Flußwind stand im hinteren Teil der Höhle und schüttelte Goldmonds Fellumhang aus. Tanis sah zu ihm. Der Barbar war gerade im Begriff gewesen, Goldmond etwas zu sagen, als Tanis eintrat. Er blieb stumm und begnügte sich damit, sie bedeutungsvoll anzusehen, während er mit seiner Arbeit fortfuhr. Goldmond hielt ihre Augen gesenkt, ihr Gesicht war blaß, und sie sah beunruhigt aus. Der Barbar bereute sein Verhalten vom Vortag, kam Tanis zum Bewußtsein. »Leider gibt es nicht viel zu essen«, sagte Goldmond. »Tikas Speisekammer war nicht gerade üppig bestückt«, fügte Tolpan entschuldigend hinzu. »Wir haben nur ein Brot, etwas Trockenfleisch, Käse und Weizenmehl. Tika muß immer auswärts essen.«

»Flußwind und ich haben überhaupt nichts dabei«, sagte Goldmond. »Wir waren nicht auf diese Reise vorbereitet.« Tanis wollte sie nach dem Stab fragen, aber die anderen wurden gerade wach, als sie den Essensduft rochen. Caramon gähnte, streckte sich und erhob sich. Er ging zum Kochtopf hinüber und grunzte dann: »Mehlbrei? Ist das alles?« »Zum Abendessen wird es noch weniger geben.« Tolpan grinste. »Schnallt eure Gürtel enger. Du nimmst doch sowieso von jedem Körnchen zu.«

Der schwere Mann seufzte ergeben.

Das spärliche Frühstück wurde in der kalten Dämmerung lustlos verspeist. Sturm, der alle Essensangebote ablehnte, hielt wieder draußen Wache. Caramon aß schnell seinen Anteil, verschlang noch die Portion seines Bruders und machte sich dann über Sturms Essen her, als der Ritter einmal hinausgegangen war. Der große Mann sah den anderen sehnsüchtig beim Essen zu.

»Willst du das essen?« fragte er, auf Flints Brot deutend. Der Zwerg knurrte. Tolpan, der die Augen des Kämpfers über seinen Teller streifen sah, stopfte sein Brot in den Mund und erstickte fast daran. Zumindest hält es ihn ruhig, dachte Tanis. Tolpan hatte Flint den ganzen Morgen lang unbarmherzig gehänselt, ihn »Herrscher der Meere« und »Schiffskamerad« genannt, ihn nach dem Fischpreis gefragt und wie viel er verlangen würde, sie wieder über den See zu rudern. Flint hatte schließlich einen Stein nach ihm geworfen, und Tanis hatte Tolpan zum Ufer geschickt, um die Töpfe zu spülen.

Der Halb-Elf ging zum hinteren Teil der Höhle.

»Wie geht es dir heute, Raistlin?« fragte er. »Wir müssen uns bald auf den Weg machen.«

»Mir geht es viel besser«, erwiderte der Magier mit seiner leisen, wispernden Stimme. Er trank einen selbstgebrauten Kräutertee. Tolpan kam zur Höhle zurück und klapperte laut mit den Töpfen und Blechtellern. Tanis biß die Zähne bei dem Krach zusammen und wollte den Kender rügen, änderte dann aber seine Meinung. Es würde keinen Sinn haben.

Flint, der die Anspannung in Tanis' Gesicht sah, nahm dem Kender das Zeug ab und verstaute es. »Reiß dich mal zusammen«, zischte der Zwerg Tolpan zu. »Oder ich fasse dich am Schöpf und häng' dich an einen Baum als Warnung für alle Kender...«

Tolpan zog etwas aus dem Bart des Zwergen. »Schau mal!« Der Kender hielt es schadenfroh hoch. »Algen!« Flint brüllte auf und wollte nach dem Kender greifen, aber Tolpan war flink ausgewichen.

Es raschelte, als Sturm das Gesträuch im Eingang wegschob. Sein Gesicht war dunkel und nachdenklich.

»Hört endlich auf!« fuhr er Flint und Tolpan an. Sein Schnurrbart zitterte. Sein mürrischer Blick richtete sich auf Tanis. »Ich kann diese zwei deutlich bis zum See hören. Sie werden jeden Goblin auf Krynn auf uns aufmerksam machen. Wir müssen hier verschwinden. Nun, welchen Weg nehmen wir?« Ein ungemütliches Schweigen entstand. Alle, außer Raistlin, hielten in ihrer Tätigkeit inne und sahen auf Tanis. Der Magier wischte seinen Becher mit einem weißen Tuch aus. Er säuberte ihn weiter mit gesenkten Augen, als hätte Sturm nichts gefragt. Dann seufzte er und kratzte sich am Bart. »Wir wissen nun, daß der Theokrat von Solace bestechlich ist. Er benutzt diesen Goblinabschaum, um die Kontrolle über alles zu haben. Wenn er den Stab bekommen würde, würde er ihn zu seinem eigenen Gewinn einsetzen. Seit Jahren suchen wir nach einem Zeichen der wahren Götter. Anscheinend haben wir es gefunden. Ich habe nicht vor, diesen Stab diesem Betrüger in Solace zu überlassen. Tika sagte, sie sei überzeugt, daß die Sucherfürsten in Haven immer noch an der Wahrheit interessiert seien. Sie könnten uns vielleicht etwas über den Stab sagen, woher er kommt, welches seine Mächte sind. Tolpan, gib mir die Karte.« Der Kender verstreute den Inhalt sämtlicher Beutel auf dem Boden und holte schließlich die verlangte Karte hervor. »Wir sind hier, am Westufer des Krystalmir-Sees«, fuhr Ta-nis fort. »Nördlich und südlich von uns erstrecken sich die Ausläufer des Kharolis-Gebirges, die die Grenzen zum Solace-Tal bilden. Es sind keine Wege durch ihre Gebirgsketten bekannt, außer dem Torweg-Paß südlich von Solace...«

»Und der wird mit Sicherheit von Goblins bewacht«, murmelte Sturm. »Es gibt Durchgänge im Nordosten...«

»Das ist über den See!« sagte Flint voller Angst.

»Ja«, sagte Tanis, ohne eine Miene zu verziehen, »über den See. Aber diese Wege führen zu den Ebenen, und ich glaube nicht, daß ihr in diese Richtung gehen wollt.« Er sah zu Goldmond und Fluß wind. »Die westliche Straße führt durch die Gipfel des Wächters und die Schattenschlucht nach Haven. Für mich scheint das unsere Richtung zu sein.«

Sturm runzelte die Stirn. »Und wenn die Sucherfürsten genauso verkommen sind wie der in Solace?«

»Dann reisen wir weiter in den Süden, nach Qualinesti.« »Qualinesti?« Flußwind blickte finster drein. »Das Land der Elfen? Nein! Den Menschen ist verboten, es zu betreten. Außerdem ist der Weg geheim...« Eine röchelnde, zischende Stimme unterbrach die Diskussion. Alle wandten sich Raistlin zu, als er sprach. »Das ist der Weg.« Seine Stimme war gedämpft und spöttisch, seine goldenen Augen glitzerten im kalten Licht der Dämmerung. »Die Wege von Düsterwald. Sie führen direkt nach Qualinesti.«

»Düsterwald?« wiederholte Caramon beunruhigt. »Nein, Tanis!« Der Kämpfer schüttelte den Kopf. »Ich kämpfe jeden Tag mit Lebenden, wenn es sein muß - aber mit den Toten!« »Die Toten?« fragte Tolpan. »Erzähl mir, Caramon...« »Halt den Mund, Tolpan!« brauste Sturm auf. »Düsterwald ist der blanke Irrsinn. Keiner, der ihn betreten hat, ist je wieder herausgekommen. Willst du uns gegen den Stab eintauschen, Magier?«

»Halte ein!« sagte Tanis scharf. Alle schwiegen. Sogar Sturm blieb still. Der Ritter sah in Tanis' ruhiges, nachdenkliches Gesicht, in die mandelförmigen Augen, in denen die Weisheit des jahrelangen Wanderns ruhte. Der Ritter hatte sich oft Gedanken gemacht, warum er Tanis' Führerschaft akzeptierte. Trotz allem war er nur ein Bastard, ein Halb-Elf. Er war nicht von edler Herkunft. Er trug keine Rüstung, keinen Schild mit einem stolzen Wappen. Und trotzdem folgte Sturm ihm und liebte ihn und respektierte ihn so, wie er keinen anderen respektierte. Das Leben war für den solamnischen Ritter ein dunkler Schleier. Er konnte nicht sagen, daß er es kannte oder verstand, außer durch den Kodex der Ritterschaft, den er befolgte. »Est Sularus oth Mithas« – »Die Ehre ist mein Leben.« Der Kodex definierte Ehre und war vollständiger und genauer und strenger, als auf Krynn bekannt war. Der Kodex galt seit siebenhundert Jahren, aber Sturms geheime Angst war, daß eines Tages, in der letzten Schlacht, der Kodex keine Antworten mehr geben könnte. Er wußte, daß Tanis, wenn dieser Tag gekommen war, an seiner Seite wäre und die zerbröckelnde Welt zusammenhalten würde. Denn während Sturm den Kodex befolgte, lebte Tanis ihn.

Tanis' Stimme brachte die Gedanken des Ritters wieder in die Gegenwart. »Ich erinnere euch alle daran, daß dieser Stab nicht unser ›Preis‹ ist. Der Stab gehört rechtmäßig zu Goldmond – wenn er überhaupt jemandem gehört. Wir haben kein Recht auf ihn, genausowenig wie der Theokrat in Solace.« Tanis wandte sich an Goldmond. »Was ist Euer Wunsch, meine Dame?« Goldmond starrte von Tanis zu Sturm, dann auf Flußwind. »Du kennst meine Gedanken«, sagte er kalt. »Aber—du bist die Tochter des Stammeshäuptlings.« Er erhob sich. Ihren bittenden Blick ignorierend, ging er nach draußen. »Was meint er?« fragte Tanis.

»Er will, daß wir euch verlassen und mit dem Stab nach Haven gehen«, antwortete Goldmond. »Er sagt, ihr wäret eine Gefahr für uns. Auf uns allein gestellt, wären wir sicherer.« »Eine Gefahr für euch!« explodierte Flint. »Wir wären nicht hier, ich wäre nicht wieder beinahe ertrunken - wenn es nicht wegen... wegen...« Der Zwerg begann vor Wut zu stottern. Tanis erhob die Hand. »Es reicht.« Er kratzte sich am Bart. »Ihr werdet sicherer mit uns sein. Willst du unsere Hilfe annehmen?« »Ja«, sagte Goldmond, »zumindest für eine Weile.«

»Gut«, sagte Tanis. »Tolpan, du kennst den Weg durch das Solace-Tal. Du bist unser Führer. Aber vergiß nicht, wir machen keinen Ausflug mit Picknick!« »Ja, Tanis«, antwortete der Kender gedämpft. Er suchte seine vielen Beutel zusammen, hängte sie um Taille und Rücken. Als er an Goldmond vorbeiging, kniete er sich schnell hin und streichelte ihre Hand, dann war er aus der Höhle. Die anderen nahmen eilig ihr Gepäck auf und folgten ihm.

»Es wird wieder regnen«, brummte Flint mit einem Blick auf die tiefhängenden Wolken. »Wäre ich doch in Solace geblieben.« Grummelnd ging er weiter. Tanis, der auf Goldmond und Flußwind wartete, schüttelte lächelnd den Kopf. Zumindest verändert sich manches niemals, unter anderem Zwerge. Flußwind nahm Goldmond den Rucksack ab und schwang ihn über seine Schulter. »Ich hab' das Boot gut versteckt«, berichtete er Tanis. An diesem Morgen trug er wieder seine undurchdringliche Maske. »Für den Fall, daß wir es brauchen sollten.«

»Eine gute Idee«, sagte Tanis. »Danke...«

»Geh du vor«, unterbrach Flußwind. »Ich komme nach; will ich hier erst unsere Spuren verwischen.«

Tanis wollte dem Barbaren danken. Aber Flußwind hatte sich schon umgedreht und mit seiner Arbeit begonnen. Als er den Pfad hinunterging, schüttelte Tanis den Kopf. Hinter sich konnte er Goldmond hören, die leise in ihrer Sprache redete. Flußwind antwortete mit einem barschen Wort. Goldmond seufzte, dann verlor sich das weitere Gespräch im Geräusch des knisternden Busches, mit dem Flußwind ihre Spuren beseitigte.

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