15 Die Stimme der Sonnen. Lauranas Entscheidung

Die Stimme der Sonnen, Führer der Qualinesti-Elfen, saß in einer einfachen Schutzhütte aus Holz und Schlamm, die die Kaganesti-Elfen für ihn gebaut hatten. Er betrachtete sie als einfach – für die Kaganesti dagegen war es ein wunderbar großes und gutgebautes Haus, ausreichend für fünf bis sechs Familien. Sie hatten es in der Tat für so viele Familien gebaut und waren schockiert, als die Stimme erklärte, es würde gerade für seine Bedürfnisse reichen, und nur mit seiner Frau einzog. Was die Kaganesti natürlich nicht wußten, war, daß das Haus der Stimme im Exil das Hauptquartier für alle Angelegenheiten der Qualinesti wurde. Die zeremoniellen Wachen nahmen die gleichen Positionen ein wie in den Hallen des Palastes von Qualinost. Die Stimme hielt seine Audienzen zur gleichen Zeit und in der gleichen höflichen Weise ab, nur war die Decke eine mit Schlamm bedeckte Kuppel aus Dachgras und nicht aus glitzernden Mosaiken, seine Wände aus Holz und nicht aus Kristallquarz.

Die Stimme hielt jeden Tag Audienzen ab, die Tochter seiner Schwägerin saß als Schreiberin an seiner Seite. Er trug die gleichen Roben, führte seine Staatsgeschäfte mit dem gleichen selbstbewußten Auftreten. Und dennoch gab es Unterschiede.

Die Stimme hatte sich in den wenigen Monaten auf drastische Weise verändert. Jedoch keiner der Qualinesti wunderte sich darüber. Die Stimme hatte seinen jüngsten Sohn auf eine Mission geschickt, die die meisten als Selbstmord betrachteten.

Noch schlimmer war, daß seine geliebte Tochter zu ihrem Halb-Elfen-Liebhaber weggelaufen war. Die Stimme ging davon aus, beide Kinder nicht mehr wiederzusehen.

Den Verlust seines Sohnes Gilthanas hätte er akzeptieren können. Denn trotz allem war es eine heldenhafte, erhabene Tat. Der junge Mann hatte eine Gruppe Abenteurer in die Minen von Pax Tarkas geführt, um die dort gefangengehaltenen Menschen zu befreien und dadurch die Drachenarmeen, die nach Qualinesti marschierten, abzulenken. Dieser Plan hatte sich als erfolgreich herausgestellt – ein unerwarteter Erfolg.

Die Drachenarmeen waren nach Pax Tarkas zurückgerufen worden, so daß die Elfen Zeit hatten, zur Westküste ihres Landes zu fliehen, um von dort aus über das Meer zum südlichen Ergod zu gelangen.

Die Stimme konnte jedoch nicht den Verlust seiner Tochter akzeptieren – beziehungsweise die Schande.

Es war der älteste Sohn der Stimme, Porthios, gewesen, der ihm die Angelegenheit kühl dargelegt hatte, nachdem Lauranas Verschwinden bekanntgeworden war. Sie war ihrem Jugendfreund – Tanis, dem Halb-Elfen – hinterhergerannt. Die Stimme war verzweifelt, von Kummer verzehrt. Wie konnte sie das nur tun? Wie konnte sie Schande über ihre Familie bringen? Eine Prinzessin, die einem Bastard nachjagt!

Lauranas Flucht verdunkelte für ihren Vater das Sonnenlicht. Glücklicherweise gab ihm die Notwendigkeit, sein Volk zu führen, die Kraft, weiterzumachen. Aber es gab Zeiten, in denen die Stimme am Sinn des Ganzen zweifelte. Er hätte sein Amt niederlegen und seinem ältesten Sohn den Thron übergeben können. Porthios erledigte jetzt schon fast alles und traf die meisten Entscheidungen. Der junge Elfenlord erwies sich als hervorragender Führer, obwohl einige fanden, daß er bei Verhandlungen mit den Silvanesti und den Kaganesti zu grob verfuhr.

Die Stimme war auch dieser Ansicht, und das war der Hauptgrund, warum der Porthios nicht sein Amt überließ. Gelegentlich versuchte er seinem ältesten Sohn klarzumachen, daß mit Mäßigung und Geduld mehr zu erreichen war als mit Drohungen und Schwertergerassel. Aber Porthios glaubte, daß sein Vater zu weich und sentimental war. Die Silvanesti betrachteten aufgrund ihrer strengen Kastenstruktur die Qualinesti kaum als Angehörige der Elfenrasse und die Kaganesti überhaupt nicht der Elfenrasse zugehörig; diese sahen sie als eine Unterrasse der Elfen, ähnlich wie die Gossenzwerge von den anderen Zwergen als eine Unterrasse angesehen wurden. Porthios war fest davon überzeugt, obwohl er das seinem Vater nicht mitteilte, daß dieser Konflikt mit Blutvergießen enden mußte.

Seine Ansichten entsprachen auf der anderen Seite des Thon-Tsalarian denen eines halsstarrigen, kaltblütigen Lords namens Quinath, der, so munkelte man, der Verlobte von Prinzessin Alhana Sternenwind war. Lord Quinath war während ihrer Abwesenheit der Führer der Silvanesti, und er und Porthios waren es gewesen, die die Insel zwischen den beiden kriegerischen Völkern aufgeteilt und dabei die dritte Rasse übergangen hatten.

Die Grenzbereiche wurden den Kaganesti zugewiesen, so wie man einem Hund befiehlt, nicht die Küche zu betreten. Die Kaganesti, bekannt für ihr launenhaftes Temperament, waren empört, ihr Land aufgeteilt vorzufinden. Das Jagen wurde bereits schwierig. Die Tiere, von denen das Überleben der Wild-Elfen abhing, waren fast ausgerottet worden, um die Flüchtlinge zu ernähren. Wie Laurana gesagt hatte, der Fluß der Toten konnte sich jeden Moment blutrot färben und seinen Namen auf tragische Weise ändern.

Und so fand sich die Stimme in einem Armeelager wieder.

Aber als er über diese Tatsache trauern wollte, ging sie in einer Vielzahl anderer trauriger Begebenheiten unter, so daß er schließlich abstumpfte. Nichts berührte ihn noch. Er zog sich in sein Schlammhaus zurück und überließ Porthios immer mehr Aufgaben.

Die Stimme war an dem Morgen, als die Gefährten in dem nun als Qualin-Mori bezeichneten Ort ankamen, früh aufgestanden. Er stand immer früh auf. Es lag nicht daran, daß er soviel zu tun hatte, sondern weil er bereits die meiste Zeit der Nacht die Decke angestarrt hatte. Er kritzelte gerade Notizen für das tägliche Treffen mit den Haushaltsvorständen – eine unbefriedigende Aufgabe, da die Haushaltsvorstände sich nur beklagten -, als er von draußen Tumult vernahm.

Ihn verließ der Mut. Was ist nun wieder? fragte er sich ängstlich. Ein- bis zweimal täglich wurde Alarm geschlagen. Porthios hatte wahrscheinlich irgendeinen hitzköpfigen jugendlichen Qualinesti oder Silvanesti festgenommen. Er schrieb weiter, hoffte, daß der Tumult verebben würde. Aber statt dessen nahm er zu, kam immer näher. Die Stimme vermutete nun, daß etwas Ernsthafteres passiert sein mußte. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er tun würde, wenn die Elfen wieder in den Krieg zögen.

Er ließ seinen Federkiel fallen, zog sich seine Amtsrobe über und wartete voller Furcht. Draußen hörte er die Wachen Haltung annehmen. Er hörte Porthios' Stimme die traditionellen Formeln um Einlaß sprechen. Die Stimme warf einen besorgten Blick zur Tür, die in seine Privatgemächer führte, befürchtete, daß seine Frau gestört werden könnte. Seit dem Aufbruch von Qualinesti kränkelte sie dauernd. Zitternd erhob er sich, nahm dann den ernsten und kalten Blick an, den er aufsetzte, sobald er seine Amtsrobe trug, und bat, hereinzukommen.

Eine der Wachen öffnete die Tür und wollte offenbar jemanden ankündigen. Aber bevor er sprechen konnte, hatte sich eine große schlanke Gestalt in einem schweren, mit einer Kapuze versehenen Fellumhang vorbeigeschoben und rannte auf die Stimme zu. Erschreckt sah er nur, daß die Gestalt mit Schwert und Bogen bewaffnet war, und wich beunruhigt zurück.

Die Gestalt warf ihre Kapuze zurück. Die Stimme sah honigfarbenes Haar um ein Frauengesicht fallen – ein selbst für Elfen bemerkenswert schönes Gesicht.

»Vater!« schrie Laurana, dann sank sie in seine Arme.

Die Rückkehr von Gilthanas, um den sein Volk wie um einen Toten getrauert hatte, war Anlaß der größten Feier, die von den Qualinesti seit der Nacht, bevor die Gefährten nach Sla-Mori aufgebrochen waren, abgehalten wurde.

Gilthanas hatte sich von seinen Verletzungen ausreichend erholt, um an den Festlichkeiten teilnehmen zu können, nur eine kleine Narbe an der Wange war zurückgeblieben. Laurana und ihre Freunde wunderten sich darüber, denn sie hatten den von Silvanesti-Elfen ausgeführten schrecklichen Schlag gesehen.

Aber als Laurana ihrem Vater davon erzählte, zuckte die Stimme nur mit den Schultern und meinte, daß die Kaganesti befreundete Druiden in den Wäldern hätten; wahrscheinlich hätten sie von ihnen viel über die Heilkünste gelernt. Dies enttäuschte Laurana, denn sie wußte von der Seltenheit der wahren Heilkräfte auf Krynn. Sie hätte sich gern mit Elistan darüber unterhalten, aber der Kleriker führte mit ihrem Vater stundenlang geheime Besprechungen. Die Stimme war bald sehr beeindruckt von den wahren klerischen Fähigkeiten dieses Mannes.

Laurana war erfreut, daß ihr Vater Elistan akzeptierte. Sie erinnerte sich daran, wie die Stimme Goldmond behandelt hatte, als sie nach Qualinesti kam und das Medaillon von Mishakal, Göttin der Heilkunst, getragen hatte. Aber Laurana vermißte ihren weisen Ratgeber. Obwohl sie überglücklich war, wieder zu Hause zu sein, wurde ihr klar, daß sich ihr Zuhause für sie verändert hatte und niemals mehr so sein würde wie früher.

Alle schienen sich zu freuen, sie zu sehen, aber man behandelte sie mit der gleichen Höflichkeit wie Derek, Sturm, Flint und Tolpan. Sie war eine Außenseiterin. Selbst das Verhalten ihrer Eltern war nach der ersten gefühlvollen Begrüßung kühl und distanziert geworden. Es hätte sie nicht so verletzt, wenn sie Gilthanas nicht so verhätschelt hätten. Warum der Unterschied? Laurana konnte es nicht verstehen. Ihr älterer Bruder Porthios sollte ihr die Augen öffnen.

Dieser Zwischenfall ereignete sich während der Feier.

»Du wirst feststellen, daß sich unser Leben hier sehr von dem in Qualinesti unterscheidet«, sagte ihr Vater zu ihrem Bruder an jenem Abend beim Festessen, das in einem riesigen, von den Kaganesti gebauten Holzsaal stattfand. »Aber du wirst dich schnell daran gewöhnen.« Dann wandte er sich an Laurana und meinte förmlich: »Ich würde mich freuen, wenn du an deinen alten Platz als meine Schreiberin zurückkehren würdest, aber ich weiß, daß du mit anderen Dingen in unserem Haushalt ausgelastet sein wirst.«

Laurana war bestürzt. Sie hatte natürlich nicht die Absicht gehabt zu bleiben, aber sie ärgerte sich, daß sie wieder eine Stelle einnehmen sollte, die der traditionellen Rolle einer Tochter im königlichen Haushalt entsprach. Sie ärgerte sich außerdem, daß ihr Vater sie offensichtlich ignoriert hatte, als sie mit ihm darüber reden wollte, wie die Kugel nach Sankrist zu bringen wäre.

»Stimme«, sagte sie langsam und versuchte, die Verärgerung aus ihrer Stimme zu halten. »Ich habe es dir bereits gesagt. Wir können nicht bleiben. Hast du mir und Elistan nicht zugehört? Wir haben die Kugel der Drachen entdeckt! Wir verfügen über Mittel, die Drachen zu kontrollieren und diesem Krieg ein Ende zu bereiten! Wir müssen die Kugel nach Sankrist bringen...«

»Halt den Mund, Laurana!« fuhr ihr Vater sie an und tauschte mit Porthios einen Blick.

Ihr Bruder musterte sie streng. »Du weißt nicht, was du sagst, Laurana. Die Kugel der Drachen ist wahrhaftig ein großer Gewinn und sollte hier nicht diskutiert werden. Außerdem kommt es nicht in Frage, die Kugel nach Sankrist zu bringen.«

»Entschuldigung, mein Herr«, sagte Derek und verbeugte sich, nachdem er sich erhoben hatte, »aber in dieser Angelegenheit habt Ihr nichts zu sagen. Die Kugel der Drachen gehört Euch nicht. Ich wurde von dem Kapitel der Ritter beauftragt, eine Kugel der Drachen zu finden. Ich war erfolgreich und beabsichtige, sie nach Sankrist zu bringen. Ihr habt kein Recht, mich aufzuhalten.«

»Haben wir nicht?« Die Augen der Stimme funkelten wütend.

»Mein Sohn, Gilthanas hat sie in dieses Land gebracht, das für uns Qualinesti unsere Exilheimat ist. Dadurch gehört sie rechtmäßig uns.«

»Ich habe sie nie für mich beansprucht, Vater«, sagte Gilthanas und errötete, als er die Blicke der Gefährten auf sich spürte. »Sie gehört nicht mir. Sie gehört uns allen...«

Porthios warf seinem jüngeren Bruder einen wütenden Blick zu. Gilthanas stammelte etwas, dann fiel er in Schweigen.

»Wenn jemand überhaupt einen Anspruch auf sie hat, dann ist es Laurana«, erhob Flint Feuerschmied seine Stimme, keineswegs von den funkelnden Blicken der Elfen eingeschüchtert. »Denn sie war es, die Feal-Tas getötet hat, den bösen Elfenmagier.«

»Wenn sie ihr gehört«, konterte die Stimme, »dann ist sie rechtmäßig meine. Denn Laurana ist nicht volljährig – was ihr gehört, gehört mir, denn ich bin ihr Vater. Das ist Elfengesetz und auch Zwergengesetz, wenn ich mich nicht irre.«

Flint errötete. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber Tolpan kam ihm zuvor.

»Ist das nicht merkwürdig?« bemerkte der Kender fröhlich, der den problematischen Inhalt der Unterhaltung nicht mitbekommen hatte. »Nach dem Kendergesetz, falls es ein Kendergesetz gibt, gehört alles allen.« (Das stimmte. Die nachlässige Einstellung der Kender zum Eigentum anderer bezog sich auch auf die Kender untereinander. In einem Kenderhaus blieb nie etwas lange, sofern es nicht am Boden festgenagelt war. Ein Nachbar würde bestimmt hereinspazieren, es bewundern und geistesabwesend damit von dannen ziehen. Ein Familienerbstück war für die Kender etwas, was länger als drei Wochen in einem Haus blieb.)

Danach sprach keiner mehr ein Wort. Flint trat Tolpan unter dem Tisch, und der Kender hielt beleidigt den Mund, bis er entdeckte, daß sein Nachbar, ein Elfenlord, vom Tisch gerufen wurde und seine Börse zurückließ. Das Durchwühlen der Besitztümer des Elfenlords hielt den Kender bis zum Ende des Essens glücklich beschäftigt.

Flint, der normalerweise auf Tolpan ein Auge hielt, bemerkte dies nicht bei all seinen anderen Sorgen. Offensichtlich würde es Schwierigkeiten geben. Derek war zornig. Nur der strenge Kodex der Ritter hielt ihn davon ab, den Tisch zu verlassen.

Laurana saß schweigend da und aß nichts. Ihr Gesicht war trotz ihrer gebräunten Haut blaß, und sie bohrte mit ihrer Gabel kleine Löcher in das feingewebte Tischtuch. Flint stieß Sturm an.

»Wir haben gedacht, die Kugel der Drachen aus Eismauer wegzuschaffen, wäre schwierig«, sagte der Zwerg mit gedämpfter Stimme. »Dort brauchten wir nur einem verrückten Zauberer und einigen Walroß-Menschen zu entkommen. Jetzt sind wir von drei Elfennationen eingekreist.«

»Wir müssen vernünftig mit ihnen reden«, sagte Sturm leise.

»Vernünftig!« schnaufte der Zwerg. »Zwei Steine hätten eine bessere Chance, vernünftig miteinander zu reden!«

Dies erwies sich als richtig. Auf Wunsch der Stimme blieben die Gefährten nach dem Essen am Tisch sitzen, während die anderen Elfen aufstanden und gingen. Gilthanas und seine Schwester saßen nebeneinander, ihre Gesichter waren angespannt und besorgt, als Derek vor der Stimme stand, um mit ihm »vernünftig zu reden«.

»Die Kugel gehört uns«, erklärte Derek kühl. »Ihr habt überhaupt keinen Anspruch darauf. Und sicher gehört sie auch nicht Eurer Tochter oder Eurem Sohn. Sie sind mit mir aus Höflichkeit gereist, nachdem ich sie aus dem zerstörten Tarsis gerettet hatte. Es war mir eine Ehre, sie in ihre Heimat begleitet zu haben, und ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Aber morgen werde ich nach Sankrist aufbrechen, und die Kugel nehme ich mit.«

Porthios erhob sich, um Derek ins Gesicht zu sehen. »Der Kender mag sagen, daß die Kugel der Drachen ihm gehört. Aber das tut nichts zur Sache.« Der Elfenlord sprach mit aalglatter, höflicher Stimme, die wie ein Messer durch die Nachtluft schnitt. »Die Kugel ist nun in Elfenhänden, und hier bleibt sie auch. Hältst du uns für so dumm, daß wir diese Kostbarkeit Menschen überlassen, damit sie noch mehr Probleme in diese Welt bringen?«

»Noch mehr Probleme?« Dereks Gesicht lief knallrot an.

»Sind dir überhaupt die jetzigen Probleme in der Welt bewußt? Die Drachen haben euch aus eurer Heimat vertrieben. Jetzt nähern sie sich unserer Heimat! Wir haben nicht die Absicht, wegzulaufen, so wie ihr. Wir werden bleiben und kämpfen! Diese Kugel könnte unsere einzige Hoffnung sein...«

»Du hast meine Erlaubnis, in deine Heimat zurückzukehren und dich zu einem Kartoffelpuffer verbrennen zu lassen, denn es interessiert mich nicht«, gab Porthios zurück. »Schließlich wart ihr Menschen es, die dieses uralte Böse wieder geweckt haben. Es paßt also, daß ihr es bekämpfen wollt! Die Drachenfürsten haben erhalten, was sie von uns wollten. Sie werden uns zweifellos in Frieden lassen. Hier, auf Ergod, wird die Kugel in Sicherheit sein.«

»Narr!« Derek schlug mit der Faust auf den Tisch. »Die Drachenfürsten haben nur einen einzigen Gedanken, und der ist, ganz Ansalon zu erobern. Das schließt auch diese erbärmliche Insel ein! Eine Zeitlang werdet ihr wohl hier sicher sein, aber wenn wir untergehen, werdet auch ihr untergehen!«

»Du weißt, daß er die Wahrheit sagt, Vater«, sagte Laurana.

Sie wagte viel. Elfenfrauen waren bei Kriegsbesprechungen nicht anwesend, geschweige denn, daß sie etwas sagten. Laurana war nur dabei, weil besonders sie das Ganze etwas anging.

Sie erhob sich und stand ihrem Bruder gegenüber, der sie mißbilligend ansah. »Porthios, unser Vater hat uns in Qualinesti gesagt, daß der Drachenfürst nicht nur unser Land will, sondern auch die Ausrottung unserer Rasse! Hast du das vergessen?«

»Pah! Das war dieser Drachenfürst Verminaard. Er ist tot...«

»Ja, weil wir ihn getötet haben«, schrie Laurana wütend, »und nicht du!«

»Laurana!« Die Stimme der Sonnen erhob sich und überragte alle, sogar seinen ältesten Sohn. »Du vergißt dich, junge Frau. Du hast kein Recht, so zu deinem ältesten Bruder zu reden. Wir standen eigenen Gefahren auf unserer Reise gegenüber. Er hat seine Pflicht und seine Verantwortung nicht vergessen, so wie auch Gilthanas. Sie sind nicht hinter einem Halb-Elfen-Bastard hinterhergerannt wie eine schamlose menschliche Hu...« Die Stimme brach plötzlich ab.

Laurana wurde leichenblaß. Sie schwankte, hielt sich am Tisch fest. Gilthanas erhob sich schnell, um ihr zu helfen, aber sie schob ihn weg. »Vater«, sagte sie in einer Stimme, die sie nicht als ihre eigene erkannte, »was wolltest du sagen?«

»Laß es, Laurana«, bat Gilthanas. »Er meint es nicht so. Wir werden morgen früh weiterreden.«

Die Stimme sagte nichts, sein Gesicht war grau und kalt.

»Du wolltest ›menschliche Hure‹ sagen!« sagte Laurana leise.

»Geh in dein Nachtquartier, Laurana«, befahl die Stimme.

»So denkst du also über mich«, flüsterte Laurana mit ihrer rauhen Kehle. »Darum starren mich alle an und hören zu sprechen auf, wenn ich mich nähere. Menschliche Hure.«

»Schwester, gehorche deinem Vater«, sagte Porthios. »Und du solltest nicht vergessen, es ist deine Schuld, daß wir über dich so denken. Was erwartest du? Sieh dich doch nur an, Laurana! Du bist wie ein Mann gekleidet. Du trägst stolz ein blutbeflecktes Schwert. Du redest ungezwungen über eure ›Abenteuer‹! Mit solchen Leuten reisen – mit Menschen und Zwergen! Die Nächte mit ihnen verbringen. Die Nächte mit deinem Bastardliebhaber verbringen. Wo ist er? Ist er deiner überdrüssig und...«

Der Schein des Feuers flackerte vor Lauranas Augen. Die Hitze flutete über ihren Körper, wurde von einer schrecklichen Kälte abgelöst. Sie konnte nichts mehr sehen und erinnerte sich nur an ein schreckliches Gefühl des Fallens, ohne in der Lage zu sein, sich zu fassen. Stimmen drangen weit entfernt auf sie ein, verzerrte Gesichter beugten sich über sie.

»Laurana, meine Tochter...«

Dann war nichts mehr.

»Herrin...«

»Was? Wo bin ich? Wer bist du? Ich... ich sehe nichts! Hilf mir!«

»Hier, Herrin. Nimm meine Hand. Pssst. Ich bin hier. Ich bin Silvara. Erinnerst du dich?«

Laurana spürte sanfte Hände über ihre eigenen streichen, als sie sich aufsetzte.

»Kannst du das trinken, Herrin?«

Ein Becher wurde an ihre Lippen gehalten. Laurana nippte daran, schmeckte klares, kühles Wasser. Sie ergriff den Becher und trank gierig, da es ihr fiebriges Blut kühlte. Die Kräfte kehrten zurück, sie konnte wieder sehen. Eine kleine Kerze brannte neben ihrem Lager. Sie war in ihrem Zimmer im Haus ihres Vaters. Ihre Kleider lagen auf einer rohen Holzbank, Schwertgürtel und Scheide lagen daneben, ihr Rucksack stand auf dem Boden. An einem Tisch gegenüber von ihrem Bett saß eine Zofe, ihr Kopf war in ihre Arme eingebettet, sie schlief tief und fest.

Laurana wandte sich zu Silvara, die ihre Finger an die Lippen legte, da sie die Frage in ihren Augen sah.

»Sprich leise«, sagte die Wild-Elfe. »Oh, nicht wegen ihr« Silvara warf dem Mädchen einen kurzen Blick zu -, »sie wird viele, viele Stunden friedlich schlafen, bevor die Wirkung nachläßt. Aber im Haus sind andere, die vielleicht wachsam sind. Fühlst du dich besser?«

»Ja«, antwortete Laurana verwirrt. »Ich erinnere mich nicht...«

»Du bist ohnmächtig geworden«, antwortete Silvara. »Ich habe sie reden gehört, als sie dich hierhertrugen. Dein Vater ist wirklich bekümmert. Er meinte diese Vorwürfe nicht so. Es ist nur so, daß du ihn schrecklich verletzt hast...«

»Wie konntest du das hören?«

»Ich hatte mich im Schatten einer Nische versteckt. Für mein Volk ist das keine Kunst. Die alte Zofe sagte, daß mit dir alles in Ordnung sei und du nur Ruhe brauchtest, dann gingen sie. Als sie eine Decke holen ging, mischte ich den Schlafsaft in ihren Tee.«

»Warum?« fragte Laurana. Als sie das Mädchen genauer betrachtete, sah sie, daß die Wild-Elfe eine wunderschöne Frau war – oder sein könnte, wenn die Schmutzschichten von ihr gewaschen wären.

Silvara bemerkte Lauranas prüfenden Blick und errötete vor Verlegenheit. »Ich... ich bin von den Silvanesti weggelaufen, Herrin, als sie euch über den Fluß brachten.«

»Laurana. Bitte, Kind, nenn mich Laurana.«

»Laurana«, korrigierte sich Silvara errötend. »Ich... ich bin gekommen, um dich zu bitten, mich mitzunehmen, wenn ihr hier aufbrecht.«

»Aufbrechen?« fragte Laurana. »Ich bin nicht...« Sie stockte.

»Nicht?« fragte Silvara leise.

»Ich... ich weiß nicht«, antwortete Laurana verwirrt.

»Ich kann helfen«, sagte Silvara eifrig. »Ich kenne den Weg durch das Gebirge zum Außenposten der Ritter, wohin die Schiffe mit den Vögelflügeln segeln. Ich helfe euch, wegzukommen.«

»Warum solltest du das für uns tun?« fragte Laurana. »Es tut mir leid, Silvara. Ich wirke wohl mißtrauisch, aber du kennst uns nicht, und was du da tust, ist sehr gefährlich. Sicherlich könntest du allein einfacher entkommen.«

»Ich weiß, daß ihr die Kugel der Drachen habt«, flüsterte Silvara.

»Woher weißt du über die Kugel?« fragte Laurana erstaunt.

»Ich habe die Silvanesti reden hören, nachdem sie euch am Fluß zurückgelassen hatten.«

»Und du weißt, was es damit auf sich hat? Woher?«

»Mein... Volk kennt Geschichten... darüber«, antwortete Silvara. »Ich... ich weiß, sie ist wichtig, um den Krieg zu beenden. Dein Volk und die Silvanesti-Elfen werden in ihre Heimat zurückkehren und die Kaganesti in Frieden leben lassen. Das ist der Grund und...« Silvara schwieg einen Moment, dann sprach sie so leise, daß Laurana sie kaum verstehen konnte.

»Du warst die erste Person, die die Bedeutung meines Namens kannte.«

Laurana sah sie verwirrt an. Das Mädchen wirkte aufrichtig.

Aber Laurana glaubte ihr trotzdem nicht. Warum sollte sie ihr Leben riskieren, um ihnen zu helfen? Vielleicht war sie ein Silvanesti-Kundschafter, der die Kugel holen sollte. Es schien unwahrscheinlich, aber seltsamere Dinge...

Laurana legte ihren Kopf in ihre Hände und versuchte zu denken. Könnten sie Silvara trauen – zumindest so weit, daß sie hier entkommen könnten? Offenbar blieb ihnen keine andere Wahl. Wenn sie in das Gebirge gehen wollten, mußten sie durch Kaganesti-Land reisen. Silvaras Hilfe wäre von unschätzbarem Wert.

»Ich muß mit Elistan reden«, sagte Laurana. »Kannst du ihn holen?«

»Nicht nötig, Laurana«, antwortete Silvara. »Er wartet vor der Tür.«

»Und die anderen? Wo sind meine anderen Gefährten?«

»Lord Gilthanas ist natürlich im Haus deines Vaters...« War es Lauranas Einbildung, oder röteten sich Silvaras blasse Wangen wirklich, als sie diesen Namen aussprach? »Die anderen sind in den Gastquartieren untergebracht.«

»Ja«, sagte Laurana grimmig, »ich kann es mir vorstellen.«

Silvara schlich langsam zur Tür, öffnete sie und winkte.

»Laurana?«

»Elistan!« Sie schlang ihre Arme um den Kleriker, legte ihren Kopf an seine Brust und schloß die Augen, fühlte seine starken Arme sie sanft umarmen. Sie wußte, alles würde gut werden. Elistan würde die Führung übernehmen. Er würde wissen, was zu tun war.

»Geht es dir besser?« fragte der Kleriker. »Dein Vater...«

»Ja, ich weiß«, unterbrach Laurana ihn. Sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihrem Herzen, wenn ihr Vater erwähnt wurde. »Du mußt entscheiden, was wir tun sollen, Elistan. Silvara hat uns ihre Hilfe angeboten. Wir könnten mit der Kugel noch heute nacht verschwinden.«

»Wenn du das tun mußt, meine Liebe, dann solltest du keine Zeit mehr verschwenden«, sagte Elistan, der sich auf einen Stuhl setzte.

Laurana blinzelte. Sie streckte ihre Hände aus und ergriff seinen Arm. »Elistan, wie meinst du das? Du mußt mit uns kommen...«

»Nein, Laurana«, sagte Elistan und hielt ihre Hand fest mit seiner umschlossen. »Wenn du das vorhast, mußt du es allein machen. Ich habe Paladin um Hilfe gebeten, und ich muß hier bei den Elfen bleiben. Ich glaube, wenn ich bleibe, kann ich deinen Vater überzeugen, daß ich ein Kleriker der wahren Götter bin. Wenn ich gehe, würde er immer glauben, daß ich ein Scharlatan sei, wie mich dein Bruder bezeichnet hat.«

»Was ist mit der Kugel der Drachen?«

»Das liegt bei dir, Laurana. Die Elfen irren sich in dieser Angelegenheit. Hoffentlich werden sie im Laufe der Zeit ihren Fehler einsehen. Aber wir haben keine Jahrhunderte Zeit, um darüber zu streiten. Ich meine, du solltest die Kugel nach Sankrist bringen.«

»Ich?« keuchte Laurana. »Das kann ich nicht!«

»Meine Liebe«, sagte Elistan fest, »du mußt dir im klaren sein, daß die Last der Führerschaft auf dir ruht, wenn du diese Entscheidung triffst. Sturm und Derek sind in ihrem eigenen Streit verfangen, und außerdem sind sie Menschen. Du wirst dich mit Elfen auseinandersetzen müssen – mit deinem Volk und den Kaganesti. Gilthanas ergreift Partei für deinen Vater. Du allein hast eine Chance, erfolgreich zu sein.«

»Aber ich bin nicht fähig...«

»Du bist fähiger, als du dir eingestehst, Laurana. Vielleicht waren deine ganzen Erfahrungen, die du bis jetzt gemacht hast, eine Vorbereitung auf diese Sache. Du darfst nicht mehr Zeit verschwenden. Leb wohl, meine Liebe.« Elistan erhob sich und legte seine Hand auf ihren Kopf. »Soll Paladins Segen – und meiner – mit dir gehen.«

»Elistan!« flüsterte Laurana, aber der Kleriker war gegangen.

Silvara schloß leise die Tür.

Laurana sank auf ihr Lager zurück und versuchte zu denken.

Elistan hatte natürlich recht. Die Kugel der Drachen durfte nicht hierbleiben. Und wenn wir fliehen wollen, muß es heute nacht geschehen. Aber es geht alles so schnell! Und alles hängt von mir ab! Kann ich Silvara vertrauen? Aber wozu diese Frage, sie ist die einzige, die uns führen kann. Dann muß ich jetzt nur noch die Kugel holen, an die Lanze kommen und meine Freunde befreien. Ich weiß, wie ich an die Kugel und die Lanze komme. Aber meine Freunde...

Laurana wußte plötzlich, was sie tun würde. Ihr wurde klar, daß der Plan in ihr schon gereift war, als sie mit Elistan geredet hatte.

Damit lege ich mich fest, dachte sie. Es wird keine Rückkehr mehr geben. Die Kugel der Drachen stehlen, in der Nacht in fremdes, feindliches Land fliehen. Und was ist mit Gilthanas?

Wir haben gemeinsam so viel durchgemacht. Aber er wird über die Idee, mit der Kugel zu fliehen, entsetzt sein. Und falls er sich entscheidet, nicht mit mir zu gehen, würde er uns verraten? Laurana schloß die Augen. Müde legte sie ihren Kopf auf ihre Knie. Tanis, dachte sie, wo bist du? Was soll ich tun?

Warum liegt es bei mir? Ich will das nicht.

Und als sie so saß, erinnerte sich Laurana an die Erschöpfung und die Trauer in Tanis' Gesicht. Vielleicht fragte er sich die gleichen Dinge. Die ganze Zeit über dachte ich, er wäre so stark, vielleicht ist er in Wirklichkeit verloren und verängstigt, so wie ich. Sicher fühlt er sich von seinem Volk im Stich gelassen. Und wir hängten uns an ihn, ob er es wollte oder nicht.

Aber er nahm es an. Er tat das, von dem er glaubte, daß es richtig sei.

Und so muß ich es auch tun.

Energisch weigerte sie sich, weiterzudenken, hob den Kopf und bat Silvara, näher zu kommen.

Sturm, der nicht schlafen konnte, schritt in dem primitiven Raum auf und ab, den man ihnen zur Verfügung gestellt hatte.

Der Zwerg lag auf einem Lager ausgestreckt und schnarchte laut. Tolpan lag mitten im Raum wie ein Häufchen Elend zusammengerollt, sein Fuß war mit dem Pfosten der Lagerstatt durch eine Kette verbunden. Sturm seufzte. In was für Schwierigkeiten würden sie noch geraten?

Der Abend hatte schlecht begonnen und war zur Katastrophe ausgewachsen. Nachdem Laurana ohnmächtig geworden war, hatte Sturm nur noch eins tun können, nämlich den wütenden Zwerg zurückzuhalten. Flint schwor, Porthios die Gliedmaßen auszureißen. Derek erklärte, daß er sich als Gefangener betrachte, der vom Feind festgehalten würde, und daß es deshalb seine Pflicht wäre, zu versuchen zu fliehen; dann würde er mit den Rittern zurückkehren und die Kugel der Drachen mit Gewalt zurückerobern. Derek wurde unverzüglich von den Wachen weggebracht. Gerade als Sturm Flint beruhigt hatte, erschien ein Elfenlord aus dem Nichts und beschuldigte Tolpan, seine Börse gestohlen zu haben.

Jetzt standen sie unter doppelter Wache, »Gäste« der Stimme der Sonnen.

»Mußt du so herumlaufen?« fragte Derek kühl.

»Kannst du deswegen nicht schlafen?« schnappte Sturm.

»Natürlich nicht. Nur Dummköpfe können unter diesen Umständen schlafen. Du störst meine Konzen...«

»Pssst!« machte Sturm und hob warnend die Hand.

Derek verstummte sofort. Der Ritter machte ein Zeichen. Der ältere Ritter trat zu Sturm, der zur Decke hochstarrte. Das Holzhaus war rechteckig gebaut, mit einer Tür, zwei Fenstern und einer Feuerstelle. Ein Loch im Dach sorgte für Lüftung.

Durch dieses Loch hörte Sturm das merkwürdige Geräusch, auf das seine Aufmerksamkeit gelenkt worden war. Es war ein scharrendes, kratzendes Geräusch. Die Holzbalken in der Dekke quietschten, als ob etwas Schweres über sie kriechen würde.

»Irgendein wildes Tier«, murmelte Derek. »Und wir sind ohne Waffen!«

»Nein«, sagte Sturm, der aufmerksam lauschte. »Kein Knurren. Es bewegt sich zu leise, als ob es nicht gehört oder gesehen werden will. Was machen denn die Wachen draußen?«

Derek ging zum Fenster und spähte hinaus. »Sie sitzen an einem Feuer. Zwei schlafen. Sie sind nicht besonders um uns besorgt, nicht wahr?« fragte er bitter.

»Warum sollten sie auch?« gab Sturm zurück. Seine Augen blieben weiter zur Decke gerichtet. »Einige tausend Elfen werden bei einem Wispern bereit sein. Was...«

Sturm wich beunruhigt zurück, als die Sterne, die er durch das Loch hatte sehen können, plötzlich von einer dunklen, formlosen Masse ausgelöscht wurden. Sturm faßte schnell nach unten und riß einen Holzklotz aus dem glühenden Feuer.

»Sturm! Sturm Feuerklinge!« sagte die formlose Masse.

Sturm zuckte zusammen, versuchte sich an die Stimme zu erinnern. Sie kam ihm vertraut vor. Gedanken an Solace überfluteten seine Gedanken. »Theros!« keuchte er. »Theros Eisenfeld! Was machst du hier? Als ich dich das letzte Mal sah, hast du im Elfenkönigreich fast im Sterben gelegen.«

Der riesige Schmied aus Solace kämpfte sich durch die Öffnung in der Decke und riß einen Teil des Daches mit sich. Er landete hart, weckte den Zwerg, der sich aufsetzte und verschlafen auf die Erscheinung mitten im Zimmer starrte.

»Was...«, fing der Zwerg an und suchte seine Streitaxt, die jedoch nicht an seiner Seite lag.

»Pssst!« befahl der Schmied. »Keine Zeit für Fragen. Lady Laurana schickt mich, um euch zu befreien. Wir treffen sie im Wald hinter dem Lager. Beeilt euch! Uns bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung, und wir müssen bis dahin den Fluß überquert haben.« Theros ging zu Tolpan, der erfolglos versuchte, sich selbst zu befreien. »Nun, Meisterdieb, ich sehe, jemand hat dich zum Schluß doch noch gefaßt.«

»Ich bin kein Dieb!« entgegnete Tolpan beleidigt. »Das weißt du ganz genau, Theros. Diese Börse wurde mir untergeschoben...«

Der Schmied kicherte. Er nahm die Kette in seine Hände, zerrte an ihr, und sie zerbrach. Tolpan jedoch bemerkte das nicht. Er starrte auf die Arme des Schmieds. Der linke Arm war ein staubiges Schwarz, die Hautfarbe des Schmieds. Aber der andere Arm, der rechte, war aus hellem, glänzendem Silber!

»Theros«, sagte Tolpan mit erstickter Stimme. »Dein Arm...«

»Fragen kommen später, kleiner Dieb«, antwortete der Schmied streng. »Jetzt müssen wir uns beeilen und uns leise bewegen.«

»Über den Fluß«, stöhnte Flint kopfschüttelnd. »Noch mehr Boote. Noch mehr Boote...«

»Ich will die Stimme sehen«, sagte Laurana dem Wachmann an der Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters.

»Es ist spät«, erwiderte der Wachmann. »Die Stimme schläft.«

Laurana zog ihre Kapuze zurück. Der Wachmann verbeugte sich. »Verzeih mir, Prinzessin. Ich habe dich nicht erkannt.« Er warf Silvara einen argwöhnischen Blick zu. »Wer ist das?«

»Mein Mädchen. In der Nacht laufe ich nicht allein herum.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte der Wachmann eilig, als er die Tür öffnete. »Geh durch den Gang. Sein Schlafzimmer ist das dritte Zimmer auf der rechten Seite.«

»Danke«, antwortete Laurana und schob sich an ihm vorbei.

Silvara, eingemummt in einem weiten Umhang, folgte ihr leise.

»Die Kiste ist in seinem Zimmer am Fußende des Bettes«, flüsterte Laurana Silvara zu. »Bist du sicher, daß du die Kugel der Drachen tragen kannst? Sie ist groß und schwer.«

»Sie ist nicht so groß«, murmelte Silvara und starrte Laurana erstaunt an. »Sie ist nur so...« Sie formte mit ihren Händen einen Umriß in der Größe eines Kinderballs.

»Nein«, sagte Laurana stirnrunzelnd. »Du hast sie nicht gesehen. Ihr Durchmesser beträgt fast sechzig Zentimeter. Darum trägst du ja auch diesen weiten Umhang.«

Silvara starrte sie verwundert an. Laurana zuckte die Schultern. »Nun, wir können jetzt hier nicht herumstehen und streiten.«

Die beiden schlichen leise wie Kender den Flur entlang, bis sie vor dem Schlafzimmer standen.

Laurana hielt den Atem an, fürchtete, ihr Herz könnte zu laut schlagen, und drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich quietschend, und sie preßte vor Schreck ihre Zähne zusammen. Neben ihr zitterte Silvara vor Angst. Eine Gestalt im Bett bewegte sich und drehte sich um – ihre Mutter. Laurana sah ihren Vater, der selbst im Schlaf beschützend seine Hand auf seine Frau gelegt hatte. Tränen traten in Lauranas Augen. Sie preßte entschlossen ihre Lippen zusammen, faßte Silvaras Hand und glitt in den Raum.

Die Kiste stand am Fußende des Bettes ihres Vaters. Sie war verschlossen, aber die Gefährten hatten alle einen Ersatzschlüssel. Schnell öffnete Laurana die Kiste und hob den Deckel. Vor Verwunderung ließ sie ihn beinahe fallen. Die Kugel der Drachen war noch da, glitzerte in ihrem sanften, weißblauen Licht.

Aber es war nicht mehr dieselbe Kugel! Oder sie war es doch, nur geschrumpft. Wie Silvara gesagt hatte, war sie jetzt nicht größer als ein Spielball! Laurana ergriff sie. Sie war immer noch schwer, aber sie konnte sie mühelos hochheben und gab sie an Silvara weiter. Die Wild-Elfe verbarg sie sofort in ihrem Umhang. Laurana hob den Schaft der zerbrochenen Drachenlanze und fragte sich, warum sie unbedingt die zerbrochene alte Waffe mitnehmen wollte.

Ich nehme sie mit, weil der Ritter sie Sturm ausgehändigt hatte, dachte sie. Er wollte, daß er sie besitzt.

Auf dem Boden der Kiste lag Tanis' Schwert, Drachentöter, das ihm Kith-Kanan geschenkt hatte. Laurana sah vom Schwert zur Drachenlanze. Beides kann ich nicht tragen, dachte sie, und wollte die Lanze wieder zurücklegen. Aber Silvara ergriff sie.

»Was machst du denn?« Ihr Mund formte die Worte, ihre Augen blitzten. »Nimm sie! Nimm sie!«

Laurana starrte das Mädchen erstaunt an. Dann nahm sie hastig die Lanze, verbarg sie in ihrem Umhang und schloß sorgfältig die Kiste. Das Schwert ließ sie zurück. Gerade als sie fertig war, rollte sich ihr Vater in seinem Bett herum und richtete sich auf.

»Was? Wer ist da?« fragte er und wollte in seiner Beunruhigung den Schlaf abschütteln.

Laurana fühlte Silvara zittern und umklammerte beruhigend ihre Hand als Zeichen, leise zu sein.

»Ich bin es, Vater«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Laurana. Ich... ich wollte... dir sagen, daß es mir leid tut, Vater. Und ich bitte dich, mir zu verzeihen.«

»Ah, Laurana.« Die Stimme legte sich in seine Kissen zurück und schloß die Augen. »Ich vergebe dir, meine Tochter. Aber jetzt geh schlafen. Wir werden morgen früh darüber reden.«

Laurana wartete, bis er wieder ruhig und regelmäßig atmete.

Dann führte sie Silvara aus dem Zimmer, die Drachenlanze unter ihrem Umhang festhaltend.

»Wer ist da?« fragte eine menschliche Stimme leise in der Elfensprache.

»Wer fragt?« erwiderte eine klare Elfenstimme.

»Gilthanas? Bist du es?«

»Theros! Mein Freund!« Der junge Elfenlord trat schnell aus den Schatten, um den Schmied zu umarmen. Einen Moment war Gilthanas so überwältigt, daß er nicht sprechen konnte.

Dann befreite er sich erschrocken aus der bärähnlichen Umarmung des Schmieds. »Theros! Du hast zwei Arme? Aber die Drakonier haben dir in Solace einen Arm abgehackt! Du wärst gestorben, wenn Goldmond dich nicht geheilt hätte.«

»Erinnerst du dich, was dieses Schwein von Truppführer mir gesagt hat?« fragte Theros. »Der einzige Weg, um einen neuen Arm zu bekommen, Schmied, ist, daß du dir selbst einen schmiedest! Nun, genau das habe ich getan! Die Geschichte meines Abenteuers, um den Silbernen Arm zu finden, ist eine sehr lange...«

»Und dafür haben wir jetzt keine Zeit«, murrte eine andere Stimme hinter ihm. »Falls du nicht ein paar tausend Elfen bitten möchtest, sie gemeinsam mit uns anzuhören.«

»Du hast es also geschafft zu fliehen, Gilthanas«, ertönte Dereks Stimme aus dem Schatten. »Hast du auch die Kugel der Drachen dabei?«

»Ich bin nicht geflohen«, gab Gilthanas kühl zurück. »Ich verließ das Haus meines Vaters, um meine Schwester und Sil... ihr Mädchen in der Dunkelheit zu begleiten. Die Kugel zu nehmen, war Lauranas Idee, nicht meine. Es ist immer noch Zeit, diesen Wahnsinn zu überdenken, Laurana.« Gilthanas wandte sich zu ihr. »Bring die Kugel zurück. Laß dich nicht von Porthios' unüberlegten Worten verleiten. Wenn wir die Kugel hierbehalten, könnten wir sie zur Verteidigung unseres Volkes verwenden. Wir könnten herausfinden, wie sie funktioniert, wir haben schließlich auch Magier hier.«

»Sollten wir uns jetzt nicht einfach den Wachen stellen! Dann könnten wir noch ein wenig schlafen, im Warmen!«

Flints Worte kamen mit explosiven, eisigen Atemzügen hervor.

»Entweder du löst jetzt Alarm aus, Elf, oder du läßt uns gehen. Oder gib uns wenigstens etwas Zeit, bevor du uns verrätst«, sagte Derek.

»Ich habe nicht die Absicht, euch zu verraten«, erklärte Gilthanas wütend. Er ignorierte die anderen und wandte sich wieder an seine Schwester. »Laurana?«

»Ich bin entschlossen, diesen Plan auszuführen«, antwortete sie langsam. »Ich habe darüber nachgedacht, und ich glaube, wir tun das Richtige. Das glaubt auch Elistan. Silvara wird uns durch das Gebirge führen...«

»Auch ich kenne das Gebirge«, sagte Theros. »Ich hatte hier wenig zu tun, also bin ich gewandert. Und ihr werdet mich brauchen, um an den Wachen vorbeizukommen.«

»Dann haben wir uns also entschieden.«

»Nun gut.« Gilthanas seufzte. »Ich komme mit euch. Wenn ich hierbleibe, wird Porthios mich immer der Mittäterschaft bezichtigen.«

»Fein«, schnappte Flint. »Können wir jetzt endlich fliehen? Oder müssen wir noch jemanden wecken?«

»Hier entlang«, sagte Theros. »Die Wachen sind daran gewöhnt, daß ich spätnachts herumlaufe. Bleibt im Schatten, und überlaßt mir das Reden.« Er bückte sich und packte Tolpan am Kragen seines schweren Fellmantels, hob den Kender vom Boden auf und sah ihm direkt in die Augen. »Ich meine dich, kleiner Dieb«, sagte der große Schmied streng.

»Ja, Theros«, erwiderte der Kender unterwürfig, sich in der Silberhand des Mannes krümmend, bis der Schmied ihn wieder auf den Boden setzte. Etwas benommen ordnete Tolpan seine Beutel und versuchte, seine verletzte Würde wiederzufinden.

Die Gefährten folgten dem großen, dunkelhäutigen Schmied zum Rand des schlafenden Elfenlagers und bewegten sich so leise, wie es für zwei in Rüstungen steckende Ritter und einen Zwerg nur möglich war. Für Laurana waren sie so laut wie eine Hochzeitsgesellschaft. Sie biß sich auf die Lippen, um nichts zu sagen, während die Ritter in der Dunkelheit klirrten und klapperten, Flint über jede Baumwurzel stolperte und durch jede Pfütze platschte.

Aber die Elfen lagen eingehüllt in ihre Selbstzufriedenheit wie unter einer weichen Decke. Sie waren der Gefahr entkommen. Alle fühlten sich in Sicherheit. Und so schliefen sie, als die Gefährten in die Nacht flohen.

Silvara, die die Kugel der Drachen trug, fühlte das kalte Kristall warm werden, als sie es eng an ihren Körper hielt, fühlte es sich mit Leben anfüllen und pulsieren.

»Was soll ich nur tun?« flüsterte sie geistesabwesend in Kaganesti, während sie wie blind durch die Dunkelheit stolperte.

»Er ist zu mir gekommen! Warum? Ich verstehe es nicht! Was soll ich nur tun?«

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