8 Flucht aus Tarsis. Die Geschichte der Kugeln der Drachen

Drachen flogen über die zerstörte Stadt Tarsis, während die Drakonierarmeen einmarschierten, um sie in Besitz zu nehmen. Die Drachen hatten ihre Aufgabe erfüllt. Bald würde der Drachenfürst sie zurückrufen, damit sie sich für den nächsten Angriff bereithielten. Aber jetzt konnten sie sich ausruhen. Die roten Drachen schwebten am Himmel, vollführten in gut organisierter Formation einen berauschenden Todestanz.

Keine Macht auf Krynn konnte sie noch aufhalten. Das wußten sie, und sie jubelten über ihren Sieg. Aber gelegentlich wurde ihr Tanz unterbrochen. Einem Schwarmführer beispielsweise wurde über einen Kampf bei der Ruine eines Wirtshauses berichtet. Der junge männliche rote Drache, den er mit einer kleinen Schar zum Schauplatz beorderte, murmelte etwas von Unfähigkeit des Truppenbefehlshabers vor sich hin. Was konnte man auch schon erwarten, wenn der Drachenfürst ein aufgeblasener Hobgoblin war, der nicht einmal genügend Mut hatte, der Übernahme einer Stadt wie Tarsis beizuwohnen?

Der rote Drache seufzte und erinnerte sich an die ruhmvollen Zeiten, als Verminaard sie persönlich angeführt hatte, auf Pyros' Rücken reitend. Das war ein Drachenfürst gewesen! Der Drache schüttelte traurig seinen Kopf. Aha, da war die Schlacht. Er flog tiefer, um besser sehen zu können.

»Ich befehle dir anzuhalten!«

Der Rote hielt im Flug inne und starrte erstaunt nach oben.

Die Stimme war stark und klar, und es war die eines Drachenfürsten. Aber das war sicher nicht Toede! Dieser Drachenfürst, in die glänzende Maske und die Drachenschuppenrüstung seines Standes gekleidet, war der Stimme nach zu urteilen ein Mensch und kein Hobgoblin. Aber woher kam dieser Fürst?

Und warum? Denn der Fürst ritt auf einem blauen Drachen und wurde von mehreren Schwärmen blauer Drachen begleitet.

»Wie lautet dein Befehl, Fürst?« fragte der rote Drache ernst.

»Und was gibt dir das Recht, mich aufzuhalten, dir, der du für diesen Teil von Krynn nicht verantwortlich bist?«

»Das Schicksal der Menschen liegt in meiner Verantwortung, ob nun in diesem Teil von Krynn oder in einem anderen«, gab der Drachenfürst zurück. »Und die Kraft meiner Schwingen gibt mir jedes Recht, dir zu befehlen, mutiger Roter. Was meinen Befehl angeht, so sollst du diese erbarmungswürdigen Menschen zwar fangen, aber nicht töten. Sie sollen verhört werden. Bring sie zu mir. Du wirst reich belohnt werden.«

»Seht!« rief ein junger weiblicher Roter. »Greife!«

Der Drachenfürst gab einen Ausruf der Verwunderung und des Ärgers von sich. Die Drachen sahen unten drei Greife sich aus dem Rauch erheben. Greife waren zwar nur halb so groß wie die roten Drachen, aber für ihre Grausamkeit bekannt. Unten flüchteten Drakoniersoldaten wie die Hasen vor diesen Kreaturen, deren scharfe Krallen und Schnäbel die Köpfe jener Reptilienmenschen zerfleischten, die in ihre Nähe geraten waren.

Der rote Drache knurrte voller Haß und bereitete sich mit seiner Schar auf einen Sturzflug vor, aber der Drachenfürst versperrte ihm mit seinem blauen Reitdrachen den Weg.

»Ich sage dir, sie dürfen nicht getötet werden«, sagte der Drachenfürst ernst.

»Und wenn sie entkommen?« zischte der Rote wütend.

»Laß sie«, entgegnete der Fürst kühl. »Sie werden nicht weit kommen. Ich entbinde dich von deiner Pflicht in dieser Angelegenheit. Und wenn dieser Idiot Toede irgend etwas einzuwenden hat, sage ihm, daß das Geheimnis, wie er den blauen Kristallstab verloren hat, nicht mit Lord Verminaard gestorben ist. Die Erinnerung an den Truppführer lebt weiter – in meinen Gedanken -, und andere werden es auch erfahren, wenn er es wagt, mich herauszufordern!«

Der Drachenfürst salutierte, dann lenkte er den blauen Reitdrachen in Richtung Greife, deren gewaltige Geschwindigkeit es ihnen ermöglicht hatte, mit ihren Reitern über die Stadttore hinaus zu entkommen. Die Roten beobachteten, wie die Blauen ihre Verfolgung aufnahmen.

»Sollen wir sie auch jagen?« fragte der weibliche rote Drache.

»Nein«, entgegnete der männliche Rote nachdenklich, seine feurigen Augen waren auf den Drachenfürsten gerichtet, der in der Ferne kleiner wurde. »Dieser Person will ich lieber nicht in die Quere kommen!«

»Dein Dank ist nicht notwendig und auch nicht erwünscht«, schnitt Alhana Sternenwind Tanis' zögernde Worte mitten im Satz ab. Die Gefährten ritten durch den peitschenden Regen auf drei Greifen, hielten ihre fedrigen Hälse mit den Händen umklammert und starrten ängstlich auf die sterbende Stadt, von der sie sich immer weiter entfernten.

»Und du wirst mir nicht mehr danken wollen, nachdem du mir zugehört hast«, bemerkte Alhana kühl und warf Tanis, der mit ihr ritt, einen kurzen Blick zu. »Ich habe euch befreit, weil ich euch für meine eigenen Zwecke brauche. Ich brauche Krieger, die mir bei der Suche nach meinem Vater helfen. Wir fliegen nach Silvanesti.«

»Aber das ist unmöglich!« keuchte Tanis. »Wir müssen unsere Freunde treffen! Flieg zu den Hügeln. Wir können nicht nach Silvanesti, Alhana. Zuviel steht auf dem Spiel! Wenn wir diese Kugeln der Drachen finden können, wird es uns möglich sein, diese elenden Kreaturen zu vernichten und diesem Krieg ein Ende zu bereiten. Danach können wir nach Silvanesti...«

»Wir fliegen jetzt nach Silvanesti«, gab Alhana zurück. »Dir bleibt nichts anderes übrig, Halb-Elf. Meine Greife gehorchen nur meinen Befehlen. Sie würden dich zerreißen, so wie sie es mit den Drakoniern getan haben.«

»Eines Tages werden die Elfen aufwachen und erkennen, daß sie Mitglieder einer großen Familie sind«, sagte Tanis, seine Stimme bebte vor Zorn. »Sie können nicht länger wie verwöhnte Kinder behandelt werden, die alles bekommen, während die anderen mit den Krumen vorliebnehmen müssen.«

»Die Gaben, die wir von den Göttern erhalten haben, verdienen wir auch. Ihr Menschen und Halbmenschen«, – der Abscheu in ihrer Stimme traf wie ein Dolchstich – »hattet die gleichen Gaben und habt sie in eurer Habgier verloren. Wir sind in der Lage, ohne eure Hilfe für unser Überleben zu kämpfen. Und was euer Überleben angeht, so interessiert uns das wenig.«

»Aber jetzt scheinst du nur allzu bereit zu sein, unsere Hilfe anzunehmen!«

»Für die ich euch gut belohnen werde«, gab Alhana zurück.

»Es gibt in Silvanesti nicht genügend Eisen oder Juwelen, um uns zu bezahlen...«

»Ihr sucht die Kugeln der Drachen«, unterbrach ihn Alhana.

»Ich weiß, wo sich eine befindet. In Silvanesti.«

Tanis blinzelte. Einen Moment lang wußte er nicht, was er sagen sollte, aber bei der Erwähnung der Kugel erinnerte er sich plötzlich an seinen Freund. »Wo ist Sturm?« fragte er Alhana. »Als ich ihn zuletzt sah, war er mit dir zusammen.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Wir haben uns getrennt. Er wollte zum Gasthaus gehen, um euch zu treffen. Ich rief meine Greife.«

»Warum hast du ihn nicht mit nach Silvanesti genommen, wenn du Krieger brauchst?«

»Das ist meine Sache.« Alhana drehte Tanis den Rücken zu.

Der schwieg, zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Dann hörte er eine Stimme, die ihm etwas zurief, durch das Federgeraschel der mächtigen Flügel der Greife kaum hörbar.

Es war Caramon. Der Krieger schrie und zeigte nach hinten.

Was ist denn jetzt? dachte Tanis erschöpft.

Sie hatten den Rauch und die Gewitterwolken, die Tarsis umhüllten, hinter sich gelassen und flogen nun durch den klaren Nachthimmel. Die Sterne funkelten über ihnen, ihr Licht glänzte so kalt wie Diamanten und betonte die schwarzen Löcher im Himmel, wo die zwei Konstellationen fehlten. Die beiden Monde waren aufgegangen, aber Tanis brauchte ihr Licht nicht, um die Schatten zu erkennen, die die Sterne verdunkelten.

»Drachen«, teilte er Alhana mit. »Sie verfolgen uns.«

Tanis konnte sich später niemals wieder genau an die alptraumartige Flucht aus Tarsis erinnern. Stunden durch eisigen, beißenden Wind ließen sogar den Tod durch den flammenden Atem eines Drachen anziehend erscheinen. Stunden der Panik, in denen er nach hinten starrte, um zu sehen, wie die dunklen Schatten aufholten, bis die Augen tränten, und die Tränen an den Wangen gefroren. Erst bei Einbruch der Dunkelheit hielten sie erschöpft von Angst und Müdigkeit an, um in einer Felsenhöhle zu übernachten. Als sie bei Tagesanbruch wieder durch die Luft schwebten, waren die dunklen geflügelten Umrisse wieder hinter ihnen.

Nur wenige Lebewesen können schneller als Greife fliegen.

Aber die Drachen – die ersten blauen Drachen, die sie je gesehen hatten – waren ständig am Horizont, ließen tagsüber keine Rast zu, zwangen die Gefährten, sich in der Nacht zu verbergen, wenn die erschöpften Greife schlafen mußten. Sie hatten wenig zu essen, nur quith-pah – die Trockenfrüchte der Elfen, die nahrhaft waren, aber wenig gegen den Hunger ausrichteten -, die Alhana mit den Gefährten teilte. Aber selbst Caramon war zu müde und zu entmutigt, um viel zu essen.

Tanis konnte sich später nur an eine Sache lebhaft erinnern, die in der zweiten Nacht ihrer Reise passierte. Er erzählte der kleinen Gruppe, die um ein Feuer in einer feuchten Höhle kauerte, von der Entdeckung des Kenders in der Bibliothek von Tarsis. Bei Erwähnung der Kugeln der Drachen glitzerten Raistlins Augen, sein schmales Gesicht leuchtete interessiert auf.

»Kugeln der Drachen?« wiederholte er leise.

»Ich dachte mir, daß du etwas darüber weißt«, sagte Tanis.

»Was ist das?«

Raistlin antwortete nicht sofort. Eingemummt in seinen Umhang und den seines Bruders, lag er ganz nah am Feuer, und trotzdem bebte sein zerbrechlicher Körper vor Kälte. Die goldenen Augen des Magiers starrten Alhana an, die abseits von der Gruppe saß. Sie ließ sich zwar herab, mit ihnen die Höhle zu teilen, hielt sich aber von der Unterhaltung fern. Jetzt schien sie jedoch ihren Kopf etwas zu heben und zuzuhören.

»Du sagst, in Silvanesti ist eine Kugel der Drachen«, flüsterte der Magier wieder, zu Tanis blickend. »Dann bin ich sicher nicht derjenige, den du fragen solltest.«

»Ich weiß wenig darüber«, ließ sich Alhana hören und wandte ihr blasses Gesicht dem Feuer zu. »Wir bewahren es als Relikt aus vergangenen Tagen auf, als eine Art Rarität. Wer hätte auch gedacht, daß die Menschen noch einmal das Böse wecken und die Drachen zurück nach Krynn bringen würden?«

Bevor Raistlin antworten konnte, entgegnete Flußwind wütend: »Du hast keinen Beweis, daß es Menschen waren!«

Alhana warf dem Barbaren einen gebieterischen Blick zu. Sie antwortete ihm nicht, da sie es als unter ihrer Würde betrachtete, mit einem Barbaren zu streiten.

Tanis seufzte. Flußwind konnte mit Elfen nicht viel anfangen. Es hatte lange gedauert, bis er Tanis vertraute, und bei Gilthanas und Laurana hatte es noch länger gedauert. Nun, wo Flußwind offenbar gerade dabei war, seine tiefverwurzelten Vorurteile zu überwinden, schlug Alhana mit ihren Vorurteilen neue Wunden.

»Nun gut, Raistlin«, sagte Tanis ruhig, »erzähle uns, was du über die Kugeln der Drachen weißt.«

»Bring mir das Wasser, Caramon«, befahl der Magier. Caramon stellte einen Becher mit heißem Wasser vor seinen Bruder.

Raistlin gab seine Kräuter hinein. Er schnitt bei dem seltsamen, beißenden Geruch eine Grimasse und nippte an dem bitteren Getränk, während er erzählte.

»Im Zeitalter der Träume, als die Angehörigen meines Ordens auf Krynn noch respektiert und verehrt wurden, gab es fünf Türme der Erzmagier.« Die Stimme des Magiers wurde leiser, als wären schmerzliche Erinnerungen in ihm wach geworden. Sein Bruder saß mit ernstem Gesicht auf dem Steinboden der Höhle. Tanis sah die Schatten, die über die Gesichter der Zwillinge zogen, und fragte sich wieder einmal, was mit ihnen im Turm der Erzmagier passiert sein konnte, das ihr Leben so drastisch geändert hatte. Aber es war sinnlos, zu fragen.

Beiden war es verboten worden, darüber zu reden.

Raistlin hielt einen Moment inne, holte tief Luft und sprach weiter. »Bei Ausbruch des Zweiten Drachenkrieges versammelten sich die Höchsten meines Ordens im größten der Türme dem Turm von Palanthas – und schufen die Kugeln der Drachen.«

Raistlins Augen verloren sich, seine flüsternde Stimme versagte einen Moment. Als er dann wieder sprach, schien er über etwas zu berichten, das er in seinen Gedanken wiedererlebte.

Selbst seine Stimme war verändert, wurde stärker, tiefer und klarer. Er hustete nicht mehr. Caramon sah ihn erstaunt an.

»Die Magier mit den Weißen Roben betraten zuerst die Kammer ganz oben im Turm, als der Silbermond, Solinari, aufging. Dann erschien Lunitari blutrot am Himmel, und die mit den Roten Roben traten ein. Schließlich konnte die schwarze Scheibe, Nutari, ein dunkles Loch in den Sternen, von denen, die sie suchten, am Himmel gesehen werden, und die Schwarzgekleideten kamen hinzu. Es war ein seltsamer Augenblick in der Geschichte, da alle Feindschaft zwischen den Roben unterdrückt wurde. Es sollte nur noch einmal in der Welt vorkommen, daß sich die Zauberer zu den Verlorenen Schlachten zusammenschlossen, aber diese Zeit konnte nicht vorhergesehen werden. Es reichte aus, daß das große Böse vernichtet werden mußte. Denn schließlich hatten wir erkannt, daß das Böse beabsichtigte, alle Magie in der Welt zu vernichten, so daß nur seine eigene Magie überleben würde! Es gab einige unter den Schwarzen Roben, die wohl versucht hatten, sich mit dieser großen Macht zu verbinden« -, Tanis sah Raistlins Augen brennen – »aber sie erkannten bald, daß sie nicht als Herrscher, sondern als Sklaven daraus hervorgehen würden. Und so entstanden die Kugeln der Drachen in einer Nacht, als alle drei Monde voll am Himmel standen.«

»Drei Monde?« fragte Tanis leise, aber Raistlin hörte ihn nicht und fuhr mit der Stimme, die nicht die seine war, fort.

»Große und mächtige Magie wurde in jener Nacht geschaffen – so mächtig, daß ihr nur wenige widerstehen konnten; und sie brachen zusammen, ihrer körperlichen und geistigen Kräfte beraubt. Aber am nächsten Morgen standen fünf Kugeln der Drachen auf Sockeln da, vor Licht glänzend, von Schatten verdunkelt. Eine blieb in Palanthas zurück, und die anderen wurden unter großen Gefahren zu den anderen vier Türmen gebracht. Hier halfen sie, die Welt von der Königin der Finsternis zu befreien.«

Der fiebrige Glanz verschwand aus Raistlins Augen. Seine Schultern sackten zusammen, seine Stimme wurde leiser, und er begann heftig zu husten. Die anderen starrten ihn atemlos an.

Endlich räusperte sich Tanis. »Was meinst du mit drei Monden?«

Raistlin blickte benommen hoch. »Drei Monde?« wiederholte er. »Ich weiß nichts von drei Monden. Worüber haben wir geredet?«

»Die Kugeln der Drachen. Du hast uns ihre Entstehungsgeschichte erzählt. Wie...« Tanis stockte, als er Raistlin auf sein Lager sinken sah.

»Ich habe euch nichts erzählt«, sagte Raistlin gereizt. »Was redest du da?«

Tanis sah kurz zu den anderen. Flußwind schüttelte den Kopf.

Caramon biß sich auf die Lippen und sah weg, sein Gesicht war vor Sorge verkrampft.

»Wir sprachen über die Kugeln der Drachen«, sagte Goldmond. »Du wolltest uns erzählen, was du darüber weißt.«

Raistlin wischte Blut von seinem Mund weg. »Ich weiß nicht viel darüber«, sagte er müde und zuckte die Schultern. »Die Kugeln der Drachen wurden von den hohen Magiern geschaffen. Nur die Mächtigsten meines Ordens konnten sie benutzen. Es hieß, daß großes Unheil über die kommen würde, die die Magie nicht gut beherrschten und doch versuchten, den Kugeln zu befehlen. Darüber hinaus weiß ich nichts. Das ganze Wissen über die Kugeln der Drachen ist in den Verlorenen Schlachten verlorengegangen. Zwei Kugeln wurden angeblich beim Fall der Türme der Erzmagier zerstört, damit sie nicht in die Hände des Mobs fielen. Das Wissen über die drei anderen ist mit ihren Zauberern verschwunden.« Seine Stimme erstarb. Er sank erschöpft auf sein Lager zurück und schlief ein.

»Die Verlorenen Schlachten, drei Monde, Raistlin mit einer fremden Stimme. Das alles ergibt keinen Sinn«, murmelte Tanis.

»Ich glaube nichts davon!« sagte Flußwind kühl. Er schüttelte ihre Felle zum Schlafen aus.

Tanis wollte gerade seinem Beispiel folgen, als er Alhana aus den Schatten der Höhle vorkriechen und sich neben Raistlin stellen sah. Sie starrte auf den schlafenden Magier herab.

»Stark in der Magie!« flüsterte sie angstvoll. »Mein Vater!«

Tanis sah sie im plötzlichen Verstehen an. »Du glaubst, dein Vater hat versucht, die Kugel zu benutzen?«

»Ich befürchte es«, flüsterte Alhana und rang verzweifelt die Hände. »Er sagte, er allein könne das Böse bekämpfen und von unserem Land fernhalten. Er muß gemeint haben...« Sie beugte sich über Raistlin. »Weckt ihn!« befahl sie, ihre schwarzen Augen flackerten. »Ich muß es wissen! Weckt ihn und bringt ihn dazu, mir über die Gefahren zu erzählen!«

Caramon zog sie sanft, aber bestimmt zurück. Alhana starrte ihn wütend an, ihr schönes Gesicht war vor Furcht und Zorn verzerrt, und einen Moment lang schien es, daß sie ihn schlagen wollte, aber Tanis trat hinzu und hielt ihre Hand fest.

»Alhana«, sagte er ruhig, »es hätte keinen Sinn, ihn zu wekken. Er hat uns alles erzählt, was er weiß. Was die andere Stimme betrifft, weiß er offenbar nicht, was sie gesagt hat.«

»Ich habe das schon einmal bei Raist erlebt«, sagte Caramon leise, »als ob er eine andere Person würde. Aber es läßt ihn immer erschöpft zurück, und er erinnert sich nicht daran.«

Alhana riß ihre Hand aus Tanis' frei, ihr Gesicht nahm wieder den kalten, reinen, marmornen Ausdruck an. Sie wirbelte herum und ging zum Höhleneingang zurück. Sie ergriff die Decke, die Flußwind zum Schütze aufgehängt hatte, und riß sie dabei fast herunter, als sie sie beiseite schob und nach draußen ging»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Tanis zu Caramon.

»Schlaf ein bißchen.«

»Ich werde eine Zeitlang auf Raistlin aufpassen«, sagte der Krieger und breitete seine Decke neben seinem Bruder aus. Tanis folgte Alhana nach draußen.

Die Greife schliefen friedlich, ihre Köpfe waren in den weichen Federn ihrer Hälse vergraben, ihre Krallenfüße waren sicher um den Rand des Felsens geklammert. Zuerst konnte er Alhana in der Dunkelheit nicht ausmachen, dann sah er sie gegen einen großen Stein gelehnt, bitterlich weinend, den Kopf in den Armen vergraben.

Die stolze Silvanesti-Frau würde ihm niemals vergeben, wenn er sie so schwach und verletzlich vorfand. Tanis ging wieder zurück in die Höhle.

»Ich gehe jetzt auf Wache«, rief er laut, bevor er wieder nach draußen ging. Er hob die Decken an und sah, wie Alhana unmerklich zusammenschreckte und sich eilig mit den Händen übers Gesicht fuhr. Sie drehte ihm den Rücken zu. Er ging langsam auf sie zu, so daß sie Zeit hatte, sich zu fassen.

»In der Höhle war es so stickig«, sagte sie leise. »Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich mußte rausgehen und frische Luft schnappen.«

»Ich übernehme die erste Wache«, sagte Tanis. Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Du scheinst dir um deinen Vater Sorgen zu machen, daß er diese Kugel der Drachen benutzt haben könnte. Sicherlich kannte er ihre Geschichte. Wenn ich mich richtig erinnere, war er ein Magier.«

»Er wußte, woher die Kugel kam«, sagte Alhana, mühsam um Fassung ringend. »Der junge Magier hatte recht, als er über die Verlorenen Schlachten und die Zerstörung der Türme sprach. Aber er irrte sich, als er sagte, daß die anderen drei Kugeln verlorengegangen wären. Eine wurde von meinem Vater zur Aufbewahrung nach Silvanesti gebracht.«

»Was waren die Verlorenen Schlachten?« fragte Tanis und lehnte sich neben Alhana gegen den Stein.

»Wird denn keine Legende in Qualinost bewahrt und weitergegeben?» gab sie zurück und musterte Tanis verächtlich.

»Was seid ihr für Barbaren geworden, seit ihr euch mit Menschen vermischt!«

»Sagen wir lieber, es war mein eigener Fehler«, antwortete Tanis, »ich habe dem Sagenmeister nicht genug Beachtung geschenkt.«

Alhana warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, als fürchte sie seinen Spott. Aber als sie in sein ernstes Gesicht sah, und eigentlich auch nicht allein sein wollte, entschied sie, seine Frage zu beantworten. »Als Istar im Zeitalter der Allmacht in Ruhm und Ehre immer weiter aufstieg, wurden Istars Königspriester und seine Kleriker auf die Macht der Magier immer eifersüchtiger. Die Kleriker sahen für Magie in der Welt keine Notwendigkeit mehr und fürchteten sie natürlich als etwas, was sich ihrer Kontrolle entzog. Die Magier selbst wurden zwar respektiert, aber man schenkte ihnen niemals völliges Vertrauen, nicht einmal den Weißen Roben. Es war für die Priester nicht einmal den Weißen Roben. Es war für die Priester eine Leichtigkeit, die Leute gegen die Zauberer aufzuwiegeln. Als das Böse im Laufe der Zeit immer mehr zunahm, gaben die Priester den Magiern die Schuld dafür. In den Türmen der Erzmagier, wo sich die Magier ihren endgültigen mörderischen Prüfungen unterziehen mußten, ruhten auch ihre Mächte. Die Türme waren natürlich die ersten und wichtigsten Angriffsziele. Sie wurden vom Mob angegriffen, und es war so, wie dein junger Freund sagte: Zum zweiten Mal in ihrer Geschichte versammelten sich die Roben, um ihre letzte Bastion der Mächte zu verteidigen.«

»Aber wie hätte man sie besiegen können?« fragte Tanis skeptisch.

»Wie kannst du so eine Frage stellen, wenn du mit einem Magier befreundet bist? So mächtig er auch ist, auch er muß sich ausruhen. Selbst der Stärkste braucht seine Zeit, um seine Zaubersprüche zu erneuern, sie sich wieder ins Gedächtnis zu holen. Selbst die Ältesten des Ordens – Zauberer, die so mächtig waren, wie man es auf Krynn lange nicht mehr erlebt hatte mußten schlafen und Stunden mit ihren Zauberbüchern verbringen. Und auch damals gab es nur wenige Magier. Nur wenige wagen es, sich den Prüfungen in den Türmen der Erzmagier zu unterziehen, da sie wissen: Versagen heißt sterben.«

»Versagen bedeutet Tod?« fragte Tanis leise.

»Ja«, erwiderte Alhana. »Dein Freund ist sehr mutig, die Prüfungen in so jungen Jahren abgelegt zu haben. Sehr mutig oder sehr ehrgeizig. Hat er dir niemals davon erzählt?«

»Nein«, murmelte Tanis. »Er spricht nie darüber. Aber fahre fort.«

Alhana zuckte die Schultern. »Als es klar wurde, daß die Schlacht hoffnungslos war, zerstörten die Zauberer eigenhändig zwei Türme. Die Asche überzog das Land im Umkreis von Meilen. Nur drei Türme blieben übrig – der Turm von Istar, der Turm von Palanthas und der Turm von Wayreth. Aber die furchtbare Zerstörung der zwei Türme hatte Istars Königspriester erschreckt. Er garantierte den Zauberern in den Türmen von Istar und Palanthas freies Geleit, falls sie die Türme unbeschädigt ließen, denn die Zauberer hätten diese beiden Städte zerstören können, und das wußte der Königspriester nur zu gut.

»Und so reisten die Magier zu dem Turm, der niemals bedroht war – zum Turm von Wayreth im Kharolisgebirge. Sie kamen nach Wayreth, um ihre Wunden zu pflegen und den kleinen Funken von Magie, der immer noch in der Welt war, zu nähren. Die Zauberbücher, die sie nicht mitnehmen konnten, denn es gab viele davon, und die meisten waren mit einem Schutzzauber versehen, wurden der großen Bibliothek von Palanthas übergeben, und dort befinden sie sich noch, wie es in den Legenden meines Volkes heißt.«

Der Silbermond war aufgegangen, seine Strahlen schmückten seine Tochter mit einer Schönheit, die Tanis den Atem raubte, so wie ihre Kälte sein Herz durchbohrte.

»Was weißt du über einen dritten Mond«, fragte er in den Nachthimmel starrend. »Ein schwarzer Mond...«

»Wenig«, erwiderte Alhana. »Die Magier beziehen aus den Monden ihre Macht: die Weißen Roben aus Solinari, die Roten Roben aus Lunitari. Nach den Legenden gibt es einen Mond, der den Schwarzen Roben ihre Macht gibt, aber nur diejenigen, die seinen Namen kennen, wissen ihn am Himmel zu finden.«

Raistlin wußte seinen Namen, dachte Tanis. Aber er sprach diesen Gedanken nicht aus.

»Wie ist dein Vater an die Kugel der Drachen gekommen?«

»Mein Vater war ein Lehrling«, erzählte Alhana leise, während sie ihr Gesicht dem Silbermond zuwandte. »Er reiste zum Turm der Erzmagier nach Istar, um die Prüfungen abzulegen, die er auch bestand und überlebte. Dort traf er das erste Mal auf die Kugel der Drachen.« Einen Moment versank sie in Schweigen. »Ich erzähle dir jetzt etwas, was ich nie zuvor jemandem erzählt habe, und was er auch nur mir anvertraut hat. Ich erzähle es dir nur, weil du ein Recht hast, zu erfahren, was – dich erwartet.

Während der Prüfungen hat die Kugel der Drachen...«, Alhana zögerte, schien die richtigen Worte zu suchen, »zu ihm gesprochen – rein gedanklich. Er befürchtete eine schreckliche Katastrophe. ›Du darfst mich hier nicht in Istar lassen‹, sagte sie ihm. ›Wenn du es doch tust, werde ich umkommen, und die Welt wird verloren sein.‹ Mein Vater... Du denkst vielleicht, daß er die Kugel der Drachen gestohlen hat, aber er selbst sah das als Befreiungstat an.

Der Turm von Istar wurde aufgegeben. Der Königspriester zog ein und nutzte ihn für seine eigenen Zwecke. Schließlich verließen die Magier auch den Turm von Palanthas.« Alhana erbebte. »Diese Geschichte ist grauenhaft. Der Regent von Palanthas, ein Jünger des Königspriesters, kam zum Turm, um die Tore zu versiegeln – so sagte er jedenfalls. Aber es war offensichtlich, daß seine Augen gierig auf den wunderschönen Turm gerichtet waren, denn Legenden über seine Wunder – sowohl gute als auch böse – hatten sich im Lande verbreitet. Der Zauberer der Weißen Roben verschloß die schlanken, goldenen Tore des Turms mit einem silbernen Schlüssel. Der Regent streckte seine Hand gierig nach dem Schlüssel aus, als einer der Schwarzen Roben in einem Fenster der oberen Etagen erschien.

›Die Tore bleiben verschlossen und die Hallen leer, bis zu dem Tage, an dem der Herr über Gestern und Heute mit Macht zurückkehrt‹, schrie er. Dann sprang der böse Magier herab auf die Tore. Als Widerhaken seine schwarzen Roben durchdrangen, warf er einen Fluch auf den Turm. Sein Blut floß auf den Boden, die goldenen Tore verbogen sich und wurden schwarz.

Der rot und weiß schimmernde Turm verblaßte zu eisgrauem Stein, seine schwarzen Minarette zerfielen zu Staub.

Der Regent und seine Leute flohen voller Entsetzen. Bis zum heutigen Tag hat niemand gewagt, den Turm von Palanthas zu betreten oder sich sogar seinen Toren zu nähern. Nachdem der Turm verflucht worden war, brachte mein Vater die Kugel der Drachen nach Silvanesti.«

»Aber dein Vater wußte doch bestimmt etwas über die Kugel, bevor er sie nahm«, beharrte Tanis. »Wie sie zu gebrauchen...«

»Wenn dem so war, dann sprach er nicht darüber«, sagte Alhana müde, »denn das ist alles, was ich weiß. Ich muß mich jetzt ausruhen. Gute Nacht«, sagte sie zu Tanis, ohne ihn anzusehen.

»Gute Nacht, Alhana«, sagte Tanis weich. »Ruh dich aus in dieser Nacht. Und mach dir keine Sorgen. Dein Vater ist klug und hat viel durchgemacht. Ich bin mir sicher, daß alles in Ordnung ist.«

Alhana wollte ohne ein weiteres Wort an ihm vorbeigehen, doch als sie das Mitgefühl in seiner Stimme hörte, zögerte sie.

»Obwohl er die Prüfungen bestanden hat«, sagte sie so leise, daß Tanis näher treten mußte, »war er nicht so mächtig in der Magie, wie dein junger Freund es jetzt ist. Und falls er dachte, daß die Kugel der Drachen unsere einzige Hoffnung wäre, dann befürchte ich...« Ihre Stimme erstarb.

»Die Zwerge haben ein Sprichwort.« Einen Moment lang hatte Tanis das Gefühl, daß sich die Schranken zwischen ihnen gesenkt hatten, und er legte seinen Arm um Alhanas schlanke Schultern und zog sie an sich. »›Geliehener Ärger wird zurückgezahlt mit Zinsen auf das Leid.‹ Mach dir keine Sorgen. Wir sind bei dir.«

Alhana antwortete nicht. Einen Moment lang ließ sie sich trösten, dann befreite sie sich aus seinem Griff und ging zum Höhleneingang. Dort blieb sie stehen und sah zurück.

»Du machst dir um deine Freunde Sorgen«, sagte sie. »Das ist nicht nötig. Sie sind aus der Stadt entkommen und in Sicherheit. Obwohl der Kender eine Zeitlang dem Tode sehr nahe war, hat er überlebt, und jetzt reisen sie zur Eismauer auf der Suche nach einer Kugel der Drachen.«

»Woher weißt du das?« fragte Tanis atemlos.

»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.« Alhana schüttelte den Kopf.

»Alhana! Woher weißt du das?« fragte Tanis ernst.

Ihre blassen Wangen waren mit rosigen Flecken übersät, als Alhana murmelte: »Ich... ich gab dem Ritter einen Sternenjuwel. Er weiß natürlich nichts über seine Macht, und auch nichts darüber, wie er zu benutzen ist. Ich weiß nicht einmal, warum ich ihm den Juwel geschenkt habe, außer...«

»Außer was...?« fragte Tanis maßlos erstaunt.

»Er war so ritterlich, so mutig. Er hat sein Leben riskiert, um mir zu helfen, und er wußte nicht einmal, wer ich bin. Er half mir, weil ich in Schwierigkeiten war. Und...« Ihre Augen schimmerten. »Und er weinte, als die Drachen die Leute umbrachten. Ich habe noch nie zuvor einen Erwachsenen weinen gesehen. Sogar als die Drachen kamen und uns aus unserer Heimat vertrieben haben, haben wir nicht geweint. Vielleicht haben wir einfach vergessen, wie man weint.«

Dann zog sie hastig die Decken beiseite und betrat die Höhle, als ob ihr bewußt geworden wäre, zuviel gesagt zu haben.

»Im Namen der Götter!« keuchte Tanis. Ein Sternenjuwel!

Welch seltenes und unbezahlbares Geschenk! Bei den Elfen wurde dieses Geschenk unter Liebenden ausgetauscht, wenn sie gezwungen waren, sich zu trennen, denn die Juwelen schufen ein Band zwischen den Seelen. So miteinander verbunden, nehmen die Liebenden an den innersten Regungen des anderen Anteil und können sich in Zeiten der Not Stärke geben. Aber niemals zuvor in Tanis' langem Leben hatte er gehört, daß ein Sternenjuwel einem Menschen geschenkt worden war. Was würde es mit einem Menschen machen? Welche Auswirkungen hatte das? Und Alhana – sie könnte niemals einen Menschen lieben, niemals die Liebe erwidern. Es mußte eine Art blinde Vernarrtheit gewesen sein. Sie mußte verängstigt gewesen sein, einsam. Nein, diese Geschichte konnte nur in Leid enden, sofern sich bei den Elfen, oder zumindest bei Alhana, nicht etwas Wesentliches ändern würde.

Obgleich Tanis erleichtert war, daß sich Laurana und die anderen in Sicherheit befanden, so fürchtete und trauerte er doch tief um Sturm.

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