17 Silvara

Obwohl jeder Muskel an Gilthanas' Körper nach Ruhe schrie und er dachte, daß er nicht schnell genug auf sein Lager kriechen konnte, fand sich der Elfenlord hellwach und in den Himmel starrend vor. Gewitterwolken hingen schwer über ihnen, aber eine Brise aus dem Westen brach sie auf. Gelegentlich konnte er die Sterne erkennen, und einmal flackerte der rote Mond am Himmel wie eine Kerzenflamme auf und wurde dann von den Wolken ausgelöscht.

Der Elf versuchte sich bequem hinzulegen, drehte sich, bis seine Schlafstatt völlig durcheinander war, dann setzte er sich auf. Schließlich gab er auf und entschied, daß er unmöglich auf dem harten, gefrorenen Boden schlafen konnte.

Keiner der Gefährten schien irgendwelche Probleme zu haben, bemerkte er bitter. Laurana schlief tief, eine Hand an der Wange, eine Gewohnheit seit ihrer Kindheit. Wie seltsam sie sich seit kurzem verhielt, dachte Gilthanas. Aber er konnte ihr kaum die Schuld dafür geben. Sie hatte alles aufgegeben, um das zu tun, was sie für richtig hielt, nämlich, die Kugel nach Sankrist zu bringen. Ihr Vater hätte sie wohl wieder aufgenommen, aber jetzt war sie für immer eine Ausgestoßene.

Gilthanas seufzte. Was war mit ihm? Er wollte die Kugel in Qualin-Mori lassen. Er glaubte, daß sein Vater recht hatte...

Oder?

Anscheinend nicht, sonst wäre ich nicht hier, überlegte Gilthanas weiter. Bei den Göttern, seine Werte gerieten genauso durcheinander wie Lauranas! Zuerst war da sein Haß gegen Tanis, ein Haß, den er jahrelang selbstgerecht genährt hatte, der sich dann aufzulösen schien, durch Bewunderung ersetzt wurde, ja sogar Zuneigung. Dann spürte er seinen Haß gegen andere Rassen versiegen. Er hatte wenige Elfen kennengelernt, die so ehrenwert und selbstaufopfernd waren wie der Mensch Sturm Feuerklinge. Und obwohl er Raistlin nicht mochte, so beneidete er den jungen Magier doch um seine Fähigkeiten.

Gilthanas, ein Dilettant in der Magie, hatte nie die Geduld oder den Mut aufgebracht, so weit zu kommen. Schließlich mußte er sich eingestehen, daß er sogar den Kender und den mürrischen alten Zwerg mochte. Aber niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, daß er sich in eine Wild-Elfe verlieben würde.

»Nun!« sagte Gilthanas laut. »Ich muß es zugeben. Ich liebe sie!« Aber war es Liebe, fragte er sich, oder bloß körperliche Anziehung. Er grinste, als er an Silvara mit ihrem schmutzigen Gesicht, ihrem verfilzten Haar, ihren zerfetzten Kleidern dachte. Meine Seele muß deutlicher sehen als mein Kopf, dachte er und blickte zärtlich zu ihrem Lager hinüber.

Zu seinem Erstaunen war es leer! Erschrocken sah sich Gilthanas um. Sie hatten nicht gewagt, ein Feuer zu machen nicht nur die Qualinesti waren hinter ihnen her, sondern Theros hatte auch von Drakoniern geredet, die durch das Land zogen.

Daran dachte er, als er sich flink erhob und nach Silvara zu suchen begann. Er bewegte sich leise und hoffte, Fragen von Sturm und Derek aus dem Weg zu gehen, die Wache hielten.

Ein plötzlicher eisiger Gedanke tauchte in ihm auf. Eilig sah er nach der Kugel der Drachen. Aber sie lag noch da, wo Silvara sie hingelegt hatte. Neben ihr lag der abgebrochene Schaft der Drachenlanze.

Gilthanas atmete ruhiger. Dann fingen seine guten Ohren das Geräusch von plätscherndem Wasser auf. Nach aufmerksamem Lauschen entschied er, daß es weder ein Fisch noch ein Nachtvogel sein konnte. Der Elfenlord sah zu Derek und Sturm hinüber. Die beiden standen sich auf einem Fels gegenüber, von dem aus man das Lager überblicken konnte. Gilthanas konnte sie streiten hören. Der Elfenlord schlich sich vom Lager weg und hielt auf das sanft plätschernde Wasser zu.

Gilthanas bewegte sich lautlos durch den dunklen Wald. Gelegentlich konnte er einen Blick auf den Fluß erhaschen, der schwach durch die Bäume glitzerte. Dann kam er zu einer Stelle, an der sich das Wasser zwischen Steinen wie in einem kleinen Becken sammelte. Hier hielt Gilthanas an, fast setzte sein Herz aus. Er hatte Silvara gefunden.

Ein dunkler Kreis von Bäumen erhob sich gegen die Wolken.

Die Stille der Nacht wurde nur durch das sanfte Murmeln des silbernen Flusses durchbrochen, der über die Steinstufen in das Becken fiel, und durch das Plätschern, das Gilthanas' Aufmerksamkeit erregt hatte. Jetzt wußte er, was es damit auf sich hatte.

Silvara badete. Die eiskalte Luft nicht beachtend, war das Elfenmädchen in das Wasser getaucht. Ihre Kleider lagen verstreut am Ufer neben einer verschlissenen Decke. Nur ihre Schultern und Arme waren sichtbar. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, als sie ihr langes Haar wusch, das wie dunkles Spinngewebe auf dem Wasser schwebte. Der Elfenlord hielt den Atem an, als er sie beobachtete. Er wußte, daß er gehen sollte, aber er stand wie angenagelt, wie verzaubert.

Und dann teilten sich die Wolken. Solinari, der silberne Mond, brannte, obwohl nur halbvoll, mit kalter Brillanz im Nachthimmel. Das Wasser im Becken verwandelte sich in geschmolzenes Silber. Silvara stieg aus dem Becken. Das silberne Wasser glitzerte auf ihrer Haut, in ihrem Haar, lief in glänzenden kleinen Wellen an ihrem Körper herab. Ihre Schönheit schlug auf Gilthanas' Herz mit solch intensivem Schmerz ein, daß er aufstöhnte.

Silvara zuckte zusammen und sah sich ängstlich um. Ihre wilde, hemmungslose Anmut war von solcher Lieblichkeit, daß Gilthanas kein Wort herausbrachte, obwohl er sich danach sehnte, ihr etwas zu sagen.

Silvara lief zu ihren Kleidern. Aber sie berührte sie nicht.

Statt dessen griff sie in einen Beutel. Mit einem Messer in der Hand drehte sie sich herum, bereit, sich zu verteidigen.

Gilthanas konnte ihren Körper im silbernen Mondschein zittern sehen, und auf bestimmte Weise erinnerte es ihn lebhaft an eine Damhirschkuh, die er einmal nach langer Jagd in die Enge getrieben hatte. In den Augen des Tieres hatte die gleiche Angst gefunkelt, die er jetzt in Silvaras leuchtenden Augen sah.

Die Wild-Elfe starrte verängstigt herum. Warum sieht sie mich nicht? fragte sich Gilthanas, da ihre Augen schon mehrere Male an ihm vorbeigegangen waren. Mit den Elfenaugen müßte sie mich deutlich erkennen...

Plötzlich drehte Silvara sich um, wollte der Gefahr entfliehen, die sie spüren, aber nicht sehen konnte.

Gilthanas war nun in der Lage zu sprechen. »Nein! Warte, Silvara! Hab keine Angst. Ich bin es, Gilthanas.« Er redete ruhig auf sie ein, so wie er es mit der Damhirschkuh getan hatte.

»Du solltest nicht allein hier sein – es ist gefährlich...«

Silvara hielt inne, stand halb im Mondschein, halb im schützenden Schatten, ihre Muskeln angespannt, sprungbereit.

Gilthanas folgte seinem Jägerinstinkt, ging langsam auf sie zu, sprach dabei weiter und hielt sie mit seiner festen Stimme und seinen Augen gebannt.

»Du solltest hier nicht allein sein. Ich bleibe bei dir. Ich möchte sowieso mit dir reden. Ich möchte, daß du mir einen Moment zuhörst. Ich muß mit dir reden, Silvara. Ich möchte hier auch nicht allein sein. Bitte verlaß mich nicht, Silvara. Soviel hat mich in dieser Welt verlassen. Bitte gehe nicht...«

Leise weiterredend näherte sich Gilthanas mit langsamen, vorsichtigen Schritten Silvara, bis er sah, daß sie einen Schritt zurücktrat. Er hob seine Hände und setzte sich auf einen Findling am Rande des Beckens, so daß das Wasser zwischen ihnen war. Silvara stand still und beobachtete ihn. Sie machte keine Anstalten, sich anzuziehen und hielt nur immer weiter das Messer hoch.

Gilthanas bewunderte ihre Entschlossenheit, obwohl ihn ihre Nacktheit irritierte. Jede wohlerzogene Elfenfrau wäre spätestens jetzt ohnmächtig geworden. Er wußte, daß er seine Augen abwenden sollte, aber er war wie gebannt von ihrer Schönheit.

Sein Blut wallte. Mit Mühe sprach er weiter, wußte dabei nicht, was er sagte. Nur allmählich wurde ihm bewußt, daß er die geheimsten Gedanken seines Herzens preisgab.

»Silvara, was mache ich hier? Mein Vater braucht mich, mein Volk braucht mich. Dennoch bin ich hier, breche das Gesetz. Mein Volk lebt im Exil. Ich finde das einzige, was ihnen helfen könnte – eine Kugel der Drachen -, aber jetzt riskiere ich mein Leben, um es meinem Volk wegzunehmen und es Menschen zu geben, um ihnen bei ihrem Krieg zu helfen! Es ist nicht einmal mein Krieg, es ist nicht der Krieg meines Volkes.« Gilthanas sah sie aufrichtig an, bemerkte, daß sie ihre Augen nicht von ihm abwandte. »Warum, Silvara? Warum habe ich diese Schande über mich gebracht? Warum habe ich das meinem Volk angetan?«

Er hielt den Atem an. Silvara sah in die Dunkelheit und die Sicherheit des Waldes, dann wieder zu ihm. Sie will fliehen, dachte er, sein Herz klopfte. Dann senkte Silvara langsam ihr Messer. In ihren Augen war so viel Traurigkeit und Leid, daß Gilthanas beschämt wegsehen mußte.

»Silvara«, begann er, »ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belasten. Ich verstehe nicht, was ich tue. Ich weiß nur...«

»...daß du es tun mußt«, beendete Silvara für ihn den Satz.

Gilthanas sah auf. Silvara hatte sich in die zerschlissene Decke gehüllt. Doch dies erhitzte nur noch mehr die Flammen seiner Begierde. Ihr silbernes Haar, das über ihre Hüften fiel, glänzte im Mondschein. Die Decke verbarg ihre silberne Haut.

Gilthanas erhob sich langsam und ging auf sie zu. Sie stand immer noch am Rand des Waldes. Er konnte ihre Furcht spüren. Aber sie hatte das Messer fallen gelassen.

»Silvara«, sagte er, »was ich getan habe, verstößt gegen alle Elfensitten. Als meine Schwester mir ihren Plan mitteilte, die Kugel zu stehlen, hätte ich direkt zu meinem Vater gehen müssen. Ich hätte Alarm schlagen müssen. Ich hätte die Kugel an mich nehmen müssen...«

Silvara trat einen Schritt näher auf ihn zu, die Decke immer noch festhaltend. »Warum hast du es nicht getan?« fragte sie leise.

Gilthanas hatte sich den Felsstufen am nördlichen Ende des Beckens genähert. »Weil ich weiß, daß mein Volk sich irrt. Laurana hat recht. Sturm hat recht. Es ist richtig, die Kugel den Menschen zu bringen! Wir müssen diesen Krieg bekämpfen. Mein Volk ist im Unrecht, ihre Gesetze, ihre Sitten sind Unrecht. Ich weiß es – in meinem Herzen! Aber ich kann es nicht in meinen Kopf kriegen. Es quält mich...«

Silvara ging langsam am Rand des Beckens entlang. Auch sie näherte sich ihm von der gegenüberliegenden Seite.

»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Mein eigenes... Volk versteht nicht, was ich tue oder warum ich es tue. Aber ich verstehe es. Ich weiß, was richtig ist, und ich glaube daran.«

»Ich beneide dich, Silvara«, flüsterte Gilthanas.

Gilthanas trat zu dem größten Stein, eine flache Insel im glitzernden, fallenden Wasser. Silvara, deren nasses Haar über ihren Körper fiel wie ein silbernes Gewand, stand jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt.

»Silvara«, sagte Gilthanas mit bebender Stimme. »Es gab noch einen anderen Grund, warum ich mein Volk verlassen habe. Du kennst ihn.«

Er streckte seine Hand nach ihr aus.

Silvara trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Ihr Atem ging rascher.

Gilthanas trat einen Schritt vor. »Silvara, ich liebe dich«, sagte er leise. »Du scheinst so einsam zu sein, so wie ich. Bitte, Silvara, du wirst nie mehr einsam sein. Ich schwöre dir...«

Zögernd streckte Silvara ihre Hand aus. Mit einer plötzlichen Bewegung ergriff Gilthanas ihren Arm und zog sie über das Wasser. Er fing sie auf, als sie wankte, und hob sie über den Stein zu sich.

Zu spät erkannte die wilde Damhirschkuh, daß sie in der Falle saß. Nicht wegen der Arme des Mannes – sie hätte sich mühelos aus seiner Umarmung befreien können. Es war ihre eigene Liebe zu diesem Mann, in die sie verstrickt war. Daß seine Liebe zu ihr tief und zärtlich war, besiegelte ihr Schicksal.

Auch er saß in der Falle.

Gilthanas spürte ihren Körper zittern, aber er wußte jetzt – als er in ihre Augen sah -, daß sie vor Leidenschaft zitterte, und nicht vor Angst. Er hielt ihr Gesicht in seinen Händen und küßte sie zart. Silvara hielt immer noch die Decke mit einer Hand um ihren Körper zusammen, aber ihr anderer Arm lag eng um Gilthanas. Ihre Lippen waren sanft und erwartungsvoll. Dann schmeckte Gilthanas eine salzige Träne auf seinen Lippen. Er wich zurück, erstaunt, sie weinen zu sehen.

»Silvara, nicht. Es tut mir leid...« Er ließ sie frei.

»Nein!« flüsterte sie, ihre Stimme war heiser. »Ich weine nicht, weil ich mich vor deiner Liebe ängstige. Es ist wegen mir. Du kannst es nicht verstehen.«

Sie legte schüchtern eine Hand um seinen Hals und zog ihn näher. Und dann, als er sie küßte, spürte er ihre andere Hand die Hand, die die Decke festgehalten hatte – sein Gesicht liebkosen.

Silvaras Decke war unbemerkt in den Strom geglitten und wurde vom silbernen Wasser davongetragen.

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