Die entsetzten Blicke seiner Gefährten ignorierend, ging Raistlin zu seinem Bruder, der dastand und seinen blutenden Arm festhielt.
»Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Raistlin zu Goldmond und legte seinen schwarzgekleideten Arm um seinen Zwillingsbruder.
»Nein«, keuchte Caramon, »du bist nicht stark ge...« Seine Stimme erstarb, als er den Arm seines Bruders spürte, der ihn stützte.
»Jetzt bin ich stark genug, Caramon«, sagte Raistlin sanft, seine Sanftheit ließ den Krieger erschauern. »Lehne dich an mich, mein Bruder.«
Von Schmerz und Angst geschwächt, lehnte sich Caramon zum ersten Mal in seinem Leben an Raistlin. Der Magier stützte ihn, als sie gemeinsam in den Grauenwald traten.
»Was ist passiert, Raist?« fragte Caramon würgend. »Warum trägst du die Schwarze Robe? Und deine Stimme...«
»Spare deinen Atem, mein Bruder«, empfahl Raistlin sanft.
Die beiden gerieten immer tiefer in den Wald, von den untoten Elfenkriegern drohend beobachtet. Sie konnten den Haß der Toten in den leeren Augenhöhlen aufflackern sehen. Aber keiner wagte, den Schwarzen Magier anzugreifen. Caramon fühlte sein Blut dick und warm zwischen seinen Fingern fließen. Als er beobachtete, wie es auf die toten, mit Schleim bedeckten Blätter neben seinen Füßen tröpfelte, wurde er schwächer und schwächer. Es schien ihm wie ein Fieberwahn, daß sein eigener schwarzer Schatten an Stärke gewann, während er immer schwächer wurde.
Tanis eilte durch den Wald auf der Suche nach Sturm.
Schließlich fand er ihn gegen eine Gruppe von Elfenkriegern kämpfend.
»Es ist ein Traum«, rief Tanis Sturm zu, der auf die untoten Kreaturen einschlug. Jedes Mal, wenn er einen traf, verschwand der Elf, um dann wieder zu erscheinen. Der Halb-Elf zog sein Schwert, um Sturm zu unterstützen.
»Pah!« brummte der Ritter, keuchte dann schmerzerfüllt auf, als ein Pfeil in seinen Arm drang. Die Wunde war nicht tief, da sein Kettenhemd den Aufprall abgemildert hatte, aber er blutete. »Das ist ein Traum?« fragte Sturm und zog den blutbefleckten Schaft heraus.
Tanis sprang vor den Ritter und wehrte die Feinde ab, während Sturm die Blutung stillte.
»Raistlin hat gesagt...«, begann Tanis.
»Raistlin! Hah! Sieh dir doch nur seine Robe an, Tanis!«
»Aber du bist hier! In Silvanesti!« protestierte Tanis plötzlich verwirrt. Er hatte das merkwürdige Gefühl, daß er mit sich selbst stritt. »Alhana sagte, du wärst auf dem Weg zur Eismauer! «
Der Ritter zuckte die Schultern. »Vielleicht wurde ich geschickt, um dir zu helfen.«
In Ordnung. Es ist ein Traum, redete sich Tanis ein. Ich werde aufwachen.
Aber es gab keine Veränderung. Die Elfen waren immer noch da und kämpften weiter. Sturm mußte recht haben. Raistlin hatte gelogen. Aber warum? Zu welchem Zweck?
Dann wußte es Tanis. Die Kugel der Drachen!
»Wir müssen den Turm vor Raistlin erreichen!« schrie Tanis Sturm zu. »Ich weiß jetzt, worauf der Magier aus ist!«
Der Ritter konnte nur noch nicken. Es schien Tanis, daß sie von dem Moment an nichts anderes taten, als um jeden Zentimeter Boden zu kämpfen. Immer wieder schlugen die beiden Krieger die untoten Elfen zurück, nur um von einer immer größer werdenden Anzahl angegriffen zu werden. Sie wußten zwar, daß die Zeit verstrich, aber sie hatten kein genaues Zeitgefühl. Einen Moment lang schien die Sonne durch den stickigen grünen Nebel. Dann schoben sich die nächtlichen Schatten über das Land wie die Flügel von Drachen.
Doch dann, als sich die Dunkelheit vertiefte, erblickten Sturm und Tanis den Turm. Aus Marmor gebaut, glitzerte der hohe Turm weiß. Er stand allein in einer Lichtung und reichte bis zum Himmel wie ein Knochenfinger, der aus einem Grab hervorkrallt.
Beim Anblick des Turms begannen beide Männer zu laufen.
Obgleich schwach und erschöpft, wollten sie doch beide nicht länger nach Anbruch der Nacht in diesem tödlichen Wald bleiben. Die Elfenkrieger, die ihre Beute entkommen sahen, stürzten wutkreischend hinter ihnen her.
Tanis lief, bis er glaubte, seine Lungen würden vor Schmerzen platzen. Sturm rannte vor ihm und schlug auf die Untoten ein, die vor ihm erschienen und versuchten, den Weg zu verstellen. Gerade als sich Tanis dem Turm näherte, wickelte sich eine Baumwurzel um seine Stiefel. Er stürzte sich überschlagend auf den Boden.
Panisch versuchte Tanis, sich zu befreien, aber die Wurzel hielt ihn fest. Tanis schlug hilflos um sich, als ein untoter Elf mit grotesk verzerrter Fratze den Speer gegen ihn erhob. Plötzlich glomm Entsetzen in den Augenhöhlen des Elfs auf, der Speer fiel aus seiner Knochenhand, als ein Schwert durch seinen durchsichtigen Körper drang. Der Untote löste sich mit einem Kreischen auf.
Tanis blickte hoch, um zu sehen, wer sein Leben gerettet hatte. Es war ein fremder Krieger, fremd und dennoch vertraut. Er hob seinen Helm, und Tanis starrte in hellbraune Augen!
»Kitiara!« keuchte er bestürzt. »Du hier? Wie? Warum?«
»Ich hörte, daß du Hilfe brauchst«, antwortete Kit mit ihrem Lächeln, bezaubernd wie immer. »Scheint, daß ich recht hatte.«
Sie streckte ihre Hand aus. Er ergriff sie zweifelnd und ließ sich hochziehen. Aber sie war aus Fleisch und Blut. »Wer ist denn da vorn? Sturm? Herrlich! Wie in alten Zeiten! Gehen wir in den Turm?« fragte sie Tanis und lachte über sein überraschtes Gesicht.
Flußwind kämpfte allein, kämpfte gegen Heerscharen von untoten Elfenkriegern. Er spürte, seine Kräfte ließen rasch nach.
Dann hörte er einen deutlichen Ruf. Er hob seine Augen und sah seine Que-Shu-Stammesleute! Er schrie erfreut auf. Aber zu seinem Entsetzen hielten sie ihre Bogen auf ihn gerichtet.
»Nein!« schrie er auf Que-Shu. »Erkennt ihr mich nicht? Ich...«
Die Que-Shu-Krieger antworteten nur mit ihren Pfeilen.
Flußwind fühlte ein Geschoß nach dem anderen in seinen Körper dringen.
»Du brachtest den blauen Kristallstab über uns!« schrien sie.
»Deine Schuld! Die Zerstörung deines Dorfes war deine Schuld!«
»Ich wollte es nicht«, flüsterte er, als er zu Boden sank. »Ich wußte es nicht. Vergebt mir.«
Tika hackte und schlug sich ihren Weg durch die Elfenkrieger, die sich plötzlich in Drakonier verwandelten! Ihre Reptilienaugen glühten rot, ihre Zungen leckten über ihre Schwerter.
Furcht lähmte das Mädchen. Stolpernd stieß sie mit Sturm zusammen. Der Ritter wirbelte ärgerlich herum, befahl ihr, aus dem Weg zu gehen. Sie taumelte zurück und fiel gegen Flint.
Der Zwerg schob sie ungeduldig zur Seite.
Von Tränen blind, beim Anblick der Drakonier vor Panik gelähmt, die mit ihren toten Körpern in die Schlacht zurücksprangen, verlor Tika jegliche Kontrolle über sich. In ihrer Angst stach sie wild auf alles ein, was sich bewegte.
Erst als sie sich umschaute und Raistlin in seiner schwarzen Robe vor sich stehen sah, kam sie wieder zu sich. Der Magier sagte nichts, er zeigte nur nach unten. Flint lag tot zu ihren Füßen, durchbohrt von ihrem Schwert.
Ich habe sie hierhergeführt, dachte Flint. Ich bin dafür verantwortlich. Ich bin der Älteste. Ich hole sie hier heraus.
Der Zwerg holte seine Streitaxt hervor und schrie den Elfenkriegern einen Schlachtruf zu. Aber sie lachten nur.
Wütend schritt Flint vorwärts – aber er spürte, daß er steif ging. Seine Kniegelenke waren angeschwollen und schmerzten unerträglich. Seine schwieligen Finger bebten in einer Schüttellähmung, so daß er seinen Griff an der Streitaxt lockern mußte.
Sein Atem kam schwach. Und dann wußte Flint, warum die Elfen nicht angriffen: Sein hohes Alter würde ihn selbst zerstören.
Als ihm das klarwurde, spürte Flint sein Bewußtsein wandern. Seine Sicht verblaßte. Er griff in eine Tasche in seinem Gewand, fragte sich, wo er die verdammte Brille hingepackt hatte. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf, eine vertraute Gestalt.
War es Tika? Ohne seine Brille konnte er nichts sehen...
Goldmond lief unter den entstellten Bäumen umher. Verloren und allein suchte sie verzweifelt ihre Freunde. Weit entfernt hörte sie Flußwind zwischen den klirrendem Aufprall von Schwertern nach ihr rufen. Dann verwandelte sich sein Rufen in einen Todesschrei. Angstgepeinigt stürzte sie weiter, kämpfte sich durch die Dornenbüsche, bis ihre Hände und ihr Gesicht bluteten. Schließlich fand sie Flußwind. Der Krieger lag auf dem Boden, von vielen Pfeilen durchbohrt – Pfeile, die sie wiedererkannte!
Sie kniete neben ihm nieder. »Heile ihn, Mishakal«, betete sie, so wie sie schon oft gebetet hatte.
Aber nichts passierte. Die Farbe kehrte in Flußwinds aschgrauem Gesicht nicht wieder zurück. Seine Augen blieben geschlossen.
»Warum antwortest du nicht? Heile ihn!« schrie Goldmond zu der Göttin. Und dann wußte sie den Grund. »Nein!« kreischte sie. »Bestrafe mich! Ich bin diejenige, die Zweifel hatte. Ich bin diejenige, die Bedenken hatte! Ich erlebte die Zerstörung von Tarsis, ich sah Kinder im Todeskampf sterben! Wie konntet ihr das zulassen? Ich versuche, zu glauben, aber ich kann nicht helfen, wenn ich bei diesem Entsetzen Zweifel habe! Bestraft nicht ihn.« Weinend beugte sie sich über den leblosen Körper ihres Gatten. Sie sah nicht, daß die Elfenkrieger in engem Kreis näher rückten.
Tolpan, fasziniert von den entsetzlichen Wundern um ihn herum, kam vom Weg ab und entdeckte, daß seine Freunde es irgendwie – geschafft hatten, ihn zu verlieren. Die Untoten störten ihn nicht. Ihre Nahrung war die Angst der anderen, und von ihm spürten sie keine Angst ausgehen.
Als er fast einen ganzen Tag lang umhergestreift war, erreichte der Kender schließlich die Tore des Sternenturms. Hier kam seine leichtherzige Reise zu einem plötzlichen Ende, denn er hatte seine Freunde gefunden – zumindest einen.
Mit dem Rücken gegen die geschlossenen Türen stehend, kämpfte Tika gegen eine Schar mißgebildeter, alptraumartiger Feinde um ihr Leben. Tolpan erkannte, daß sie in Sicherheit sein würde, falls es ihr gelang, in den Turm zu kommen. Er stürzte vor, sein kleiner Körper flitzte mühelos durch das Durcheinander, und erreichte die Tür. Er untersuchte das Schloß, während Tika die Elfen, ihr Schwert wild schwingend, zurückhielt.
»Beeil dich, Tolpan!« schrie sie atemlos.
Das Schloß schien einfach zu öffnen; so ein simpler Verschluß als Schutz! Tolpan war erstaunt über die Schlampigkeit der Elfen.
»Ich müßte dieses Schloß in Sekunden geöffnet haben«, verkündete er. Gerade als er jedoch zur Arbeit ansetzte, fiel etwas von hinten auf ihn, so daß er sich verhedderte.
»He!« schrie er wütend und drehte sich zu Tika um. »Sei ein wenig vorsichtiger...« Er hielt entsetzt inne. Tika lag vor seinen Füßen, Blut floß aus ihren roten Locken.
»Nein, nicht Tika!« flüsterte Tolpan. Vielleicht war sie nur verwundet! Wenn er sie in den Turm schaffen würde, könnte ihr jemand vielleicht helfen. Vor Tränen konnte er nichts sehen, seine Hände zitterten.
Ich muß mich beeilen, dachte Tolpan voller Panik. Warum öffnet sich die Tür nicht? Es ist doch so einfach! Wütend zerrte er am Schloß.
Tolpan spürte einen kleinen Stich in seinem Finger, als das Schloß klickte. Die Tür zum Turm öffnete sich. Aber Tolpan starrte auf seinen Finger, an dem ein kleiner Blutfleck glitzerte.
Er sah auf das Schloß, in dem eine kleine, goldene Nadel glänzte. Ein einfaches Schloß, eine einfache Falle. Er hatte beides bewältigt. Und als die erste Wirkung des Gifts mit einer entsetzlichen Wärme in seinem Körper aufflackerte, sah er nach unten, um zu erkennen, daß es auch dafür zu spät war. Tika war tot.
Raistlin und sein Bruder gingen, ohne gehindert zu werden, durch den Wald. Caramon beobachtete mit wachsendem Erstaunen, wie Raistlin die bösartigen Kreaturen zurückhielt, die sie angreifen wollten; manchmal mit unglaublichen Meisterleistungen der Magie, manchmal durch die reine Kraft seines Willens.
Raistlin war freundlich und sanft und besorgt. Als der Tag zu Ende ging, war Caramon häufig gezwungen anzuhalten. Er konnte nur noch langsam einen Fuß vor den anderen setzen, immer an seinen Bruder gelehnt. Und während Caramon immer schwächer wurde, wuchs Raistlins Kraft.
Als die nächtlichen Schatten fielen und dem quälenden grünen Tag ein gnädiges Ende bereiteten, erreichten die Zwillinge endlich den Turm und blieben stehen. Caramon hatte Fieber und starke Schmerzen.
»Ich muß mich ausruhen, Raist«, keuchte er. »Leg mich hin.«
»Gewiß, mein Bruder«, sagte Raistlin sanft. Er half Caramon, sich gegen die Perlenmauer des Turms zu lehnen, dann musterte er seinen Bruder mit kühlen, glitzernden Augen.
»Leb wohl, Caramon«, sagte er.
Caramon blickte ungläubig zu seinem Zwillingsbruder. In den Schatten der Bäume konnte der Krieger die untoten Elfen erkennen, die ihnen in respektvoller Entfernung gefolgt waren und sich nun näher heranschlichen, da sie bemerkten, daß der Magier, der sie abgedrängt hatte, verschwinden wollte.
»Raist«, sagte Caramon langsam, »du kannst mich hier nicht liegenlassen! Ich kann nicht gegen sie kämpfen. Ich habe nicht die Kraft! Ich brauche dich!«
»Vielleicht, aber ich, verstehst du, mein Bruder, ich brauche dich nicht mehr. Ich habe deine Kraft gewonnen. Jetzt bin ich endlich das, was ich immer sein sollte, und durch einen grausamen Trick der Natur nicht war, nämlich eine ganze Person.«
Während Caramon ihn verständnislos anstarrte, wandte sich Raistlin zum Gehen.
»Raist!«
Caramons schmerzerfüllter Schrei hielt ihn zurück. Raistlin blickte auf seinen Zwillingsbruder, nur seine goldenen Augen waren unter seiner schwarzen Kapuze sichtbar.
»Wie ist es, wenn man schwach und ängstlich ist, mein Bruder?« fragte er sanft. Dann drehte sich Raistlin um und betrat den Eingang, in dem Tika und Tolpan tot lagen. Raistlin stieg über den Leichnam des Kenders und verschwand in der Dunkelheit.
Sturm, Tanis und Kitiara erreichten den Turm und fanden einen Körper davor auf dem Gras liegend. Untote Elfen waren dabei, ihn kreischend und gellend zu umzingeln.
»Caramon!« schrie Tanis verzweifelt.
»Und wo ist sein Bruder?« fragte Sturm mit einem Seitenblick auf Kitiara. »Ließ ihn sterbend zurück, ohne Zweifel.«
Tanis schüttelte den Kopf, als sie dem Krieger zur Hilfe eilten. Sturm und Kitiara hielten die Elfen mit ihren Schwertern zurück, während Tanis neben dem Krieger niederkniete.
Caramon öffnete die Augen, und sein glasiger Blick traf Tanis, erkannte ihn kaum durch den blutigen Schleier. Er versuchte verzweifelt, zu sprechen.
»Beschütz Raistlin, Tanis...« Caramon würgte an seinem Blut. »Denn ich bin jetzt nicht mehr da. Paß auf ihn auf.«
»Auf Raistlin aufpassen?« wiederholte Tanis wütend. »Er hat dich hier sterbend zurückgelassen!« Tanis hielt Caramon in seinen Armen.
Caramon schloß erschöpft seine Augen »Nein, du irrst dich, Tanis. Ich habe ihn weggeschickt...« Der Kopf des Kriegers sackte nach vorn.
Die Schatten der Nacht schlossen sich um sie. Die Elfen waren verschwunden. Sturm und Kit traten neben den toten Krieger.
»Was hat er dir erzählt?« fragte Sturm barsch.
»Armer Caramon«, flüsterte Kitiara und beugte sich über ihn.
»Irgendwie habe ich immer vermutet, daß es so enden würde.«
Einen Moment schwieg sie, dann sprach sie weiter. »So ist mein kleiner Raistlin also wahrhaftig mächtig geworden«, sinnierte sie eher zu sich.
»Auf Kosten von Caramon!«
Kitiara sah zu Tanis hoch, als ob seine Sicht der Dinge sie erstaunte. Dann zuckte sie die Schultern und blickte noch einmal auf Caramon, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag.
»Armes Kind«, sagte sie leise.
Sturm bedeckte Caramons Körper mit seinem Umhang, dann suchten sie den Eingang zum Turm.
»Tanis...«, sagte Sturm und wies in eine bestimmte Richtung.
»O nein. Nicht Tolpan«, murmelte Tanis. »Und Tika.«
Der Leichnam des Kenders lag direkt im Eingang, seine kleinen Glieder im Todeskampf verrenkt. Neben ihm lag das Schankmächen, die roten Locken mit Blut verklebt. Tanis kniete nieder. Einer der Beutel des Kenders hatte sich während seines Todeskampfes geöffnet, sein Inhalt lag verstreut herum.
Tanis erblickte etwas Goldenes. Er griff danach und hob einen Elfenring auf, zu Efeublättern geformt. Tränen schossen ihm in die Augen, er sah nichts mehr und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
»Wir können hier nichts mehr machen, Tanis.« Sturm legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes. »Wir müssen weitergehen und dem ein Ende bereiten. Und wenn es meine letzte Tat sein soll, aber ich werde Raistlin töten.«
Der Tod ist nur im Bewußtsein. Es ist ein Traum, sagte sich Tanis. Aber es waren Raistlins Worte, die er wiederholte, und er hatte gesehen, was aus dem Magier geworden war.
Ich werde aufwachen, dachte er, und meinen ganzen Willen aufbringen, zu glauben, daß das ein Traum ist. Aber als er seine Augen öffnete, lag der Leichnam des Kenders immer noch vor ihm auf dem Boden.
Den Ring fest in seiner Hand, folgte Tanis Kit und Sturm in einen feuchten, verschlammten Marmorkorridor. Gemälde hingen in goldenen Rahmen an den Marmorwänden. Hohe Glasfenster ließen ein scheußliches, gespenstisches Licht hinein.
Der Korridor mußte wohl einst wunderschön gewesen sein, aber jetzt erschienen selbst die Gemälde an den Wänden verzerrt, zeigten Schreckensvisionen des Todes. Als die drei weitergingen, nahmen sie allmählich ein leuchtend grünes Licht gewahr, das von einem Zimmer am Ende des Korridors ausging.
Sie konnten das Böse dieses grünen Lichtes spüren, das auf ihre Gesichter wie die Wärme einer verderbten Sonne einschlug.
»Das Zentrum des Bösen«, sagte Tanis. Wut erfüllte sein Herz – Wut, Trauer und der brennende Wunsch nach Rache. Er wollte nach vorn rennen, aber die grün gefärbte Luft schien ihn nach unten zu drücken, hielt ihn zurück, bis jeder Schritt eine Anstrengung darstellte.
Neben ihm taumelte Kitiara. Tanis legte seinen Arm um sie, obwohl er selbst kaum Kraft hatte, sich weiterzubewegen. Kits Gesicht war schweißnaß, ihr dunkles Haar kräuselte sich um ihre feuchte Stirn. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen – das erste Mal, daß Tanis sie ängstlich sah. Sturms Atem kam keuchend, als der Ritter sich vorwärtskämpfte, seine Rüstung drückte ihn nieder.
Zunächst schienen sie überhaupt nicht voranzukommen. Dann bemerkten sie, daß sie sich langsam, langsam fortbewegten, dem grünbeleuchteten Zimmer immer näher kamen. Das helle Licht schmerzte in den Augen, und jede Bewegung erforderte eine entsetzliche Anstrengung. Erschöpfung setzte ein, die Muskeln schmerzten, die Lungen brannten.
Gerade als Tanis meinte, keinen weiteren Schritt mehr tun zu können, hörte er eine Stimme seinen Namen rufen. Er hob seinen schmerzenden Kopf und sah Laurana, ihr Elfenschwert in der Hand. Die Schwere schien auf sie keine Wirkung zu haben, denn sie rannte mit einem erfreuten Aufschrei auf ihn zu.
»Tanthalas! Bist du in Ordnung? Ich habe gewartet...«
Sie brach ab, ihre Augen gingen zu der Frau, die sich an Tanis' Arm klammerte.
»Wer...«, wollte Laurana fragen, aber dann wußte sie plötzlich Bescheid. Das war die Menschen-Frau, das war Kitiara.
Die Frau, die Tanis liebte. Lauranas Gesicht erblaßte, dann rötete es sich.
»Laurana...«, begann Tanis, der völlig verwirrt war. Schuldgefühle überfielen ihn, er haßte sich dafür, ihr Schmerzen zu bereiten.
»Tanis! Sturm!« schrie Kitiara.
Erschreckt durch die Angst in ihrer Stimme wirbelten alle herum und starrten in den grünerleuchteten Marmorkorridor.
»Drakus Tsaro, deghnyah!« sagte Sturm auf solamnisch.
Am Ende des Korridors lauerte ein gigantischer grüner Drache. Er wurde Cyan Blutgeißel genannt, und er war einer der größten Drachen auf Krynn. Nur der große Rote war noch größer als er. Cyan schlängelte seinen Kopf durch einen Türeingang und löschte dabei das blendendgrüne Licht mit seinem riesigen Körper aus. Der Drache roch Eisen und Menschenfleisch und Elfenblut. Er starrte mit seinen feurigen Augen auf die Gruppe.
Sie konnten sich nicht bewegen. Überwältigt von Drachenangst, konnten sie nur dastehen und starren, während der Drache die Marmorwand um die Tür mit einer Leichtigkeit niederriß, als wäre sie aus getrocknetem Schlamm. Mit weit geöffnetem Rachen bewegte sich Cyan durch den Korridor.
Sie konnten nichts unternehmen. Ihre Waffen baumelten an ihren Händen. Ihre Gedanken weilten beim Tod. Aber noch während sich der Drache näherte, schob sich eine dunkle Gestalt aus den tieferen Schatten einer anderen Tür und blieb vor ihnen stehen.
»Raistlin!« sagte Sturm ruhig. »Bei allen Göttern, du wirst für den Tod deines Bruders bezahlen!«
Den Drachen vergessend, sich nur noch an Caramons leblosen Körper erinnernd, sprang der Ritter mit gezogenem Schwert auf den Magier zu. Raistlin starrte ihm nur kühl entgegen.
»Töte mich, Ritter, und du verurteilst dich und die anderen zum Tod, denn durch meine Magie – und nur durch meine Magie – wirst du in der Lage sein, Cyan Blutgeißel zu besiegen!«
»Halte ein, Sturm!« Obwohl seine Seele mit Widerwillen erfüllt war, wußte Tanis, daß der Magier recht hatte. Er konnte Raistlins Macht durch die schwarze Robe ausstrahlen spüren.
»Wir brauchen seine Hilfe.«
»Nein«, sagte Sturm, schüttelte den Kopf und wich zurück, als sich Raistlin der Gruppe näherte. »Ich sagte es schon – ich verlasse mich nicht auf seinen Schutz. Nicht jetzt. Leb wohl, Tanis.«
Bevor jemand den Ritter aufhalten konnte, ging Sturm an Raistlin vorbei und auf Cyan Blutgeißel zu. Der Drache warf seinen Kopf vor und zurück, in eifriger Vorfreude auf die erste Herausforderung seiner Macht, seitdem er Silvanesti erobert hatte.
Tanis umklammerte Raistlin. »Tu etwas!«
»Der Ritter steht im Weg. Welchen Zauber ich auch immer werfen werde, so wird auch er vernichtet werden«, antwortete Raistlin.
»Sturm!« rief Tanis, seine Stimme hallte voller Trauer wider.
Der Ritter zögerte. Er lauschte, aber nicht auf Tanis' Stimme.
Was er hörte, war der klare Trompetenruf, seine Melodie war so kalt wie die Luft in den schneebedeckten Bergen seiner Heimat. Rein und klar erhob sich der Trompetenruf mutig über die Dunkelheit und den Tod und die Verzweiflung, die sein Herz zerrissen.
Sturm beantwortete den Ruf mit einem freudigen Schlachtruf.
Er hob sein Schwert, das Schwert seines Vaters. Silbriges Mondlicht strömte durch ein zerbrochenes Fenster und erfaßte das Schwert, das sich gegen die verderbte grüne Luft abhob.
Wieder erscholl die Trompete, und wieder antwortete Sturm, aber dieses Mal versagte seine Stimme, denn dieses Mal war es ein anderer Klang. Nicht länger süß und rein, sondern grob und schrill.
Nein! dachte Sturm entsetzt, als er sich dem Drachen näherte.
Das waren die Hörner des Feinds! Er war in eine Falle gegangen! Um sich herum konnte er jetzt Drakoniersoldaten sehen, die hinter dem Drachen hervorgekrochen waren und grausam über seine Leichtgläubigkeit lachten.
Sturm hielt inne, faßte sein Schwert fester mit schweißnasser Hand. Der Drache lauerte, eine unbesiegbare Kreatur, umgeben von Massen von Soldatenkreaturen, die ihre gebogenen Zungen an ihren Klingen wetzten.
Furcht verknotete Sturms Magen; seine Haut wurde kalt und feucht. Das Hornsignal erscholl ein drittes Mal, grausam und böse. Es war vorbei. Es war umsonst gewesen. Verzweiflung senkte sich über ihn, er sah sich voller Angst um. Wo war Tanis?
Er brauchte Tanis, konnte ihn aber nicht finden. Verzweifelt wiederholte er den Kodex der Ritter: Die Ehre ist mein Leben, aber die Worte klangen in seinen Ohren hohl und sinnlos. Er war kein Ritter. Was bedeutete ihm der Kodex? Er hatte in Lüge gelebt! Sturms Schwertarm sank, fiel herab; sein Schwert fiel aus seiner Hand, und er sank auf die Knie, zitternd und weinend wie ein Kind, den Kopf verbergend vor dem Entsetzen.
Mit einem Schlag seiner glänzenden Klaue beendete Cyan Blutgeißel Sturms Leben, spießte den Körper des Ritters an seinen Krallen auf, warf den erbärmlichen Menschen verächtlich auf den Boden, während die Drakonier auf den noch warmen Körper des Ritters losstürzten, um ihn in Stücke zu reißen.
Aber sie fanden ihren Weg blockiert. Eine strahlende Gestalt, die im Mondschein silbern glänzte, lief auf Sturms Körper zu.
Schnell nach unten greifend hob Laurana Sturms Schwert auf.
Dann, wieder aufrecht stehend, sah sie den Drakoniern in die Fratzen. »Berührt ihn, und ihr werdet sterben«, sagte sie unter Tränen.
»Laurana!« schrie Tanis und eilte ihr zur Hilfe. Aber Drakonier sprangen ihn an. Er schlug verzweifelt auf sie ein, versuchte das Elfenmädchen zu erreichen. Gerade als er sich durchgekämpft hatte, hört er Kitiara seinen Namen rufen. Er wirbelte herum und sah sie von vier Drakoniern umzingelt. Der Halb-Elf hielt verzweifelt inne, zögernd, und in diesem Moment fiel Laurana über Sturms Körper, ihr Körper von Drakonierschwertern durchbohrt.
»Nein! Laurana!« gellte Tanis. Er wollte zu ihr laufen, hörte dann aber wieder Kitiara schreien. Wieder hielt er inne und wandte sich um. Er faßte sich an den Kopf, stand unentschlossen und hilflos da, gezwungen mit anzusehen, wie Kitiara niedergeschlagen wurde.
Der Halb-Elf schluchzte auf, spürte Wahnsinn in sich aufsteigen, sehnte sich nach dem Tod, nach dem Ende dieser Qual.
Er umklammerte das magische Schwert von Kith-Kanan und stürzte auf den Drachen zu, sein einziger Gedanke war, zu töten und getötet zu werden.
Aber Raistlin versperrte ihm den Weg, stand vor dem Drachen wie ein schwarzer Obelisk.
Tanis stürzte auf den Boden, wußte, sein Schicksal war besiegelt. Er hielt den kleinen goldenen Ring fest in seiner Hand und wartete auf das Ende.
Dann hörte er den Magier seltsame und mächtige Worte singen. Er hörte den Drachen vor Wut aufheulen. Die zwei kämpften miteinander, aber es war Tanis einerlei. Mit fest geschlossenen Augen löschte er die Geräusche um sich aus, löschte er sein Leben aus. Nur eine Sache blieb real – der goldene Ring in seiner Hand.
Plötzlich wurde sich Tanis heftig des Ringes bewußt, den er in seiner Handfläche hielt: Das Metall war kühl, seine Ränder rauh. Er spürte die goldenen, miteinander verbundenen Efeublätter in sein Fleisch dringen.
Tanis schloß die Hand und drückte den Ring. Das Gold stach in sein Fleisch, stach tief. Schmerz... wirklicher Schmerz...
Ich träume!
Tanis öffnete die Augen. Solinaris silbriges Licht überflutete den Turm, vermischte sich mit Lunitaris roten Strahlen. Er lag auf dem kalten Marmorboden. Seine Hand hielt etwas fest umklammert, so fest, daß der Schmerz ihn geweckt hatte! Der Ring. Der Traum! Sich an den Traum erinnernd, setzte sich Tanis entsetzt auf und sah sich um. Aber der Korridor war leer.
Nur Raistlin lehnte hustend an einer Wand.
Der Halb-Elf erhob sich und taumelte auf Raistlin zu. Als er näher kam, konnte er Blut auf den Lippen des Magiers erkennen. Das Blut leuchtete rot in Lunitaris Licht – so rot wie die Robe, die Raistlins zerbrechlichen bebenden Körper bedeckte.
Der Traum.
Tanis öffnete seine Hand. Sie war leer.