16 Fluß der Toten. Die Legende vom silbernen Drachen

Die Nacht war still und kalt. Gewitterwolken verbargen das Licht der Monde und der Sterne. Es kam kein Regen auf, kein Wind, nur ein bedrückendes Gefühl des Wartens. Laurana spürte, daß die ganze Natur wachsam, aufmerksam, ängstlich war. Und hinter ihr schliefen die Elfen, in das Netz ihrer eigenen nichtigen Ängste und Haßgefühle eingehüllt. Welch schreckliche geflügelte Kreatur würde aus dieser Schutzhülle hervorbrechen, fragte sie sich.

Die Gefährten hatten wenig Schwierigkeiten, an den Elfenwachen vorbeizuschlüpfen. Die Wachen, die Theros erkannten, erhoben sich und plauderten mit ihm, während die anderen durch den Wald schleichen konnten. Sie erreichten den Fluß im Morgengrauen.

»Und wie kommen wir jetzt rüber?« fragte der Zwerg und starrte düster auf das Wasser. »Ich halte nicht viel von Booten, aber sie sind besser als zu schwimmen.«

»Das dürfte kein Problem sein.« Theros wandte sich an Laurana und sagte: »Frag deine kleine Freundin«, und nickte in Silvaras Richtung.

Überrascht blickten Laurana und die anderen die Wild-Elfe an. Silvara errötete vor Verlegenheit über die vielen Augen, die auf ihr ruhten, und senkte ihren Kopf. »Kargai Sargaron hat recht«, murmelte sie. »Wartet hier im Schatten der Bäume.«

Sie verließ die Gefährten und rannte leichtfüßig zum Flußufer, mit einer wilden, freien Anmut, bezaubernd zu beobachten. Laurana bemerkte Gilthanas' Blick, der auf der Wild-Elfe ruhte.

Silvara legte ihre Finger an die Lippen und ahmte den Ruf eines Vogels nach. Sie wartete einen Moment, dann wiederholte sie den Ton dreimal. Nach kurzer Zeit wurde ihr Ruf beantwortet und schallte vom gegenüberliegenden Ufer des Flusses über das Wasser.

Zufrieden kehrte Silvara zur Gruppe zurück. Laurana sah, daß die Augen des Mädchens an Gilthanas hingen, obwohl sie mit Theros sprach. Als Silvara Gilthanas' Blick bemerkte, errötete sie und sah zu Theros.

»Kargai Sargaron«, sagte sie hastig, »mein Volk kommt, aber du solltest dabei sein, wenn ich ihnen die Situation erkläre.«

Silvaras blaue Augen – Laurana konnte sie jetzt deutlich im Morgenlicht erkennen – wanderten zu Sturm und Derek. Die Wild-Elfe schüttelte leicht den Kopf. »Sie werden nicht erfreut sein, diese Menschen in unserem Land vorzufinden, Elfen leider auch nicht«, sagte sie mit einem entschuldigenden Blick zu Laurana und Gilthanas.

»Ich werde mit ihnen reden«, sagte Theros. Er blickte über den See und machte Zeichen. »Da kommen sie.«

Laurana sah zwei schwarze Umrisse auf dem himmelgrauen Fluß gleiten. Die Kaganesti müssen dort ständig Wache halten, wurde ihr klar. Sie haben Silvaras Ruf erkannt. Merkwürdig daß ein Sklave so viel Freiheit hat. Wenn Flucht so einfach war, warum blieb Silvara dann bei den Silvanesti? Es ergibt keinen Sinn – oder Flucht war nicht ihr Ziel.

»Was bedeutet Kargai Sargaron?« fragte sie Theros.

»Der mit dem Silberarm«, antwortete Theros lächelnd.

»Sie scheinen dir zu vertrauen.«

»Ja. Ich erzählte dir, daß ich einen Großteil meiner Zeit mit Wandern verbracht habe. Das ist nicht ganz richtig. Ich habe viel Zeit bei Silvaras Volk verbracht.« Das staubige Gesicht des Schmieds verzog sich finster. »Ich meine es nicht respektlos, Elfenlady, aber du hast keine Vorstellung, was für Härten dein Volk über diese Wilden bringt: Sie erlegen sein Wild oder vertreiben es, verderben es mit Gold, Silber und Stahl.« Theros seufzte wütend. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich zeigte ihnen, wie man Jagdwaffen und Werkzeug schmiedet. Aber der Winter wird lang und hart werden, fürchte ich. Bereits jetzt ist das Wild knapp. Wenn es darum geht, entweder zu verhungern oder die anderen Elfenrassen zu beseitigen...«

»Wenn ich hierbliebe«, murmelte Laurana, »könnte ich vielleicht helfen...« Dann wurde ihr klar, daß das lächerlich war.

Was konnte sie schon tun? Nicht einmal von ihrem eigenen Volk wurde sie akzeptiert!

»Du kannst nicht gleichzeitig überall sein«, sagte Sturm.

»Die Elfen müssen ihre eigenen Probleme lösen, Laurana. Du machst das Richtige.«

»Ich weiß«, erwiderte sie seufzend. Sie drehte ihren Kopf und sah zurück auf das Qualinesti-Lager. »Ich war genauso wie sie, Sturm«, sagte sie bebend. »Meine wunderschöne, winzige Welt drehte sich so lange Zeit um mich, daß ich dachte, ich wäre der Mittelpunkt des Universums. Ich lief Tanis hinterher, weil ich mir sicher war, daß ich ihn dazu bringen könnte, mich zu lieben. Warum sollte es nicht so sein? Alle taten es. Und dann entdeckte ich, daß sich die Welt nicht um mich drehte. Sie kümmerte sich überhaupt nicht um mich! Ich sah Elend und Tod. Ich war gezwungen zu töten«, sie starrte auf ihre Hände, »oder ich wäre getötet worden. Ich habe wahre Liebe gesehen. So wie bei Flußwind und Goldmond, Liebe, die bereit ist, alles zu opfern – selbst das Leben. Ich fühlte mich kleinlich und winzig. Und so erscheint mir jetzt mein Volk. Kleinlich und winzig. Ich habe früher geglaubt, sie wären vollkommen, aber jetzt verstehe ich, wie Tanis sich gefühlt haben muß – und warum er weggegangen ist.«

Die Boote der Kaganesti hatten das Ufer erreicht. Silvara und Theros gingen zu ihnen, um mit den Elfen zu reden. Auf ein Zeichen von Theros hin traten die Gefährten aus den Schatten der Bäume. Zuerst schien keine Hoffnung zu bestehen. Die Elfen redeten in ihrem seltsamen ungehobelten Dialekt, dem Laurana nur schwer folgen konnte. Offensichtlich weigerten sie sich strikt, etwas für die Gruppe zu tun.

Dann ertönten Signalhörner hinter ihnen aus den Wäldern.

Gilthanas und Laurana sahen sich besorgt an. Theros blickte zurück und zeigte mit seinem Silberfinger drängend auf die Gruppe, dann legte er seine Hand an seine Brust – anscheinend bot er an, für die Gefährten geradezustehen. Wieder erklangen die Hörner. Silvara fügte ihre eigenen Schwüre hinzu. Schließlich erklärten sich die Kaganesti einverstanden, obwohl sie keineswegs erfreut schienen.

Die Gefährten eilten zum Wasser, allen war klar, daß ihr Verschwinden bemerkt worden und die Verfolgung im Gange war.

Einer nach dem anderen trat vorsichtig in die Boote; es waren ausgehöhlte Baumstämme. Alle, mit Ausnahme von Flint, der stöhnte und sich auf den Boden warf, seinen Kopf schüttelte und in der Zwergensprache fluchte. Sturm beäugte ihn sorgenvoll, befürchtete eine Wiederholung des Vorfalls vom Krystalmir-See, als der Zwerg glattweg abgelehnt hatte, ein Boot zu besteigen. Es war jedoch Tolpan, der den murrenden Zwerg zog und schließlich auf die Füße brachte.

»Wir machen aus dir noch einen Matrosen«, sagte der Kender fröhlich und schlug Flint mit seinem Hupak in den Rücken.

»Das werdet ihr nicht! Und hör auf, mich mit diesem Ding zu schlagen!« schnaufte der Zwerg. Als er das Ufer erreicht hatte, hielt er inne und fummelte nervös an einem Stück Holz. Tolpan hüpfte in ein Boot, stand erwartungsvoll da und streckte ihm eine Hand entgegen.

»Zum Henker, Flint, komm ins Boot!« befahl Theros.

»Sag mir nur eins«, sagte der Zwerg und schluckte. »Warum nennen sie ihn den Fluß der Toten?«

»Das wirst du bald sehen«, grunzte Theros. Er streckte seine starke, schwarze Hand aus und riß ihn vom Ufer und ließ ihn wie einen Kartoffelsack ins Boot fallen. »Wir können los«, sagte der Schmied zu den Wild-Elfen.

Das Holzboot wurde von der Strömung erfaßt und steuerte geschwind nach Westen. Bald waren die von Bäumen gesäumten Ufer verschwunden, und die Gefährten kauerten sich in die Boote, als der kalte Wind ihre Gesichter durchpeitschte und ihnen den Atem raubte. Entlang der südlichen Küste, an der die Qualinesti lebten, machten sie kein Lebenszeichen aus. Aber Laurana konnte flüchtig schattenartige Gestalten an den Bäumen an der nördlichen Küste erkennen. Ihr wurde klar, daß die Kaganesti nicht so naiv waren – sie beobachteten ihre Vettern ganz genau. Sie fragte sich, wie viele Kaganesti, die als Sklaven lebten, in Wirklichkeit Kundschafter waren. Ihre Augen gingen zu Silvara.

Die Strömung trieb sie schnell zu einer Flußgabelung, an der zwei Ströme aufeinandertrafen. Einer kam aus dem Norden, der andere – der Fluß, auf dem sie fuhren – aus dem Osten. Beide verschmolzen zu einem riesigen Strom, der im Süden in das Meer mündete. Plötzlich machte Theros ein Zeichen.

»Dort, Zwerg, ist deine Antwort«, sagte er feierlich.

Auf dem anderen Flußzweig trieb ein Boot von Norden heran.

Zuerst dachten sie, es hätte sich aus seiner Vertäuung gelöst, denn sie konnten niemanden sehen. Dann erkannten sie jedoch, daß es zu tief im Wasser lag, um leer zu sein. Die Wild-Elfen verlangsamten ihre Boote, ruderten sie in seichtes Wasser, hielten sie fest und senkten ihre Köpfe in stummer Andacht.

Und dann wußte Laurana Bescheid.

»Ein Bestattungsboot«, murmelte sie.

»Ja«, bestätigte Theros mit traurigen Augen. Das Boot trieb vorbei. Im Inneren konnten sie den Körper eines jungen Wild-Elfen erkennen, nach seiner groben Lederrüstung zu urteilen ein Krieger. Seine Hände waren über seine Brust gelegt und hielten ein eisernes Schwert umklammert. Ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen lagen an seiner Seite.

»Jetzt weißt du, warum er Thon-Tsalarian, der Fluß der Toten, genannt wird«, sagte Silvara mit ihrer leisen melodischen Stimme. »Seit Jahrhunderten gibt mein Volk die Toten dem Meer zurück, aus dem wir gekommen sind. Dieser uralte Brauch meines Volkes wurde ein bitterer Streitpunkt zwischen den Kaganesti und unseren Vettern.« Ihre Augen wanderten zu Gilthanas. »Dein Volk betrachtet es als eine Entweihung des Flusses. Sie wollen uns zwingen, damit aufzuhören.«

»Eines Tages wird der Körper, der auf dem Fluß treibt, ein Qualinesti oder ein Silvanesti sein, mit einem Kaganesti-Pfeil in der Brust«, sagte Theros voraus. »Dann wird es Krieg geben.«

»Ich denke, alle Elfen werden einem tödlicheren Feind gegenüberstehen«, sagte Sturm kopfschüttelnd. »Seht!« zeigte er.

Zu Füßen des toten Kriegers lag ein Schild, der Schild eines Feindes, durch dessen Hand er gestorben war. Als Laurana das schreckliche Symbol auf dem zerbeulten Schild wiedererkannte, hielt sie den Atem an.

»Drakonier!«

Die Reise auf dem Thon-Tsalarian war lang und mühsam, denn die Strömung war schnell und stark. Sogar Tolpan mußte beim Paddeln helfen, verlor aber prompt die Paddel und wäre beinahe ins Wasser gefallen bei dem Versuch, sie wiederzubekommen. Derek konnte Tolpan gerade noch am Gürtel packen und ihn wieder zurückziehen, während die Kaganesti in Zeichensprache zu verstehen gaben, daß sie ihn aus dem Boot werfen würden, wenn er noch mehr Ärger verursachen würde.

Tolpan begann sich bald zu langweilen, blickte ins Wasser und hoffte, einen Fisch zu sehen.

»Wie komisch!« sagte der Kender plötzlich. Er steckte seine kleine Hand ins Wasser. »Seht mal«, sagte er aufgeregt. Seine Hand war mit feinem Silber überzogen und glitzerte im Morgenlicht. »Das Wasser glitzert! Sieh mal, Flint«, rief er dem Zwerg im anderen Boot zu. »Sieh mal ins Wasser...«

»Das werde ich nicht«, sagte der Zwerg mit klappernden Zähnen.

»Du hast recht, Kenderken«, sagte Silvara lächelnd. »Tatsächlich nannten die Silvanesti den Fluß Thon-Sargon, das bedeutet Silberstraße. Es ist wirklich schade, daß das Wetter gerade ungünstig ist. Wenn der Silbermond voll ist, verwandelt sich der Fluß in geschmolzenes Silber und ist wirklich wunderschön.«

»Warum? Was ist die Ursache?« fragte der Kender und studierte voller Entzücken seine glänzende Hand.

»Niemand weiß es, obwohl es bei meinem Volk eine Legende gibt...« Silvara verstummte abrupt und errötete.

»Was für eine Legende?« fragte Gilthanas. Der Elfenlord saß Silvara gegenüber. Sein Paddeln war nicht viel besser als das von Flint, da Gilthanas mehr Interesse an Silvaras Gesicht als an seiner Arbeit zeigte. Immer wenn Silvara aufsah, starrte er sie an. Sie wurde immer verwirrter und nervöser.

»Es wird euch sicherlich nicht interessieren«, sagte sie und starrte über das silbergraue Wasser, um Gilthanas' Blick auszuweichen. »Es ist eine Kindergeschichte über Huma...«

»Huma!« rief Sturm, der hinter Gilthanas saß, seine schnellen, kraftvollen Bewegungen machten die Unfähigkeit des Elfen und des Zwergen wett. »Erzähl uns eure Legende über Huma, Wild-Elfe.«

»Ja, erzähl uns eure Legende«, wiederholte Gilthanas lächelnd.

»Na schön«, sagte sie errötend. Sie räusperte sich und begann: »Wie die Kaganesti sagen, reiste Huma in den letzten Tagen der schrecklichen Drachenkriege durch das Land und suchte bei den Leuten Hilfe. Aber ihm wurde zu seinem Bedauern klar, daß er machtlos war und die Verwüstungen und Zerstörungen durch die Drachen nicht aufhalten konnte. Er betete um eine Antwort zu den Göttern.« Silvara warf Sturm einen kurzen Blick zu, der andächtig nickte.

»Das stimmt«, sagte der Ritter. »Und Paladin erhörte sein Gebet und sandte ihm den weißen Hirsch. Aber niemand weiß, wohin er ihn führte.«

»Mein Volk weiß es«, sagte Silvara leise, »weil der Hirsch Huma nach vielen Prüfungen und Gefahren in ein ruhiges Wäldchen hier in das Land Ergod führte. In diesem Wäldchen traf er eine Frau, wunderschön und tugendhaft, die seinen Schmerz linderte. Huma verliebte sich in sie und sie sich in ihn. Aber viele Monate lang erhörte sie seine Liebesschwüre nicht. Schließlich erwiderte sie Humas Liebe, nicht mehr fähig, das eigene brennende Feuer zu verneinen. Ihr Glück war wie der silberne Mondschein in einer Nacht schrecklicher Dunkelheit.«

Silvara verstummte einen Moment, ihre Augen starrten in die Ferne. Geistesabwesend strich sie über das grobe Gewebe des Umhangs, in dem die Kugel der Drachen zu ihren Füßen lag.

»Fahr fort«, drängte Gilthanas. Der Elfenlord hatte aufgehört so zu tun, als würde er paddeln, und saß einfach nur da, verzaubert von Silvaras wunderschönen Augen, von ihrer wohlklingenden Stimme.

Silvara seufzte. Sie ließ das Gewebe aus ihren Händen gleiten und starrte über das Wasser. »Ihre Freude war nur von kurzer Dauer«, sagte sie leise. »Denn die Frau hatte ein schreckliches Geheimnis – sie war nicht als Frau, sondern als Drache geboren. Nur durch ihre Magie konnte sie die Gestalt einer Frau annehmen. Aber sie konnte Huma nicht länger anlügen. Sie liebte ihn zu sehr. Ängstlich offenbarte sie Huma, wer sie wirklich war und erschien vor ihm eines Nachts in ihrer wahren Gestalt – der Gestalt eines silbernen Drachen. Sie hoffte, er würde sie hassen, sie vernichten, denn ihr Schmerz war so stark, daß sie nicht länger leben wollte. Aber als der Ritter auf das strahlende, wunderbare Wesen blickte, sah er in seinen Augen den edlen Geist der Frau, die er liebte. Ihre Magie verwandelte sie wieder in die Gestalt einer Frau, und sie betete zu Paladin, daß er ihr die menschliche Gestalt für immer geben würde. Sie wollte ihre Magie und die lange Lebensspanne der Drachen aufgeben, um mit Huma zusammenzuleben.«

Silvara schloß die Augen, ihr Gesicht war schmerzvoll verzogen. Gilthanas, der sie beobachtete, fragte sich, warum sie von dieser Legende so berührt war. Er streckte seine Hand aus und berührte sie. Sie zuckte wie ein wildes Tier zusammen und zog sich so schnell zurück, daß das Boot schaukelte.

»Es tut mir leid«, sagte Gilthanas. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Was geschah weiter?«

Silvara holte tief Luft. »Paladin erfüllte ihr den Wunsch – mit einer schrecklichen Bedingung. Er zeigte beiden die Zukunft. Wenn sie ein Drache bleiben würde, könnten sie und Huma die Drachenlanze und die Macht erhalten, die bösartigen Drachen zu besiegen. Wenn sie sterblich werden würde, würden sie und Huma als Mann und Frau zusammenleben, aber die bösartigen Drachen würden auf ewig im Lande bleiben. Huma schwor, daß er alles aufgeben würde – seine Ritterschaft, seine Ehre -, um mit ihr zusammenzubleiben. Aber sie sah das Licht in seinen Augen sterben, als er sprach, und weinend wußte sie die Antwort, die sie geben mußte. Die bösartigen Drachen durften nicht in der Welt bleiben. Und der Silberfluß, so heißt es, entstand durch die Tränen des silbernen Drachen, als Huma sie verließ, um die Drachenlanze zu finden.«

»Nette Geschichte. Ein bißchen traurig«, sagte Tolpan gähnend. »Ist der alte Huma zurückgekommen? Hat die Geschichte ein glückliches Ende?«

»Humas Geschichte endete nicht glücklich«, sagte Sturm und runzelte über den Kender die Stirn. »Aber er ist heldenhaft im Kampf gestorben, den Anführer der Drachen besiegend, obwohl er selbst tödlich verletzt war. Ich habe jedoch gehört«, fügte der Ritter nachdenklich zu, »daß er auf einem silbernen Drachen in die Schlacht ritt.«

»Und wir haben einen Ritter auf einem silbernen Drachen in Eismauer gesehen«, sagte Tolpan lebhaft. »Er hat Sturm den...«

Der Ritter stieß den Kender in den Rücken. Zu spät erinnerte sich Tolpan, daß das ein Geheimnis bleiben sollte.

»Ich weiß nichts von einem silbernen Drachen«, sagte Silvara und zuckte mit den Schultern. »Mein Volk weiß wenig über Huma. Er war ja schließlich ein Mensch. Ich glaube, man erzählt diese Legende nur, weil es den Fluß, den sie so sehr lieben, betrifft, den Fluß, der ihre Toten aufnimmt.«

In diesem Moment zeigte einer der Kaganesti auf Gilthanas und sagte etwas in scharfem Ton zu Silvara. Gilthanas sah sie fragend an, da er nichts verstand. Das Elfenmädchen lächelte.

»Er fragt, ob du als Elfenlord zu erhaben seist, um zu paddeln, weil er – wenn du es bist – seiner Lordschaft erlauben würde, zu schwimmen.«

Gilthanas grinste sie an, sein Gesicht wurde knallrot. Schnell nahm er sein Paddel und setzte seine Arbeit fort.

Trotz all ihrer Bemühungen – und obwohl sogar Tolpan später auch noch einmal paddeln mußte – verlief die Reise gegen den Strom langsam und anstrengend. Nach einer Zeit sichteten sie Land, ihre Muskeln schmerzten von der Anstrengung, ihre Hände waren blutig und mit Blasen bedeckt. Sie konnten nur noch die Boote ans Land ziehen und verstecken.

»Glaubst du, daß wir die Verfolger abgeschüttelt haben?« fragte Laurana Theros erschöpft.

»Beantwortet das deine Frage?« Er zeigte stromabwärts.

In der Abenddämmerung konnte Laurana nicht mehr als einige dunkle Umrisse auf dem Wasser ausmachen. Sie waren noch weit entfernt, aber für Laurana stand fest, daß die Gefährten in der Nacht wenig Ruhe haben würden. Einer der Kaganesti sprach mit Theros und zeigte in dieselbe Richtung. Der Schmied nickte.

»Macht euch keine Sorgen. Bis zum Morgen sind wir sicher. Er sagt, sie müssen auch erst Land sichten. Keiner wagt, in der Nacht auf dem Fluß zu reisen. Nicht einmal die Kaganesti, und sie kennen hier jede Biegung und jeden Baum. Er sagt, er will hier nahe am Fluß ein Lager errichten. Seltsame Kreaturen laufen nachts durch den Wald – Männer mit Echsenköpfen. Morgen werden wir auf dem Fluß Weiterreisen. Aber bald werden wir den Fluß verlassen und an Land weitergehen.«

»Frag ihn, ob sein Volk die Qualinesti aufhalten wird, die uns verfolgen, wenn wir sein Land betreten«, sagte Sturm zu Theros.

Theros wandte sich an den Kaganesti-Elf und redete mit ihm unbeholfen, aber verständlich in der Elfensprache. Der Kaganesti schüttelte den Kopf. Er war eine wild aussehende Kreatur.

Laurana konnte verstehen, wieso ihr Volk dachte, daß sie von den Tieren nur eine Stufe entfernt waren. Sein Gesicht trug Spuren menschlicher Vorfahren. Obwohl er keinen Bart trug das Elfenblut lief zu rein in den Venen der Kaganesti -, erinnerte er Laurana lebhaft an Tanis mit seiner schnellen, entschlossenen Art zu sprechen, seinem starken, muskulösen Körperbau und seinen eindringlichen Gesten. Von Erinnerungen überwältigt, wandte sie sich ab.

Theros übersetzte: »Er sagt, daß die Qualinesti das Protokoll befolgen und den Ältesten um Erlaubnis bitten müssen, das Kaganesti-Land zu betreten, um nach euch zu suchen. Die Ältesten werden wahrscheinlich diese Erlaubnis erteilen. Sie wollen keine Menschen mehr im südlichen Ergod haben so wie ihre Verwandten. In der Tat«, fügte Theros langsam hinzu, »hat er klargemacht, daß er und seine Freunde uns nur helfen, um mir und Silvara einen Gefallen zu erweisen.«

Lauranas Blick ging zu dem Mädchen. Silvara stand am Flußufer und unterhielt sich mit Gilthanas.

Theros sah, wie sich Lauranas Gesicht verhärtete. Als er zu der Wild-Elfe und dem Elfenlord sah, erriet er, warum.

»Merkwürdig, Eifersucht im Gesicht einer zu sehen, die – den Gerüchten nach – weggelaufen ist, um die Geliebte meines Freundes, Tanis, des Halb-Elfs, zu werden«, bemerkte Theros.

»Ich dachte, du würdest dich von deinem Volk unterscheiden, Laurana.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte sie scharf, spürte ihre Haut brennen. »Ich bin nicht Tanis' Geliebte. Obwohl auch das keinen Unterschied machen würde. Ich traue diesem Mädchen einfach nicht. Sie ist, nun, zu eifrig bemüht, uns zu helfen, falls das überhaupt einen Sinn ergibt.«

»Dein Bruder könnte etwas damit zu tun haben.«

»Er ist ein Elfenlord...«, begann Laurana wütend. Dann stockte sie, als ihr bewußt wurde, was sie eigentlich hatte sagen wollen. »Was weißt du über Silvara?« fragte sie statt dessen.

»Wenig«, antwortete Theros und betrachtete Laurana enttäuscht, was sie zornig machte. »Ich weiß, daß sie von ihrem Volk hochverehrt und geliebt wird, besonders wegen ihrer Heilkünste.«

»Und wegen ihrer Kundschafterkünste?« fragte Laurana kühl.

»Diese Leute kämpfen um ihr Überleben. Sie tun, was sie tun müssen«, sagte Theros streng. »Das war wirklich eine nette Rede heute morgen am anderen Ufer, Laurana. Fast hätte ich es geglaubt.«

Der Schmied drehte sich um und ging den Kaganesti bei dem Verbergen der Boote helfen. Laurana biß sich wütend und beschämt auf die Lippen. Hatte Theros recht? War sie eifersüchtig? Betrachtete sie Silvara als Gilthanas nicht wert? Sicherlich war es so, wie Gilthanas Tanis immer betrachtet hatte. War es anders?

Horche auf deine Gefühle, hatte Raistlin ihr gesagt. Das hörte sich gut an, aber zuerst mußte sie ihre Gefühle verstehen! Hatte sie aus ihrer Liebe zu Tanis etwas gelernt?

Ja, entschied Laurana schließlich, als sich ihre Gedanken klärten. Es stimmte schon, was sie Theros gesagt hatte. Wenn etwas um Silvara war, dem sie nicht traute, hatte es nichts mit der Tatsache zu tun, daß sich Gilthanas zu dem Mädchen hingezogen fühlte. Es war etwas Unbestimmtes. Laurana tat es leid, daß Theros sie mißverstanden hatte, aber sie würde sich an Raistlins Rat halten und ihren Instinkten vertrauen.

Sie würde Silvara im Auge behalten.

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