14 Der weiße Drache. Gefangen!

Der Drache hieß Sleet. Es war ein weißer Drache, eine Drachenart, kleiner als alle anderen Drachen auf Krynn. In arktischen Regionen geboren und aufgezogen, widerstanden diese Drachen extremer Kälte und kontrollierten die südlichen Regionen ewigen Eises von Ansalon.

Wegen ihres kleinen Wuchses waren die weißen Drachen die schnellsten Flieger in der Drachenfamilie. Die Drachenfürsten setzten sie häufig zu Aufklärungsdiensten ein. Folglich war Sleet nicht in seiner Höhle in Eismauer gewesen, als die Gefährten dort nach der Kugel der Drachen gesucht hatten. Die Dunkle Königin hatte Meldungen erhalten, nach denen eine Gruppe Abenteurer in Silvanesti eingedrungen war. Irgendwie hatten sie es geschafft, Cyan Blutgeißel zu besiegen und in den Besitz einer Kugel der Drachen zu gelangen.

Die Dunkle Königin vermutete, daß sie auf der Straße der Könige durch die Staubigen Ebenen reisen würden, das war der direkteste Weg nach Sankrist, wo die Ritter von Solamnia angeblich versuchten, sich neu zu gruppieren. Die Dunkle Königin befahl Sleet, mit seiner Schar weißer Drachen zu den Ebenen zu fliegen, die nun unter einer dicken, schweren Eisschicht lagen, um die Kugel zu finden.

Als er den Schnee unter sich glitzern sah, bezweifelte Sleet stark, daß selbst Menschen so närrisch wären und die Ödnis zu durchqueren versuchten. Aber er hatte seine Befehle und er befolgte sie. Er ließ seine Schar ausschwärmen und jeden Zentimeter, von den Grenzen Silvanestis im Osten bis zu den Kharolisbergen im Westen, absuchen. Einige Drachen flogen sogar bis zur Neuküste weit im Norden, die von den Blauen kontrolliert wurde.

Die Drachen trafen sich wieder, um zu berichten, daß sie kein Anzeichen für ein Lebewesen in den Ebenen gesehen hätten, als Sleet erfuhr, daß Gefahr durch die Hintertür einmarschiert war, während er auf Kundschaft durch die Vordertür getreten war.

Wütend flog Sleet zurück, kam aber zu spät an. Feal-Tas war tot, die Kugel der Drachen fort. Aber die Thanoi, die Walroß-Menschen, ihre Verbündeten, konnten die Gruppe genau beschreiben, die diese abscheuliche Tat verübt hatte. Sie konnten sogar die Richtung angeben, in die ihr Schiff gesegelt war. Es gab auch nur eine Richtung, in die jedes Schiff von Eismauer aus segeln konnte – nach Norden.

Sleet meldete den Verlust der Kugel der Drachen seiner Dunklen Königin, die sich maßlos aufregte und unruhig wurde.

Jetzt fehlten schon zwei Kugeln der Drachen! Obwohl sie sicher war, daß auf Krynn ihre bösen Kräfte die stärksten waren, wußte die Dunkle Königin auch, daß die Kräfte des Guten immer noch durch das Land zogen. Einer von ihnen könnte sich als stark und weise genug erweisen, um das Geheimnis der Kugel zu ergründen.

Sleet wurde also befohlen, die Kugel zu finden und sie nicht nach Eismauer zurückzubringen, sondern sie der Königin zu übergeben. Unter keinen Umständen sollte der Drache sie verlieren oder zulassen, daß sie verlorenginge. Die Kugeln waren intelligent und verfügten über einen starken Überlebenswillen.

Darum auch hatten sie schon so lange überlebt, selbst wenn ihre Schöpfer längst gestorben waren.

Sleet eilte über das Simon-Meer, seine starken weißen Flügel trugen ihn geschwind in Sichtweite des Schiffes. Aber nun wurde Sleet mit einem interessanten intellektuellen Problem konfrontiert, und er war nicht vorbereitet, es zu lösen.

Vielleicht lag es an der Inzucht, an der Notwendigkeit, ein Reptil zu schaffen, das der Kälte trotzte, daß weiße Drachen über den niedrigsten Intelligenzgrad in der Drachenfamilie verfügten. Feal-Tas hatte ihm immer gesagt, was er tun sollte.

Folglich war er in beträchtlichem Maße erstaunt über sein gegenwärtiges Problem, als er das Schiff umkreiste: Wie sollte er an die Kugel gelangen?

Zuerst hatte er geplant, das Schiff einfach mit seinem eisigen Atem einzufrieren. Dann erkannte er, daß dann die Kugel in einem gefrorenen Holzblock eingeschlossen und äußerst schwierig zu entfernen wäre. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß das Schiff sinken würde, bevor er es auseinanderreißen konnte.

Das Schiff war zu schwer, um es in seinen Klauen zum Land zu transportieren. Sleet umkreiste das Schiff und dachte nach, während er unter sich die erbarmungswürdigen Menschen wie eingeschüchterte Mäuse umherirren sah.

Der weiße Drache zog in Erwägung, seiner Königin eine telepathische Nachricht zukommen zu lassen und um Hilfe zu bitten. Aber Sleet zögerte, als ihm die Rachsüchtigkeit der Königin einfiel. Den ganzen Tag folgte der Drache dem Schiff und dachte weiter nach. Mühelos ließ er sich im Wind treiben und die Drachenangst auf die Menschen einwirken, die in eine wahnsinnige Panik verfielen. Aber dann, als die Sonne unterging, hatte Sleet eine Idee. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, machte er sich unverzüglich ans Werk.

Tolpans Bericht über den weißen Drachen, der das Schiff verfolgte, ließ eine Welle des Entsetzens durch die Mannschaft gehen. Sie bewaffneten sich mit Enterhaken und bereiteten sich grimmig auf den Kampf mit der Bestie vor, obwohl allen klar war, wie eine solche Schlacht enden würde. Gilthanas und Laurana legten Pfeile auf ihre Bögen. Sturm und Derek hielten Schwert und Schild bereit. Tolpan ergriff seinen Hupak. Flint versuchte, seine Lagerstatt zu verlassen, aber er konnte nicht einmal stehen. Elistan blieb ruhig und gelassen und betete zu Paladin.

»Ich habe mehr Glauben in mein Schwert als in diesen alten Mann und seinen Gott«, sagte Derek zu Sturm.

»Die Ritter haben Paladin immer verehrt«, gab Sturm vorwurfsvoll zurück.

»Ich verehre ihn auch – ich gedenke seiner«, entgegnete Derek. »Ich finde aber dieses ganze Gerede über Paladins ›Rückkehr‹ beunruhigend, Feuerklinge. Und das wird auch das Kapitel finden, wenn es davon erfährt. Du solltest das in Betracht ziehen, wenn die Frage deiner Ritterschaft ansteht.«

Sturm biß sich auf die Lippen und schluckte seine wütende Antwort wie bittere Medizin hinunter.

Lange Minuten verstrichen. Aller Augen waren auf die weißgeflügelte Kreatur gerichtet. Aber sie konnten nichts unternehmen, und so warteten sie.

Und sie warteten und warteten. Der Drache griff nicht an.

Er kreiste unermüdlich weiter über ihnen. Die Matrosen, die auf einen sofortigen Kampf vorbereitet waren, begannen bald zu murren, als das Warten unerträglich wurde. Die Lage verschlechterte sich noch, da der Drache den Wind aufzusaugen schien, denn die Segel hingen leblos herab. Das Schiff verlor seine Geschwindigkeit und begann sich durch das Gewässer zu quälen. Gewitterwolken zogen am nördlichen Horizont auf, trieben langsam über das Wasser und stülpten eine Dunstglocke über das Meer.

Laurana senkte schließlich ihren Bogen und rieb ihren schmerzenden Rücken und ihre Schultermuskeln. Ihre Augen waren durch das unentwegte Starren in die Sonne angeschwollen.

»Schafft sie in ein Rettungsboot und werft sie über Bord«, hörte sie einen alten, grauhaarigen Matrosen einem Kameraden vorschlagen. »Vielleicht läßt uns dann die Bestie weiterziehen. Sie ist hinter ihnen her, nicht hinter uns.«

Sie ist nicht einmal hinter uns her, dachte Laurana unbehaglich. Wahrscheinlich geht es um die Kugel der Drachen. Darum hat der Drache noch nicht angegriffen. Aber Laurana konnte diesen Gedanken nicht laut äußern, erst recht nicht zum Kapitän. Die Kugel der Drachen mußte geheimgehalten werden.

Der Nachmittag verging quälend langsam, und der Drache kreiste immer noch wie ein entsetzlicher Seevogel über ihnen.

Der Kapitän wurde immer gereizter. Er mußte nicht nur mit einem Drachen fertig werden, sondern auch noch mit einer möglichen Meuterei. Zur Essenszeit befahl er die Gefährten zu den unteren Decks.

Derek und Sturm lehnten ab, und es schien, daß die Dinge außer Kontrolle geraten würden, als »Land in Sicht!« gerufen wurde.

»Das südliche Ergod«, sagte der Kapitän grimmig. »Die Strömung treibt uns gegen die Felsen.« Er warf dem kreisenden Drachen einen kurzen Blick zu. »Wenn nicht bald Wind aufkommt, werden wir an ihnen zerschmettert.«

In diesem Moment hörte der Drache auf zu kreisen. Er schwankte einen Moment, dann stieg er hoch. Die Matrosen jubelten, sie dachten, er flöge davon. Aber Laurana, sich an Tanis erinnernd, wußte es besser.

»Er macht einen Sturzflug!« schrie sie. »Er greift an!«

»Geht nach unten!« befahl Sturm, und die Matrosen begannen nach einem zögernden Blick in den Himmel zu den Luken zu kriechen. Der Kapitän rannte zum Steuer.

»Nach unten mit dir!« befahl er dem Steuermann und übernahm.

»Du kannst nicht hierbleiben!« schrie Sturm. Er rannte zum Kapitän zurück. »Er wird dich töten!«

»Wir werden sinken, wenn ich nicht bleibe«, schrie der Kapitän wütend.

»Wir werden sinken, wenn du tot bist!« erwiderte Sturm. Mit einem Kinnhaken setzte er den Kapitän außer Gefecht und zog ihn dann nach unten.

Laurana stolperte die Stufen hinunter, Gilthanas folgte ihr.

Der Elfenlord wartete, bis Sturm den bewußtlosen Kapitän nach unten geschafft hatte, dann zog er die Luke zu.

In diesem Moment traf der Drache das Schiff mit einer Wucht, die es fast zum Kentern brachte. Das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite. Alle, selbst der abgehärteste Matrose, verloren das Gleichgewicht und schlidderten ineinander. Flint rollte mit einem Fluch auf den Boden.

»Jetzt ist die Zeit, zu deinem Gott zu beten«, sagte Derek zu Elistan.

»Das tue ich bereits«, entgegnete Elistan kühl und half dem Zwerg.

Laurana, die sich an eine Stange geklammert hatte, erwartete ängstlich das flackernd orangefarbene Licht, die Hitze, die Flammen. Statt dessen gab es eine plötzliche scharfe und bittere Kälte, die ihr den Atem nahm und ihr Blut gefrieren ließ.

Über sich konnte sie das Takelwerk zerreißen und zerspringen hören, dann hörten die Segel auf zu schlagen. Als sie nach oben starrte, sah sie weißen Frost zwischen den Sprüngen im Holzdeck durchsickern.

»Die weißen Drachen atmen keine Flammen!« stellte Laurana fest. »Sie atmen Eis! Elistan! Deine Gebete wurden erhört!«

»Pah! Was für ein Unterschied«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd. »Das Eis wird uns einfrieren.«

»Ein eisatmender Drache!« sagte Tolpan verträumt. »Das würde ich so gern sehen!«

»Was geschieht jetzt?« fragte Laurana, als sich das Schiff wieder langsam ächzend und stöhnend aufrichtete.

»Wir sind hilflos ausgeliefert«, knurrte der Kapitän. »Das Takelwerk wird unter dem Gewicht des Eises einreißen und die Segel nach unten ziehen. Der Mast wird wie ein Baum im Eissturm brechen. Ohne Steuerung wird die Strömung das Schiff an den Felsen zerschellen lassen, und das wird dann unser Ende sein. Wir können überhaupt nichts unternehmen!«

»Wir könnten versuchen, ihn beim Vorbeifliegen zu erschießen«, schlug Gilthanas vor. Aber Sturm schüttelte den Kopf.

»Über uns hat sich bestimmt eine dicke Schicht Eis gelegt«, sagte der Ritter. »Wir sind eingeschlossen.«

So will der Drache also an die Kugel kommen, dachte Laurana kläglich. Er läßt das Schiff kentern, tötet uns, dann kann er die Kugel zurückerobern, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, daß er im Meer versinkt.

»Noch so ein Schlag wird uns zum Meeresgrund befördern«, sagte der Kapitän voraus, aber ein weiterer schwerer Schlag folgte nicht. Der Drache setzte seinen Atem sorgfältig ein, um sie zur Küste zu treiben.

Es war ein hervorragender Plan, und Sleet war ziemlich stolz auf sich. Er glitt hinter dem Schiff her, ließ es von der Strömung zur Küste tragen und half ab und zu mit einem kleinen Atemstoß nach. Erst als er die zerklüfteten Felsen aus dem vom Mond beleuchteten Wasser herausragen sah, erkannte der Drache plötzlich den Haken an seinem Plan. Dann war das Mondlicht völlig verschwunden, von den Gewitterwolken weggewischt, und der Drache konnte nichts mehr sehen. Es war dunkler als die Seele seiner Königin.

Der Drache verfluchte die Gewitterwolken, die den Drachenfürsten im Norden so gut für ihre Zwecke dienten. Aber die Wolken arbeiteten gegen ihn, da sie die zwei Monde auswischten. Sleet hörte das Splittern und Bersten von Holz, als das Schiff gegen die Felsen krachte. Er konnte sogar die Schreie der Matrosen hören – aber er konnte nichts sehen! Er flog tiefer über dem Wasser, hoffte, die erbärmlichen Gestalten bis zur Morgendämmerung in Eis einzuschließen. Dann hörte er jedoch in der Dunkelheit ein anderes, eher beängstigendes Geräusch das Schwirren von Bogensehnen.

Ein Pfeil zischte an seinem Kopf vorbei. Ein anderer bohrte sich in die zarte Haut seines Flügels. Vor Schmerz aufkreischend hielt Sleet in seinem Tiefflug inne. Wütend erkannte er, daß im Schiff auch Elfen sein mußten. Noch mehr Pfeile surrten an ihm vorbei. Diese verdammten Elfen, die in der Nacht sehen konnten! Mit ihrer Elfensicht würde er ein leichtes Ziel abgeben, besonders da er jetzt an einem Flügel behindert war.

Er fühlte seine Kraft schwinden und entschied, nach Eismauer zurückzukehren. Er war vom stundenlangen Fliegen müde, und die Pfeilwunde bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Es stimmte wohl, daß er nun der Dunklen Königin ein weiteres Versagen melden mußte, aber – je mehr er darüber nachdachte es war überhaupt kein Versagen. Er hatte dazu beigetragen, daß die Kugel der Drachen Sankrist nicht erreichte, und er hatte das Schiff zerstört. Er wußte, wo sich die Kugel befand. Die Königin konnte sie mit ihrem weitverstreuten Kundschafternetz in Ergod mühelos zurückgewinnen.

Beruhigt flog der weiße Drache gen Süden. Am nächsten Morgen erreichte er seine Gletscherheimat. Nach seinem Bericht, der angemessen entgegengenommen wurde, schlüpfte Sleet in seine Eishöhle und pflegte seinen Flügel.

»Er ist weg!« rief Gilthanas erstaunt.

»Natürlich«, sagte Derek müde, der mithalf, die Versorgungsgüter aus dem gestrandeten Schiff zu bergen. »Seine Sicht kann deiner Elfensicht nicht standhalten. Nebenbei, du hast ihn einmal getroffen.«

»Es war Lauranas Schuß, nicht meiner«, sagte Gilthanas und lächelte seine Schwester an, die am Strand stand.

Derek rümpfte zweifelnd die Nase. Sorgfältig stellte er die Kiste ab und ging wieder in das Wasser zurück. Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf und versperrte ihm den Weg.

»Keinen Sinn, Derek«, sagte Sturm. »Das Schiff ist gesunken.«

Sturm trug Flint auf seinem Rücken. Als Laurana den Ritter vor Müdigkeit taumeln sah, lief sie zu ihm ins Wasser. Gemeinsam brachten sie den Zwerg zum Strand und legten ihn auf den Sand.

Dann hörte man Wasser aufplatschen. Tolpan watete heran, seine Zähne klapperten, aber sein Grinsen war breit wie immer.

Ihm folgte der Kapitän, auf Elistan gestützt.

»Was ist mit den Leichnamen meiner Männer?« fragte Derek gebieterisch, als er den Kapitän erblickte. »Wo sind sie?«

»Wir hatten wichtigere Dinge zu tragen«, sagte Elistan ernst.

»Dinge, die für die Lebenden notwendig sind, wie Lebensmittel und Waffen.«

»Viele gute Männer haben ihr letztes Zuhause unter den Wellen gefunden. Eure sind nicht die ersten – und werden auch nicht die letzten sein, nehme ich an«, fügte der Kapitän hinzu.

Derek wollte etwas erwidern, aber der Kapitän sagte: »Ich habe sechs meiner Männer in dieser Nacht verloren, mein Herr. Anders als Eure haben sie noch gelebt, als wir diese Reise begannen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mein Schiff und mein Lebensunterhalt auch dort unten liegen. Ich würde es mir überlegen, noch etwas hinzuzufügen, wenn Ihr versteht, was ich meine, mein Herr.«

»Es tut mir leid um deinen Verlust, Kapitän«, antwortete Derek steif. »Und ich danke dir und deiner Mannschaft für alles, was ihr versucht habt.«

Der Kapitän murmelte etwas, stand am Strand und blickte ziellos und verloren um sich.

»Wir haben deine Männer dort hinten den Strand entlang geschickt, Kapitän«, sagte Laurana. »Dort ist Schutz unter den Bäumen.«

Wie um ihre Worte zu bestätigen, flackerte ein helles Licht auf, das Licht eines großen Feuers.

»Dummköpfe!« fluchte Derek. »Sie werden den Drachen auf uns lenken.«

»Entweder das, oder wir werden erfrieren«, gab der Kapitän über die Schulter bitter zurück. »Ihr könnt es Euch aussuchen, Ritter. Mich interessiert es wenig.« Er verschwand in der Dunkelheit.

Sturm streckte sich, stöhnte und versuchte seine eiskalten verkrampften Muskeln zu lockern. Flint lag zusammengekrümmt auf dem Boden, bebte dermaßen, daß die Spangen an seiner Rüstung klirrten. Laurana bückte sich, um ihn mit ihrem Umhang zu bedecken, als sie plötzlich bemerkte, wie sehr sie fror.

In der ganzen Aufregung hatte sie die eisige Kälte völlig vergessen. Sie konnte sich nicht einmal genau an ihre Flucht erinnern. Sie wußte nur, daß sie beim Erreichen des Strandes den Drachen über sich gesehen hatte. Mit tauben, bebenden Fingern hatte sie nach ihrem Bogen gegriffen. Sie fragte sich, ob jemand überhaupt die Geistesgegenwart gehabt hatte, irgend etwas zu bergen...

»Die Kugel der Drachen!« sagte sie ängstlich.

»Hier, in der Kiste«, antwortete Derek. »Mit der Lanze und dem Elfenschwert, das du Drachentöter nennst. Und jetzt sollten wir uns wohl ans Feuer setzen...«

»Ich glaube nicht.« Eine fremde Stimme ertönte aus der Dunkelheit, während Fackeln aufflackerten und sie blendeten.

Die Gefährten zogen sofort ihre Waffen und stellten sich schützend vor den hilflosen Zwerg. Aber Laurana spähte nach einem Moment des Schreckens in die durch das Fackellicht beleuchteten Gesichter.

»Wartet!« schrie sie. »Das sind unsere Leute! Das sind Elfen!«

»Silvanesti!« sagte Gilthanas freudig. Er ließ seinen Bogen fallen und ging auf den Elf zu, der gesprochen hatte. »Wir sind lange Tage durch Dunkelheit gereist«, sagte er in der Elfensprache und streckte seine Hände aus. »Ich grüße dich, Bru...«

Er sollte die uralte Begrüßungsrede nie beenden. Der Anführer der Elfengruppe schlug das Endteil seines Stabes über Gilthanas Gesicht, so daß er bewußtlos auf den Sand fiel.

Sturm und Derek zogen sofort ihre Schwerter und stellten sich Rücken an Rücken auf. Eisen blitzte bei den Elfen auf.

»Hört auf!« schrie Laurana in der Elfensprache. Sie kniete sich zu ihrem Bruder und warf die Kapuze ihres Umhangs zurück, so daß das Licht auf ihr Gesicht fiel. »Wir sind Vettern. Qualinesti! Diese Menschen sind Ritter von Solamnia!«

»Wir wisen schon, wer ihr seid!« Der Elfenanführer fauchte die Worte: »Qualinesti-Kundschafter! Und wir finden es nicht ungewöhnlich, daß ihr in Begleitung von Menschen reist. Euer Blut ist schon seit langem verunreinigt. Nehmt sie fest«, befahl er seinen Männern. »Falls sie nicht friedlich mitkommen, tut, was ihr tun müßt. Und findet heraus, was sie mit dieser Kugel der Drachen meinen.«

Die Elfen traten vor.

»Nein!« schrie Derek und sprang zur Kiste. »Sturm, sie dürfen die Kugel nicht bekommen!«

Sturm hatte bereits die ritterliche Begrüßung des Feindes hinter sich und schritt mit gezogenem Schwert nach vorn.

»Offenbar wollen sie kämpfen. Dann soll es so sein«, sagte der Elfenanführer und zog seine Waffe.

»Ich sage dir, das ist Wahnsinn!« schrie Laurana wütend. Sie warf sich zwischen die aufblitzenden Schwertklingen. Die Elfen hielten unsicher inne. Sturm ergriff sie, um sie zurückzuziehen, aber sie riß sich aus seiner Hand frei.

»Goblins und Drakonier sinken trotz ihrer entsetzlichen Bösartigkeit nicht so tief, sich gegenseitig zu bekämpfen«, ihre Stimme bebte vor Zorn, »während wir Elfen, die uralte Verkörperung des Guten, versuchen, uns gegenseitig zu töten! Schaut!« Sie hob den Deckel der Kiste mit einer Hand an und warf ihn zurück. »In dieser Kiste haben wir die Hoffnung für die Welt! Eine Kugel der Drachen, unter großer Gefahr aus Eismauer geholt. Unser Schiff liegt dort draußen als Wrack im Wasser. Wir haben den Drachen vertrieben, der versuchte, diese Kugel zurückzuerobern. Und nach alldem müssen wir erleben, daß die größte Gefahr von unserem eigenen Volk kommt! Wenn das wahr ist, wenn wir so tief gesunken sind, dann tötet uns jetzt, und ich schwöre, keiner in der Gruppe wird euch aufzuhalten versuchen!« zuhalten versuchen!«

Sturm, der die Elfensprache nicht verstand, beobachtete, wie die Elfen nach einem Moment ihre Waffen senkten. »Nun, was auch immer sie gesagt hat, es scheint gewirkt zu haben.« Widerstrebend steckte er sein Schwert weg. Derek senkte nach kurzem Zögern das seine, schob es aber nicht wieder in die Scheide.

»Wir werden eure Geschichte überprüfen«, begann der Elfenanführer, der nun stockend in der Umgangssprache redete. Er verstummte, als vom Strand Schreie und Rufe zu hören waren.

Die Gefährten sahen dunkle Schatten zum Lagerfeuer strömen.

Der Elf blickte in die Richtung, wartete bis alles ruhig war, dann wandte er sich wieder der Gruppe zu. Er sah besonders zu Laurana, die sich über ihren Bruder beugte. »Wir haben wohl etwas voreilig gehandelt, aber wenn du hier länger leben würdest, würdest du es verstehen können.«

»Das werde ich nie verstehen!« sagte Laurana weinend.

Ein Elf erschien aus der Dunkelheit. »Menschen, Herr.« Laurana hörte seinem Bericht zu. »Matrosen, ihrer Erscheinung nach zu urteilen. Sie sagen, daß ihr Schiff von einem Drachen angegriffen wurde und an den Felsen zerschellt ist.«

»Beweise?«

»Wir fanden Teile des Wracks am Strand. Wir können morgen früh weitersuchen. Die Menschen sind völlig durchnäßt, müde und halb ertrunken. Sie leisteten keinen Widerstand. Ich glaube nicht, daß sie lügen.«

Der Elfenanführer wandte sich an Laurana. »Deine Geschichte scheint zu stimmen«, sagte er in der Umgangssprache. »Meine Männer berichten, daß die Menschen, die sie gefangengenommen haben, Matrosen sind. Mach dir keine Sorgen um sie. Wir werden sie natürlich als Gefangene mitnehmen. Wir können auf dieser Insel keine Menschen herumlaufen lassen bei all unseren anderen Problemen. Aber wir werden sie gut behandeln. Wir sind keine Goblins«, fügte er bitter hinzu. »Es tut mir leid, deinen Freund...«

»Bruder«, entgegnete Laurana. »Und jüngster Sohn der Stim- Stimme der Sonnen. Ich bin Lauralanthalasa, und das ist Gilthanas. Wir gehören zur königlichen Familie Qualinestis.«

Es schien ihr, daß der Elf bei dieser Neuigkeit erblaßte, aber sofort seine Fassung wiedererlangte. »Dein Bruder wird gut versorgt werden. Ich werde einen Heiler holen lassen...«

»Wir brauchen deinen Heiler nicht!« sagte Laurana. »Dieser Mann« – sie zeigte auf Elistan, »ist ein Kleriker Paladins. Er wird meinem Bruder helfen...«

»Ein Mensch?« fragte der Elf ernst.

»Ja, Mensch!« schrie Laurana ungeduldig. »Elfen haben meinen Bruder niedergeschlagen! Ich wende mich an Menschen, damit er geheilt wird. Elistan...«

Der Kleriker wollte vortreten, aber auf ein Zeichen ihres Anführers ergriffen ihn einige Elfen und drehten seine Arme auf seinen Rücken. Sturm wollte ihm zur Hilfe eilen, aber Elistan hielt ihn mit einem Blick auf, indem er bedeutungsvoll zu Laurana sah. Sturm wich zurück, verstand Elistans stumme Warnung. Ihr aller Leben hing von ihr ab.

»Laßt ihn los!« verlangte Laurana. »Laßt ihn meinen Bruder behandeln!«

»Ich kann diese Neuigkeit, daß ein Kleriker Paladins unter uns weilt, unmöglich glauben, Lady Laurana«, sagte der Elfenanführer. »Alle wissen, daß die Kleriker von Krynn verschwanden, als die Götter sich von uns abgewendet hatten. Ich weiß nicht, was das für ein Scharlatan ist, oder wie er es geschafft hat, dich zu beeinflussen, aber ich werde nicht zulassen, daß dieser Mensch seine Hand an einen Elfen legt!«

»Selbst an einen Elfen, der ein Feind ist?« schrie sie wütend.

»Selbst wenn der Elf meinen Vater getötet hätte«, antwortete der Elf grimmig. »Und jetzt, Lady Laurana, muß ich mit dir unter vier Augen sprechen und versuchen zu erklären, was sich hier auf dem südlichen Ergod ereignet.«

Als er Lauranas Zögern sah, sagte Elistan: »Geh mit ihm, meine Liebe. Du bist die einzige, die uns jetzt retten kann. Ich bleibe bei Gilthanas.«

»Nun gut«, sagte Laurana und erhob sich. Mit blassem Gesicht ging sie mit dem Elfenanführer weg.

»Mir gefällt das nicht«, knurrte Derek. »Sie hat ihnen von der Kugel der Drachen erzählt, was sie nicht hätte tun sollen.«

»Sie haben uns darüber reden hören«, sagte Sturm müde.

»Ja, aber sie hat ihnen gesagt, wo sie ist! Ich traue ihr nicht auch nicht ihrem Volk. Wer weiß, was sie für einen Handel abschließen?« fügte Derek hinzu.

»Das reicht!« krächzte eine Stimme.

Beide Männer drehten sich erstaunt um und sahen Flint sich schwankend erheben. Seine Zähne klapperten immer noch, aber in seinen Augen glitzerte ein kaltes Licht, als er Derek anblickte. »I...ich habe g...genug von d...dir, H...Herr Hoch und M...Mächtig.« Der Zwerg biß die Zähne zusammen, um sein Zittern zu bekämpfen, damit er weitersprechen konnte.

Sturm wollte eingreifen, aber der Zwerg schob ihn beiseite, um Derek gegenüberzustehen. Es war ein absurder Anblick und einer, an dem sich Sturm oft mit einem Lächeln erinnern würde. Unbedingt wollte er später Tanis davon erzählen. Der Zwerg, mit seinem langen weißen Bart, nun naß und dünn, dem das Wasser aus seinen Kleidern tröpfelte und eine Pfütze um seine Füße bildete und der knapp an Dereks Gürtel reichte, schimpfte den riesigen, stolzen solamnischen Ritter aus, so wie er Tolpan ausschimpfen würde.

»Ihr Ritter habt so lange in Metall eingeschlossen gelebt, daß euer Gehirn zu einem weichen Brei geschüttelt worden ist!«

Der Zwerg schnaubte verächtlich. »Falls ihr überhaupt jemals ein Gehirn hattet, was ich bezweifle. Ich habe dieses Mädchen aufwachsen sehen von einem kleinen Würmchen bis zu der wunderschönen Frau, die sie jetzt ist. Und ich sage dir, es gibt keine mutigere und noblere Person auf Krynn. Was du begreifen solltest, ist, daß sie gerade deine Haut gerettet hat. Und damit kommst du nicht klar!«

Dereks Gesicht wurde knallrot im Fackelschein.

»Ich brauche weder Zwerge noch Elfen, die mich verteidigen...«, begann er wütend, als Laurana zurückgelaufen kam.

»Als ob es nicht schon genug Schlimmes gibt«, murmelte sie mit zusammengepreßten Lippen, »muß ich auch noch herausfinden, daß sich unter meiner eigenen Rasse etwas zusammenbraut!«

»Was ist los?« fragte Sturm.

»Die Situation sieht so aus: Es leben jetzt drei Elfenrassen im südlichen Ergod...«

»Drei Rassen?« unterbrach Tolpan und starrte Laurana interessiert an. »Was für eine dritte Rasse? Woher kommen sie? Kann ich sie sehen? Ich habe nie...«

Laurana hatte genug. »Tolpan«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Geh zu Gilthanas. Und bitte Elistan, herzukommen.«

»Aber...«

Sturm gab dem Kender einen Schubs. »Geh!« befahl er.

Verletzt und traurig schleppte sich Tolpan zu Gilthanas. Der Kender ließ sich auf den Sand fallen und schmollte. Elistan klopfte sanft auf seine Schulter und ging zu den anderen.

»Die Kaganesti, in der Gemeinsamen Sprache als Wild-Elfen bekannt, sind die dritte Rasse«, fuhr Laurana fort. »Sie kämpften mit uns in den Sippenmord-Kriegen. Für ihre Loyalität gab Kith-Kanan ihnen die Gebirge von Ergod – bevor Qualinesti und Ergod durch die Umwälzung getrennt wurden. Es überrascht mich nicht, daß ihr nie von den Wild-Elfen gehört habt. Es ist ein sehr verschwiegenes Volk, das für sich lebt. Einst Grenzland-Elfen genannt, waren sie wilde Krieger und dienten Kith-Kanan gut, aber sie hatten für Städte nichts übrig. Sie vermischten sich mit den Druiden und erwarben ihr Wissen. Mein Volk betrachtet sie als Barbaren – so wie euer Volk die Menschen aus den Ebenen als barbarisch bezeichnet. Vor einigen Monaten, als sie aus ihrer uralten Heimat vertrieben wurden, flüchteten die Silvanesti hierher und erbaten die Erlaubnis der Kaganesti, sich eine Zeitlang in Ergod niederzulassen. Und dann kam mein Volk, die Qualinesti, über das Meer. Und so trafen sich schließlich Verwandte, die seit Hunderten von Jahren getrennt waren.«

»Ich sehe nicht die Wichtigkeit...«, unterbrach Derek.

»Das wirst du schon noch«, sagte sie und holte tief Atem.

»Denn unser Leben hängt davon ab, ob wir verstehen, was auf dieser traurigen Insel passiert.« Ihre Stimme versagte. Elistan ging zu ihr und legte seinen Arm tröstend um sie.

»Alles fing ganz friedlich an. Trotz aller Unterschiede hatten die beiden vertriebenen Rassen Wichtiges gemeinsam – beide wurden vom Bösen aus ihrer geliebten Heimat vertrieben. Sie ließen sich auf der Insel nieder – die Silvanesti am westlichen Strand, die Qualinesti auf der östlichen Seite, getrennt durch eine Wasserstraße, bekannt als Thon-Tsalarian, was in Kaganesti ›Fluß der Toten‹ heißt. Die Kaganesti ihrerseits leben im Hügelland nördlich des Flusses.

Eine Zeitlang wurden sogar Versuche unternommen, Freundschaft zwischen den Silvanesti und den Qualinesti herzustellen.

Und dann begann der Ärger. Denn diese Elfen konnten sich nicht treffen, selbst nach Hunderten von Jahren, ohne daß der alte Haß und die Mißverständnisse an die Oberfläche kamen.«

Laurana schloß einen Moment ihre Augen. »Der Fluß der Toten sollte eher Thon-Tsalaroth – ›Fluß des Todes‹ heißen.«

»Nun, Mädchen«, sagte Flint und berührte ihre Hand, »bei den Zwergen ist es nicht anders. Du hast gesehen, wie ich in Thorbadin behandelt wurde – ein Hügelzwerg unter Bergzwergen. Von allen Haßgefühlen ist der zwischen Familien der grausamste.«

»Bis jetzt wurde noch keiner getötet, aber die Älteren waren so bestürzt darüber, was geschehen könnte – Elfen töten ihre eigene Art -, daß sie anordneten, niemand dürfe die Wasserstraße unter Strafe überqueren«, fuhr Laurana fort. »Und genau hier stehen wir. Keine Seite traut der anderen. Es gab sogar Beschuldigungen, sich den Drachenfürsten verkauft zu haben! Auf beiden Seiten wurden Kundschafter gefangengenommen.«

»Das erklärt, warum sie uns angegriffen haben«, murmelte Elistan.

»Was ist mit den Kag... Kag...«, stolperte Sturm über das unbekannte Elfenwort.

»Kaganesti.« Laurana seufzte erschöpft. »Sie, die uns erlaubt haben, in ihrer Heimat zu wohnen, werden am schlimmsten behandelt. Die Kaganesti waren schon immer im materiellen Sinne arm gewesen – nach unseren Standardvorstellungen, jedoch nicht nach ihren. Sie leben in den Wäldern und Bergen, nehmen sich vom Land, was sie brauchen. Sie sind Jäger und Sammler. Sie pflanzen kein Getreide, sie schmieden kein Metall. Als wir ankamen, erschien unser Volk mit seinem Gold, seinen Juwelen und seinen Stahlwaffen ihnen reich. Viele junge Kaganesti gingen zu den Qualinesti und den Silvanesti und baten, die Geheimnisse der Herstellung von Gold, Silber und Stahl lernen zu dürfen.«

Laurana biß sich auf die Lippen, ihr Gesicht verhärtete sich.

»Ich sage es zu meiner Schande, daß mein Volk die Armut der Wild-Elfen ausnutzt. Die Kaganesti arbeiten für uns als Sklaven. Und die älteren Kaganesti sind zornig geworden und sinnen auf Krieg, da sie sehen, daß man ihnen die jungen Leute weggenommen hat und ihre Lebensweise bedroht ist.«

»Laurana!« rief Tolpan.

Sie drehte sich um. »Sieh«, sagte sie leise zu Elistan. »Da ist eine von ihnen.« Der Kleriker folgte ihrem Blick und sah eine geschmeidige junge Frau – zumindest schien das lange Haar darauf hinzudeuten, daß es eine junge Frau war, auch wenn sie Männerkleidung trug. Sie kniete neben Gilthanas nieder und strich über seine Stirn. Der Elfenlord bewegte sich bei ihrer Berührung und stöhnte vor Schmerzen. Die Kaganesti griff in einen Beutel und begann geschäftig in einem kleinen Tongefäß etwas zu mischen.

»Was macht sie da?« fragte Elistan.

»Sie ist anscheinend die Heilerin, nach der sie geschickt haben«, sagte Laurana und beobachtete das Mädchen genau. »Die Kaganesti sind bekannt für ihre druidischen Fähigkeiten.«

Wild-Elfe war ein passender Name, entschied Elistan, als er das Mädchen aufmerksam musterte. Niemals zuvor hatte er auf Krynn ein intelligentes Lebewesen gesehen, das ähnlich wild aussah. Sie trug eine Lederhose, die in Lederstiefeln steckte.

Ein Hemd, offensichtlich von einem Elfenlord weggeworfen, hing an ihren Schultern. Sie war blaß und zu dünn, unterernährt. Ihr glanzloses Haar war so verfilzt, daß man unmöglich die Farbe erkennen konnte. Aber die Hand, die Gilthanas berührte, war schlank und schön geformt. Sorge und Mitgefühl für ihn standen in ihrem sanften Gesicht.

»Nun«, sagte Sturm, »und was geschieht mit uns in dieser Situation?«

»Die Silvanesti haben sich einverstanden erklärt, uns zu meinem Volk zu begleiten«, sagte Laurana und errötete dabei. Offenbar war dies ein Punkt harter Auseinandersetzungen gewesen. »Zuerst bestanden sie darauf, uns zu ihren Ältesten zu bringen, aber ich sagte, daß ich nirgendwo hingehen würde, ohne meinen Vater zu begrüßen und die Angelegenheit mit ihm zu bereden. Dagegen konnten sie nicht viel sagen.« Laurana lächelte leicht, obwohl in ihrer Stimme ein Hauch Bitterkeit lag. »Bei allen Stämmen ist eine Tochter solange an das Haus ihres Vaters gebunden, bis sie volljährig wird. Mich gegen meinen Willen hierzubehalten, würde als Raub angesehen werden und offene Feindseligkeit hervorrufen. Und dazu ist keine Seite bereit.«

»Sie lassen uns also passieren, obwohl sie wissen, daß wir die Kugel der Drachen haben?« fragte Derek erstaunt.

»Sie lassen uns nicht passieren«, sagte Laurana scharf. »Ich sagte, sie bringen uns zu meinem Volk.«

»Aber im Norden befindet sich ein solamnischer Außenposten«, argumentierte Derek. »Dort könnten wir ein Schiff nach Sankrist bekommen...«

»Du würdest nicht einmal lebend diese Bäume erreichen, wenn du versuchen solltest, zu fliehen«, sagte Flint und nieste heftig.

»Er hat recht«, sagte Laurana. »Wir müssen zu den Qualinesti und meinen Vater überzeugen, uns zu helfen, die Kugel nach Sankrist zu bringen.« Eine kleine, dunkle Linie erschien zwischen ihren Augenbrauen, die Sturm sagte, daß sie nicht überzeugt war, daß das so einfach war, wie es klang. »Und jetzt haben wir lang genug geredet. Sie haben mir Zeit gelassen, euch die Lage zu erklären, aber wir sollten ihre Geduld nicht auf die Probe stellen. Ich muß nach Gilthanas sehen. Sind wir uns einig?«

Laurana musterte jeden Ritter mit einem Blick, der nicht Bejahung suchte, sondern auf die Anerkennung ihrer Führerschaft wartete. Einen Moment sah sie Tanis so ähnlich, daß Sturm lächeln mußte. Aber Derek lächelte nicht. Er war wütend und enttäuscht, um so mehr, da er wußte, daß er nichts dagegen unternehmen konnte.

Schließlich jedoch stieß er eine gemurmelte Antwort hervor, daß sie wohl das Beste daraus machen müßten, und stolzierte weg. Flint und Sturm folgten, der Zwerg nieste so sehr, daß er sich selbst fast von den Füßen hob.

Laurana ging zu ihrem Bruder zurück, sich dabei in ihren weichen Lederstiefeln lautlos auf dem Sand bewegend. Aber die Wild-Elfe hörte ihr Kommen. Sie hob ihren Kopf, warf Laurana einen ängstlichen Blick zu und kroch weg wie ein Tier, das beim Anblick eines Menschen zurückschreckt. Aber Tolpan, der sich mit ihr in einer merkwürdigen Mischung aus Umgangssprache und Elfensprache unterhalten hatte, faßte sie sanft am Arm.

»Geh nicht weg«, sagte der Kender fröhlich. »Das ist die Schwester des Elfenlords. Sieh mal, Laurana. Gilthanas geht es schon besser. Es muß an diesem Zeug liegen, das sie auf sein Gesicht gelegt hat. Ich hätte schwören können, daß er tagelang außer Gefecht sein würde.« Tolpan erhob sich. »Laurana, das ist meine Freundin – wie war dein Name noch mal?«

Das Mädchen hielt die Augen auf den Boden gerichtet und zitterte heftig. Sie murmelte etwas, das niemand verstehen konnte.

»Wie war dein Name, Kind?« fragte Laurana mit einer so süßen und sanften Stimme, daß das Mädchen schüchtern ihre Augen hob.

»Silvart«, sagte sie leise.

»Das bedeutet ›silberhaarig‹ in der Kaganesti-Sprache, nicht wahr?« fragte Laurana. Sie kniete sich zu Gilthanas und half ihm aufzusitzen. Benommen tastete er mit seiner Hand nach seinem Gesicht, wo das Mädchen eine dicke Paste über die blutende Wunde gestrichen hatte.

»Geh nicht daran«, warnte Silvart und ergriff blitzschnell Gilthanas' Hand. Sie sprach die Umgangssprache, aber nicht grob, sondern klar und genau.

Gilthanas stöhnte vor Schmerzen auf, schloß die Augen und ließ seine Hand fallen. Silvart starrte ihn in tiefem Mitgefühl an. Sie wollte sein Gesicht streicheln, aber sie zog schnell ihre Hand weg und erhob sich, als sie auf Laurana schaute.

»Warte«, sagte Laurana. »Warte, Silvart.«

Das Mädchen versteifte sich und starrte Laurana mit solch einer Angst an, daß Laurana von Scham überwältigt wurde.

»Hab keine Angst. Ich möchte dir für deine Hilfe danken. Tolpan hat recht. Ich dachte mir zwar, daß seine Verletzung nicht sehr ernst war, aber du hast ihm sehr geholfen. Bitte bleibe bei ihm, wenn du möchtest.«

Silvart blickte zum Boden. »Ich werde bei ihm bleiben, wenn das Euer Befehl ist.«

»Es ist nicht mein Befehl, Silvart«, sagte Laurana. »Es ist mein Wunsch. Und ich heiße Laurana.«

Silvart hob die Augen. »Dann werde ich gern bei ihm bleiben, Laurana, wenn das dein Wunsch ist.« Sie beugte ihren Kopf, und man konnte kaum ihre Worte verstehen. »Mein richtiger Name, Silvara, bedeutet silberhaarig. Sie nennen mich Silvart.« Sie blickte zu den Silvanesti-Kriegern, dann fuhren ihre Augen zu Laurana zurück. »Bitte, ich möchte, daß du mich Silvara nennst.«

Die Silvanesti brachten eine provisorische Trage, die sie aus einer Decke und Baumästen gebaut hatten. Sie hoben den Elfenlord – nicht unsanft – auf die Trage. Silvara ging mit Tolpan neben ihm. Tolpan erzählte weiter, erfreut, jemanden gefunden zu haben, der seine Geschichten noch nicht kannte. Laurana und Elistan gingen auf der anderen Seite von Gilthanas. Laurana hielt seine Hand und wachte zärtlich über ihn. Hinter ihnen folgte Derek, sein Gesicht dunkel und bewölkt, die Kiste mit der Kugel der Drachen auf seiner Schulter. Am Ende des Zugs marschierte eine Gruppe Silvanesti-Elfen.

Die Morgendämmerung brach gerade grau und bedrückend an, als sie die Baumgrenze an der Küste erreichten. Flint zitterte. Er drehte seinen Kopf und starrte auf das Meer. »Was hat Derek gesagt über ein – ein Schiff nach Sankrist?«

»Leider ja«, erwiderte Sturm. »Wir sind auf einer Insel.«

»Und wir müssen dorthin?«

»Ja.«

»Um die Kugel der Drachen anzuwenden? Wir wissen nichts darüber!«

»Die Ritter werden es erfahren«, sagte Sturm leise. »Die Zukunft der Welt hängt davon ab.«

»Pfff!« schnaufte der Zwerg. Er warf einen verängstigten Blick auf das Wasser, dann schüttelte er düster den Kopf. »Ich weiß nur, daß ich zweimal beinahe ertrunken wäre, von einer tödlichen Krankheit heimgesucht wurde...«

»Du warst seekrank.«

»Von einer tödlichen Krankheit heimgesucht wurde«, wiederholte Flint laut, »und Schiffbruch erlitten habe. Achte auf meine Worte, Sturm Feuerklinge – Boote bringen uns nur Unglück. Wir hatten bisher nur Ärger, seitdem wir unsere Füße in dieses verdammte Boot am Krystalmir-See gesetzt haben. Dort war es auch, als der verrückte Magier zum ersten Mal gesehen hat, daß die Konstellationen verschwunden sind, und von da an ging es mit unserem Glück bergab. Solange wir uns weiterhin auf Boote verlassen, kann es nur noch schlimmer werden.«

Sturm lächelte, als er den Zwerg durch den Sand stapfen sah.

Aber sein Lächeln verwandelte sich in ein Seufzen. Ich wünschte, alles wäre so einfach, dachte der Ritter.

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