18 Verfolgung. Ein verzweifelter Plan

Am Mittag des nächsten Tages waren die Gefährten gezwungen, die Boote zu verlassen. Sie hatten das Quellgebiet des Flusses erreicht. Hier war das Gewässer seicht und schaumigweiß von den Stromschnellen. Viele Kaganesti-Boote lagen am Strand. Als sie ihre Boote an das Ufer zogen, trafen die Gefährten auf eine Gruppe von Kaganesti-Elfen, die gerade aus dem Wald kam. Sie trugen die Körper von zwei jungen Elfenkriegern. Einige zogen ihre Waffen und hätten auch angegriffen, wenn Theros Eisenfeld und Silvara sie nicht eilig in ein Gespräch verwickelt hätten.

Die beiden sprachen lange mit den Kaganesti, während die Gefährten nervös den Fluß im Auge behielten. Obwohl sie vor Morgengrauen aufgestanden waren und so früh, wie es die Kaganesti als sicher empfanden, über das schnelle Wasser weitergereist waren, hatten sie mehr als einmal die sie verfolgenden schwarzen Boote erspäht.

Als Theros zurückkehrte, wirkte er niedergeschlagen. Silvara war vor Wut im Gesicht knallrot angelaufen.

»Mein Volk wird uns nicht unterstützen«, berichtete Silvara.

»Sie wurden in den vergangenen zwei Tagen zweimal von den Echsenwesen angegriffen. Sie geben Menschen die Schuld für das Auftauchen dieses neuen Bösen. Sie sollen es mit einem weißgeflügelten Schiff hierhergebracht haben...«

»Das ist lächerlich!« schnappte Laurana. »Theros, hast du ihnen nichts von den Drakoniern gesagt?«

»Ich habe es versucht«, gab der Schmied zurück. »Aber leider spricht alles gegen euch. Die Kaganesti sahen den weißen Drachen über dem Schiff, aber sie sahen offensichtlich nicht, daß ihr ihn vertrieben habt. Wenigstens haben sie sich einverstanden erklärt, uns durch ihr Land reisen zu lassen, aber sie gewähren uns keine Hilfe. Silvara und ich mußten mit unseren Leben für euch bürgen.«

»Was machen die Drakonier hier überhaupt?« fragte Laurana, die wieder von Erinnerungen verfolgt wurde. »Ist es eine Armee? Marschieren sie in das südliche Ergod ein? Wenn ja, sollten wir vielleicht umkehren...«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Theros nachdenklich.

»Wenn die Armeen der Drachenfürsten bereit wären, die Insel einzunehmen, dann würden sie es mit Scharen von Drachen und Tausenden von Soldaten tun. Es scheint sich eher um kleine Trupps zu handeln, die die sowieso schon schlimme Situation weiter verschlechtern sollen. Die Fürsten hoffen wahrscheinlich, daß die Elfen ihnen den Ärger eines Krieges ersparen, indem sie sich gegenseitig umbringen.«

»Die Drachenfürsten sind für einen Angriff auf Ergod noch nicht bereit«, sagte Derek. »Sie haben noch keinen festen Stand im Norden. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Darum ist es so wichtig, die Kugel der Drachen nach Sankrist zu bringen und das Treffen von Weißstein einzuberufen, damit Entscheidungen getroffen werden.«

Die Gefährten sammelten ihre Ausrüstung zusammen und machten sich für den Landmarsch bereit. Silvara führte sie auf einen Pfad neben dem silbernen Fluß. Sie spürten die feindseligen Augen der Kaganesti auf sich ruhen, bis sie außer Sichtweite waren.

Das Land begann fast sofort anzusteigen. Theros erklärte ihnen, daß er in diesem Gebiet noch nie zuvor gewesen war; es lag also an Silvara, sie zu führen. Laurana war über diese Situation keineswegs erfreut. Sie vermutete, daß zwischen ihrem Bruder und dem Mädchen etwas vorgefallen war, denn sie hatte bemerkt, daß sie ein süßes, geheimes Lächeln austauschten.

Silvara hatte Zeit gefunden, bei ihrem Volk die Kleider zu wechseln. Sie war nun wie eine Kaganesti-Frau gekleidet, in eine lange Ledertunika, in Lederstiefel und einen schweren Fellumhang. Mit ihrem gewaschenen und gekämmten Haar konnten jetzt alle verstehen, wie sie zu ihrem Namen gekommen war. Ihr Haar hatte eine seltsame, metallsilberne Farbe und floß in strahlender Schönheit über ihre Schultern.

Es stellte sich heraus, daß Silvara ein außerordentlich guter Führer war, der sie zu schnellem Tempo drängte. Sie und Gilthanas gingen Seite an Seite und unterhielten sich in der Elfensprache. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie eine Höhle.

»Hier können wir die Nacht verbringen«, sagte Silvara. »Wir sollten jetzt die Verfolger abgeschüttelt haben. Nur wenige kennen dieses Gebirge so gut wie ich. Aber wir sollten kein Feuer machen. Leider werden wir etwas Kaltes essen müssen.«

Erschöpft vom Tagesmarsch aßen sie trostlos, dann bereiteten sie in der Höhle ihre Lager. Die Gefährten schliefen in ihren Decken und allen verfügbaren Kleidungsstücken, zusammengekauert und unruhig. Sie stellten Wachen auf, Laurana und Silvara bestanden darauf, auch eingeteilt zu werden. Die Nacht verstrich ruhig, das einzige Geräusch war der Wind, der um die Felsen heulte.

Aber am nächsten Morgen quetschte sich Tolpan durch einen Spalt in dem gesicherten Eingang der Höhle, um sich umzuschauen, und kehrte sofort wieder zurück. Er legte einen Finger an die Lippen und machte ihnen Zeichen, ihm nach draußen zu folgen. Theros schob den riesigen Findling beiseite, den sie vor die Höhle gerollt hatten, dann schlichen sie hinter Tolpan her.

Er führte sie zu einer Stelle, nur wenige Meter von der Höhle entfernt, und zeigte grimmig auf den weißen Schnee.

Das waren Fußspuren, so frisch, daß der Schnee sie noch nicht wieder ganz bedeckt hatte. Die leichten Spuren waren kaum in den Schnee eingedrückt. Keiner sprach. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Alle erkannten die Umrisse von Elfenstiefeln.

»Sie müssen letzte Nacht hier vorbeigegangen sein«, sagte Silvara. »Wir sollten hier nicht länger bleiben. Sie werden bald entdecken, daß sie unsere Spur verloren haben, und zurückkehren. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein.«

»Ich sehe nicht ein, was das für einen Unterschied machen soll«, grummelte Flint voller Abscheu. Er zeigte auf ihre eigenen äußerst deutlichen Spuren. Dann sah er in den klaren blauen Himmel. »Wir können genausogut hier sitzenbleiben und auf sie warten. Erspart ihnen Zeit und uns Mühen. Wir können unsere Spuren nicht verwischen!«

»Vielleicht können wir unsere Spur nicht verwischen«, sagte Theros, »aber vielleicht können wir einige Meilen Vorsprung herausholen.«

»Vielleicht«, wiederholte Derek grimmig. Er löste sein Schwert aus der Scheide und ging in die Höhle zurück.

Laurana hielt Sturm fest. »Es darf nicht zu einem Blutbad kommen!« flüsterte sie panisch, beunruhigt über Dereks Verhalten.

Der Ritter schüttelte den Kopf, als sie den anderen folgten.

»Wir können nicht zulassen, daß dein Volk uns hindert, die Kugel nach Sankrist zu bringen.«

»Ich weiß«, sagte Laurana leise. Sie senkte den Kopf und betrat schweigend die Höhle. Ihr war elend zumute.

Die anderen waren in wenigen Momenten bereit. Dann stand Derek im Eingang, wütend, und musterte Laurana ungeduldig.

»Geh vor«, sagte sie ihm, sie wollte nicht, daß er sie weinen sah. »Ich komme nach.«

Derek ging sofort. Theros, Sturm und die anderen verließen langsamer die Höhle und warfen Laurana nervöse Blicke zu.

»Geht vor«, wiederholte sie. Sie mußte einen Moment allein sein. Aber sie konnte nur an Dereks Hand an seinem Schwert denken. »Nein!« sagte sie sich streng. »Du wirst nicht gegen dein Volk kämpfen. An dem Tag, an dem das passiert, werden die Drachen gesiegt haben. Du wirst dein Schwert als erste niederlegen...«

Hinter ihrem Rücken hörte sie etwas. Sie wirbelte herum, ihre Hand fuhr instinktiv zum Schwert, dann stockte sie.

»Silvara?« fragte sie erstaunt, als sie das Mädchen im Schatten sah. »Ich dachte, du wärst draußen. Was machst du da?«

Laurana ging schnell zu der Stelle, wo Silvara in der Dunkelheit gekniet hatte und etwas auf dem Höhlenboden getan hatte.

Die Wild-Elfe erhob sich schnell.

»N...nichts«, murmelte Silvara. »Ich habe nur meine Sachen zusammengesucht.«

Hinter Silvara auf dem kalten Boden glaubte Laurana die Kugel der Drachen gesehen zu haben, ihre Kristalloberfläche glänzte in einem seltsamen wirbelnden Licht. Aber bevor sie genauer hinsehen konnte, hatte Silvara schnell ihren Umhang über die Kugel fallen lassen.

»Komm, Laurana«, sagte Silvara, »wir müssen uns beeilen. Es tut mir leid, wenn ich so langsam...«

»Gleich«, sagte Laurana abweisend. Sie wollte an der Wild-Elfe vorbeigehen. Silvaras Hand klammerte sich an ihren Arm.

»Wir müssen uns beeilen!« sagte sie, in ihrer leisen Stimme lag eine Spur von Härte. Ihr Griff an Lauranas Arm war schmerzhaft, selbst durch den dicken Fellumhang.

»Laß mich los«, sagte Laurana kühl und starrte das Mädchen an, ihre grünen Augen zeigten weder Furcht noch Wut. Silvara ließ ihre Hand los und senkte ihren Blick.

Laurana ging zum hinteren Teil der Höhle. Sie sah nach unten, konnte aber nichts erkennen, was einen Sinn ergeben würde. Einige Zweige und verkohltes Holz, einige Steine, aber sonst nichts. Falls das ein Zeichen sein sollte, dann war es ein sehr ungeschicktes. Laurana trat mit ihren Stiefeln dagegen und stieß die Steine und die Hölzchen um. Dann drehte sie sich um und nahm Silvaras Arm.

»Nun«, sagte Laurana in ruhigem, ausgeglichenem Ton.

»Was auch immer du für eine Botschaft für deine Freunde hinterlassen wolltest, sie wird schwierig zu entziffern sein.«

Laurana war auf fast jede Reaktion des Mädchens gefaßt Wut, Schamgefühl, erwischt worden zu sein. Sie erwartete sogar einen Angriff. Aber Silvara begann zu zittern. Ihre Augen als sie Laurana anstarrte – waren bittend, fast klagend. Einen Moment lang versuchte Silvara zu sprechen, aber sie konnte nicht. Sie schüttelte den Kopf, riß sich aus Lauranas Griff frei und lief nach draußen.

»Beeil dich, Laurana!« rief Theros mürrisch.

»Ich komme!« antwortete sie und blickte auf den Höhlenboden. Sie überlegte, ob sie die Gegenstände weiter untersuchen sollte, aber es blieb keine Zeit mehr.

Vielleicht bin ich zu mißtrauisch gegenüber dem Mädchen und das ohne Grund, dachte Laurana mit einem Seufzen, als sie aus der Höhle eilte. Aber dann hielt sie so plötzlich an, daß Theros, der die Nachhut bildete, mit ihr zusammenstieß. Er faßte sie am Arm.

»Alles in Ordnung?« fragte er.

»J...ja«, antwortete Laurana.

»Du siehst blaß aus. Hast du etwas gesehen?«

»Nein. Mir geht es gut«, sagte Laurana eilig und ging weiter.

Was für ein Dummkopf bin ich doch gewesen! Was für Dummköpfe sind wir alle!

Noch einmal sah sie deutlich vor ihrem geistigen Auge, wie Silvara sich erhob und ihren Umhang über die Kugel der Drachen fallen ließ. Die Kugel der Drachen, die mit einem seltsamen Licht strahlte!

Sie wollte gerade Silvara nach der Kugel fragen, als ihre Gedanken plötzlich abgelenkt wurden. Ein Pfeil zischte durch die Luft und bohrte sich in einen Baum dicht neben Dereks Kopf.

»Elfen! Feuerklinge, Angriff!« schrie der Ritter und zog sein Schwert.

»Nein!« Laurana lief nach vorn und packte seinen Schwertarm. »Wir werden nicht kämpfen. Es wird kein Töten geben!«

»Du bist verrückt!« schrie Derek. Wütend riß er sich von Laurana los und schob sie nach hinten zu Sturm.

Ein weiterer Pfeil zischte vorbei.

»Sie hat recht!« sagte Silvara. »Wir können sie nicht bekämpfen. Wir müssen zum Paß! Dort können wir sie aufhalten.«

Ein anderer Pfeil traf das Kettenhemd, das Derek über seiner Ledertunika trug. Er zog ihn verärgert heraus.

»Sie wollen nicht töten«, fügte Laurana hinzu. »Wenn sie es wollten, wärst du schon längst tot. Wir müssen laufen. Wir können hier sowieso nicht kämpfen.« Sie zeigte auf den dichten Wald. »Am Paß können wir uns besser verteidigen.«

»Steck dein Schwert weg, Derek«, sagte Sturm und zog seine Klinge. »Oder du wirst erst gegen mich kämpfen müssen.«

»Du bist ein Feigling, Feuerklinge!« schrie Derek, seine Stimme bebte vor Zorn. »Du rennst vor dem Feind weg!«

»Nein«, antwortete Sturm kühl, »ich renne vor meinen Freunden weg.« Der Ritter hielt sein Schwert kampfbereit.

»Beweg dich, Kronenhüter, oder die Elfen werden zu spät kommen, um dich als Gefangenen festzunehmen.«

Wieder flog ein Pfeil direkt an Derek vorbei. Der Ritter, dessen Gesicht vor Wut fleckig wurde, steckte sein Schwert weg, drehte sich um und verschwand auf dem Pfad. Aber zuvor warf er Sturm einen solch feindseligen Blick zu, daß Laurana erbebte.

»Sturm...«, begann sie, aber er faßte sie nur am Ellbogen und schob sie vorwärts. Sie kletterten schnell. Hinter sich konnten sie Theros durch den Schnee stapfen hören, gelegentlich hielt er an, um einen Findling nach den Elfen hinunterzustoßen. Bald hörte es sich an, als ob die gesamte Bergseite den steilen Pfad nach unten glitt, und der Pfeilregen hörte auf.

»Aber das ist nur kurzfristig«, sagte der Schmied, als er Sturm und Laurana einholte. »Das wird sie nicht lange aufhalten.«

Laurana konnte nicht antworten. Ihre Lungen schmerzten.

Bunte Sterne flimmerten vor ihren Augen. Sie war nicht die einzige, die litt. Sturms Atem rasselte durch seine Kehle. Sein Griff, mit dem er ihren Arm hielt, wurde schwächer, und seine Hand zitterte. Selbst der starke Schmied keuchte wie ein durchgebranntes Pferd. Als sie um einen großen Fels bogen, fanden sie den Zwerg auf seinen Knien hockend vor, Tolpan versuchte vergeblich, ihn hochzuziehen.

»Muß... ausruhen...«, sagte Laurana mit schmerzender Kehle.

Sie wollte sich hinsetzen, als kräftige Hände nach ihr griffen.

»Nein!« drängte Silvara. »Nicht hier! Nur noch ein paar Meter! Komm! Halte durch!«

Die Wild-Elfe zog Laurana vorwärts. Verschwommen nahm sie wahr, daß Sturm dem stöhnenden und fluchenden Flint auf die Füße half. Theros und Sturm zogen gemeinsam den Zwerg mit sich. Tolpan stolperte hinterher, zu müde, um zu quasseln.

Schließlich erreichten sie die Spitze des Passes. Laurana fiel in den Schnee, es war ihr einerlei, was geschehen würde. Die anderen sanken neben ihr auf den Boden, alle außer Silvara, die nach unten starrte.

Woher hat sie diese Stärke? dachte Laurana zwischen zwei Schmerzwellen. Aber sie war zu erschöpft, sich die Frage zu beantworten, sich zu sorgen, ob die Elfen sie fanden oder nicht.

Silvara wandte ihnen ihr Gesicht zu.

»Wir müssen uns aufteilen«, sagte sie entschieden.

Laurana starrte sie verständnislos an.

»Nein«, begann Gilthanas und versuchte erfolglos, auf die Beine zu kommen.

»Hört mir zu«, sagte Silvara und kniete nieder. »Die Elfen sind zu dicht hinter uns. Sie werden uns sicher fassen, und wir werden entweder kämpfen oder uns ergeben müssen.«

»Kämpfen«, murmelte Derek wild.

»Es gibt einen besseren Weg«, zischte Silvara. »Du, Ritter, mußt die Kugel der Drachen allein nach Sankrist bringen! Wir werden die Verfolger ablenken.«

Einen Moment lang sprach niemand. Alle starrten Silvara stumm an, überdachten diese neue Möglichkeit. Derek hob den Kopf, seine Augen strahlten. Laurana warf Sturm einen beunruhigten Blick zu.

»Ich bin nicht der Meinung, daß einer allein solch eine schwere Verantwortung übernehmen sollte«, sagte Sturm, sein Atem kam zögernd. »Mindestens zwei von uns sollten gehen.«

»Du meinst dich wohl, Feuerklinge?« fragte Derek wütend.

»Ja, natürlich, Sturm sollte gehen«, sagte Laurana, »wenn überhaupt jemand.«

»Ich kann eine Karte über den Weg durch die Berge zeichnen«, sagte Silvara eifrig. »Er ist nicht schwierig. Der Außenposten der Ritter ist nur einen Zweitagesmarsch von hier entfernt.«

»Aber wir können nicht fliegen«, protestierte Sturm. »Was ist mit unseren Spuren? Die Elfen werden sicher erkennen, daß wir uns getrennt haben.«

»Eine Lawine«, schlug Silvara vor. »Als Theros die Felsbrocken hinter uns runterstieß, ist mir diese Idee gekommen.«

Sie blickte auf. Sie folgten ihrem Blick. Schneebedeckte Wipfel ragten über ihnen hoch, der Schnee hing über die Ränder.

»Ich kann mit meiner Magie eine Lawine auslösen«, sagte Gilthanas langsam. »Es wird die Spuren von allen verwischen.«

»Nicht ganz«, warnte Silvara. »Unsere müssen wiedergefunden werden – obwohl sie das natürlich nicht mehr sollen. Wir wollen ja, daß sie uns folgen.«

»Aber wohin gehen wir?« fragte Laurana. »Ich habe nicht vor, ziellos durch die Wildnis zu laufen.«

»Ich... ich kenne einen Ort.« Silvara stammelte, sah nach unten. »Er ist geheim, nur meinem Volk bekannt. Ich werde euch dorthin führen.« Sie klatschte in die Hände. »Bitte, wir müssen uns beeilen. Es bleibt uns nicht viel Zeit!«

»Ich werde die Kugel nach Sankrist bringen«, sagte Derek, »und ich werde allein gehen. Sturm sollte bei der Gruppe bleiben. Ihr werdet einen Krieger brauchen.«

»Wir haben Krieger«, sagte Laurana. »Theros, mein Bruder, der Zwerg. Auch ich habe Kampferfahrungen...«

»Und ich«, piepste Tolpan.

»Und der Kender«, fügte Laurana grimmig hinzu. »Außerdem wird es nicht zum Blutvergießen kommen.« Ihre Augen richteten sich auf Sturms besorgtes Gesicht, und sie fragte sich, was er wohl dachte. Ihre Stimme wurde weicher. »Die Entscheidung liegt natürlich bei Sturm. Er muß das tun, was er für richtig hält, aber ich meine, er sollte Derek begleiten.«

»Ich stimme zu«, murmelte Flint. »Denn wir sind es nicht, die sich in Gefahr begeben werden. Wir werden ohne die Kugel der Drachen sicherer sein. Es ist die Kugel, die die Elfen wollen.«

»Ja«, pflichtete Silvara mit leiser Stimme bei. »Wir werden ohne die Kugel sicherer sein. Ihr werdet in Gefahr sein.«

»Dann steht meine Entscheidung fest«, sagte Sturm. »Ich gehe mit Derek.«

»Und wenn ich dir befehle, zurückzubleiben?« verlangte Derek zu wissen.

»Du hast keine Macht über mich«, sagte Sturm. »Hast du es vergessen? Ich bin kein Ritter.«

Eine schmerzliche, tiefe Stille entstand. Derek starrte Sturm aufmerksam an.

»Nein«, sagte er, »und wenn es in meiner Macht liegt, wirst du auch nie einer werden!«

Sturm zuckte zusammen, als hätte Derek ihm einen Schlag versetzt. Dann erhob er sich schwer seufzend.

Derek hatte bereits begonnen, sein Gepäck zusammenzusuchen. Sturm bewegte sich langsamer und packte sein Zeug mit nachdenklicher Bedachtsamkeit. Laurana stand auf und ging zu Sturm.

»Hier«, sagte sie und griff in ihren Rucksack. »Ihr werdet Lebensmittel brauchen...«

»Du könntest mit uns kommen«, sagte Sturm leise, während sie ihre Vorräte aufteilte. »Tanis weiß, daß wir uns auf dem Weg nach Sankrist befinden. Er wird auch versuchen, dorthin zu kommen.«

»Du hast recht«, sagte Laurana, ihre Augen strahlten auf.

»Vielleicht wäre das eine gute Idee...« Dann gingen ihre Augen zu Silvara. Die Wild-Elfe hielt die Kugel der Drachen, die immer noch in den Umhang gehüllt war. Silvaras Augen waren geschlossen, als ob sie mit einem unsichtbaren Geist in Kontakt stünde. Seufzend schüttelte Laurana den Kopf. »Nein, ich muß bei ihr bleiben, Sturm«, sagte sie. »Irgend etwas stimmt nicht. Ich verstehe es nicht...«, sie brach ab, unfähig, ihre Gedanken zu artikulieren. »Was ist mit Derek?« fragte sie statt dessen.

»Warum besteht er so sehr darauf, allein zu gehen? Der Zwerg hat recht in bezug auf die Gefährlichkeit. Wenn die Elfen euch ohne uns fangen, werden sie nicht zögern, euch zu töten.«

Sturms Miene war verbittert. »Das fragst du noch? Lord Derek Kronenhüter kehrt allein zurück aus schrecklichen Gefahren und trägt mit sich die begehrte Kugel der Drachen...« Sturm zuckte die Schultern.

»Aber es steht so viel auf dem Spiel«, protestierte Laurana.

»Du hast recht, Laurana«, sagte Sturm barsch. »Es steht eine Menge auf dem Spiel. Mehr als du ahnst – die Führerschaft der Ritter von Solamnia. Ich kann es jetzt nicht erklären...«

»Nun komm schon, Feuerklinge, falls du kommst!« schnarrte Derek.

Sturm nahm die Lebensmittel und verstaute sie in seinem Rucksack. »Leb wohl, Laurana«, sagte er und verbeugte sich mit jener Ritterlichkeit, die all sein Handeln kennzeichnete.

»Leb wohl, Sturm, mein Freund«, flüsterte sie und legte ihre Arme um den Ritter.

Er hielt sie fest und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn.

»Wir werden die Kugel weisen Männern übergeben. Das Treffen von Weißstein wird bald einberufen«, sagte er. »Die Elfen werden eine Einladung erhalten, denn sie sind beratende Mitglieder. Du mußt so schnell wie möglich nach Sankrist kommen, Laurana. Deine Anwesenheit wird notwendig sein.«

»Ich werde dort sein, wenn die Götter es wollen«, sagte Laurana, ihre Augen wanderten zu Silvara, die Derek die Kugel der Drachen aushändigte. Ein Ausdruck unbeschreiblicher Erleichterung stand in Silvaras Gesicht, als Derek sich wegdrehte.

Sturm verabschiedete sich, dann verschwand er hinter Derek im Schnee. Die Gefährten sahen Licht aufblitzen, als die Sonne auf seinen Schild fiel.

Plötzlich trat Laurana einen Schritt nach vorn. »Wartet!« schrie sie. »Ich muß sie aufhalten. Sie sollten auch die Drachenlanze mitnehmen.«

»Nein!« rief Silvara und rannte hinter Laurana her, um ihr den Weg zu versperren.

Wütend wollte Laurana das Mädchen beiseite schieben, als sie in Silvaras Gesicht blickte.

»Was tust du, Silvara?« fragte Laurana. »Warum schickst du sie weg? Warum bist du so daran interessiert, uns zu trennen? Warum gibst du ihnen die Kugel und nicht die Lanze...?«

Silvara antwortete nicht. Sie zuckte einfach die Achseln und starrte Laurana mit blauen Augen an, die dunkler als die Nacht waren. Laurana spürte ihren Willen von diesen blauen Augen aufgesogen. Sie erinnerte sich ängstlich an Raistlin.

Auch Gilthanas starrte Silvara mit einem verwirrten und besorgten Gesichtsausdruck an. Theros stand grimmig und ernst da, warf Laurana einen Blick zu, als ob er ihre Zweifel zu teilen begann. Aber sie waren nicht in der Lage, sich zu bewegen.

Sie standen völlig unter Silvaras Bann. Was hatte sie mit ihnen getan? Sie konnten nur dastehen und die Wild-Elfe anstarren, als sie langsam zu Laurana ging, die erschöpft ihr Gepäck fallen gelassen hatte. Silvara beugte sich und packte das Stück gesplittertes Holz aus. Dann hob sie es hoch in die Luft.

Sonnenlicht blitzte auf Silvaras Silberhaar.

»Die Drachenlanze bleibt bei mir«, sagte Silvara. Dann warf sie der verzauberten Gruppe einen Blick zu und fügte hinzu: »So wie ihr.«

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