7 »...nicht bestimmt, sich in dieser Welt wiederzusehen.«

Die Gefährten hatten gerade den Marktplatz erreicht, als die erste Drachenschar Tarsis heimsuchte.

Die Gruppe hatte sich von den Rittern getrennt. Es war kein angenehmer Abschied gewesen. Die Ritter hatten versucht, sie zu überzeugen, mit ihnen in die Berge zu entkommen. Als die Gefährten ablehnten, verlangte Derek, daß Tolpan sie begleiten sollte. Tanis war klar, daß Tolpan von den Rittern weglaufen würde, und war wieder gezwungen abzulehnen.

»Nimm den Kender, Sturm, und komm mit uns«, befahl Derek, Tanis ignorierend.

»Ich kann nicht, Herr«, erwiderte Sturm, seine Hand lag auf Tanis' Arm. »Er ist mein Führer, und meine Loyalität gilt zuerst meinen Freunden.«

Dereks Stimme war eiskalt vor Zorn. »Wenn das deine Entscheidung ist«, antwortete er, »kann ich dich nicht aufhalten. Aber es ist nicht gut für dich, Sturm Feuerklinge. Denke daran, daß du kein Ritter bist. Noch nicht. Bete, daß ich nicht dabei bin, wenn das Kapitel über deine Ritterschaft entscheiden muß!«

Sturm wurde leichenblaß. Er warf Tanis einen flüchtigen Seitenblick zu, der versuchte, bei diesen bestürzenden Neuigkeiten sein Erstaunen zu verbergen. Aber es gab keine Zeit zum Nachdenken. Der Klang der Hörner wurde jede Sekunde lauter. Die Ritter und die Gefährten trennten sich; die Ritter steuerten auf ihr Lager in den Bergen zu, die Gefährten blieben in der Stadt.

Überall standen Stadtbewohner vor ihren Häusern und rätselten über die seltsamen Hörner, die sie nie zuvor gehört hatten und deren Bedeutung sie nicht verstanden. Nur ein Tarsianer verstand. Der Lord in der Ratskammer sprang bei dem Geräusch auf die Füße. Er wirbelte herum und wandte sich an den selbstgefällig aussehenden Drakonier, der hinter ihm im Schatten saß.

»Du hast gesagt, wir würden verschont werden!« sagte der Lord mit zusammengepreßten Zähnen. »Wir sind immer noch in Verhandlungen...«

»Der Drachenfürst ist des Verhandelns müde geworden«, antwortete der Drakonier und unterdrückte ein Gähnen. »Und die Stadt wird verschont werden – nachdem sie ihre Lektion gelernt hat, natürlich.«

Der Kopf des Lords sank in seine Hände. Die anderen Mitglieder des Rats, die nicht ganz verstanden, was passierte, starrten sich entsetzt mit dämmerndem Erkennen an, als sie durch die Finger des Lords Tränen tropfen sahen.

Draußen zeigten sich die ersten roten Drachen am Himmel.

Es wurden Hunderte. Sie flogen in Dreier- oder Fünfergruppen, ihre Flügel glitzerten flammendrot wie die untergehende Sonne. Die Bewohner Tarsis' wußten nur eins: Über ihnen flog der Tod.

Als die Drachen auf die Stadt niederhielten, strömten sie die Drachenangst aus und verbreiteten eine Panik, die tödlicher war als Feuer. Die Leute hatten nur einen Gedanken, als die Schatten der Flügel das sterbende Tageslicht auslöschten Flucht.

Aber es gab keine Flucht.

Nach ihrem ersten Rundflug, wissend, daß sie auf keinen Widerstand stoßen würden, schlugen die Drachen zu. Einer nach dem anderen kreiste und ließ sich vom Himmel fallen. Ihr feuriger Atem entflammte ein Gebäude nach dem anderen. Die flackernden Feuer schufen ihre eigenen Windstürme. Rauchschwaden füllten die Straßen, verwandelten das Zwielicht in mitternächtliche Finsternis. Asche fiel herab wie schwarzer Regen. Schreie des Entsetzens verwandelten sich in Schreie des Todeskampfes, als die Bewohner im lodernden Inferno starben.

Als die Drachen zuschlugen, drängte sich ein Meer von vor Angst wahnsinnigen Menschen durch die lichterloh brennenden Straßen. Nur wenige hatten überhaupt eine Vorstellung, wohin sie liefen. Einige schrien, in den Bergen wäre man sicher, andere rannten zum ehemaligen Hafengebiet, und wieder andere versuchten die Stadttore zu erreichen. Über ihnen flogen die Drachen, verbrannten nach Lust und Laune, töteten zu ihrem Vergnügen.

Das Menschenmeer wälzte sich über Tanis und die Gefährten hinweg, stieß sie in die Straße, wirbelte sie auseinander, warf sie gegen Mauern. Der Rauch würgte sie und ließ sie fast erblinden. Sie kämpften gegen die Drachenangst an, die ihren Verstand zu zerstören drohte.

Die Hitze war so stark, daß ganze Gebäude zusammenfielen.

Tanis fing Gilthanas auf, als der Elf ins Innere eines Gebäudes gestoßen wurde. Er hielt ihn fest und konnte nur hilflos mit ansehen, wie seine Freunde vom Mob weggefegt wurden.

»Zurück zum Wirtshaus!« schrie Tanis. »Wir treffen uns im Wirtshaus!« Aber er wußte nicht, ob sie ihn gehört hatten. Er konnte nur hoffen, daß sie alle versuchen würden, in diese Richtung zu gelangen.

Sturm hielt Alhana in seinen starken Armen, er trug und zog sie halb durch diese Straßen des Todes. Er spähte durch den Ascheregen und versuchte, die anderen zu finden, aber es war hoffnungslos. Und dann begann der verzweifeltste Kampf, den er je geführt hatte. Er stützte Alhana und mußte selber auf den Füßen bleiben, während die furchtbaren menschlichen Wellen immer wieder auf sie einstürzten.

Dann wurde Alhana von dem kreischenden Mob aus seinen Armen gerissen. Sturm warf sich in die Menge, schob und stieß mit seinen gepanzerten Armen und Körper alles beiseite, bis er Alhanas Handgelenke ergriff. Sie war leichenblaß und zitterte vor Angst. Sie hängte sich mit ihrer ganzen Kraft an seinen Arm, und schließlich konnte er sie hochziehen. Ein Schatten kroch über sie. Ein gräßlich kreischender Drachen näherte sich der Straße, die mit Männern, Frauen und Kindern übersät war.

Sturm tauchte in einen Toreingang, zog Alhana mit sich und beschützte sie mit seinem Körper, als der Drache heran war. Flammen loderten auf, die Schreie der Sterbenden gellten herzzerreißend durch die Straße.

»Sieh nicht hin!« flüsterte Sturm Alhana zu und drückte sie eng an sich. Tränen liefen über sein Gesicht. Der Drache flog weiter, und plötzlich war es still, unerträglich still. Nichts bewegte sich.

»Laß uns weitergehen, solange wir noch können«, sagte Sturm mit bebender Stimme. Die beiden stolperten engumschlungen aus dem Tor; ihre Sinne betäubt, konnten sie sich nur noch instinktiv fortbewegen. Schließlich waren sie von neuem gezwungen, Schutz in einem Toreingang zu suchen, da ihnen vom Gestank verkohlten Fleisches und vom Rauch übel und schwindelig war. Einen Moment lang konnten sie sich nur aneinander festhalten, dankbar für den kurzen Aufschub und vom Wissen verfolgt, daß sie in einigen Sekunden auf die Todesstraßen zurückkehren mußten.

Alhana lehnte ihren Kopf an Sturms Brust. Die uralte Rüstung fühlte sich kühl und beruhigend an, und darunter konnte sie sein Herz schlagen hören, schnell, beständig und tröstend.

Die Arme, die sie hielten, waren stark. Seine Hand streichelte ihr schwarzes Haar.

Alhana, keusche Tochter eines strengen und rigiden Volkes, wußte seit langer Zeit, wen sie wann und wo heiraten würde. Es war ein Elfenlord, und sie hatten sich in gegenseitigem Einvernehmen in all den Jahren nie berührt, seitdem diese Verbindung geplant war. Er war bei den anderen geblieben, während Alhana zurückgekehrt war, um ihren Vater zu suchen. Sie war in diese Welt der Menschen gestolpert und von dem Schock völlig benommen. Sie verabscheute sie und war gleichzeitig fasziniert von ihnen. Sie waren so mächtig, ihre Gefühle so roh und ungezähmt. Und gerade als Alhana dachte, sie würde diese Menschen für immer hassen und verachten, mußte das hier passieren.

Alhana sah in Sturms betrübtes Gesicht, sah Stolz, Würde, Strenge, den Wunsch nach Vollkommenheit – einer unerreichbaren Vollkommenheit. Das Mädchen fühlte sich zu diesem Mann hingezogen – zu diesem Menschen. Sich seiner Stärke hingebend, von seiner Anwesenheit beruhigt, empfand sie eine süße, verzehrende Wärme, und plötzlich erkannte sie, daß dieses Feuer für sie eine größere Gefahr bedeutete als die Feuer von tausend und abertausend Drachen.

»Wir gehen besser«, flüsterte Sturm leise, aber zu seiner Verwunderung stieß Alhana ihn von sich.

»Wir trennen uns hier«, sagte sie, ihre Stimme war kalt wie der Nachtwind. »Ich muß zu meiner Herberge zurück. Vielen Dank für deine Begleitung.«

»Was?« fragte Sturm. »Du willst allein gehen? Das ist Wahnsinn.« Er ergriff ihren Arm. »Ich kann nicht zulassen...« Das war, wie ihm klarwurde, ein Fehler, denn sie versteifte sich.

Sie bewegte sich nicht, sondern starrte ihn einfach gebieterisch an, bis er sie freigab.

»Ich habe meine Freunde hier«, sagte sie, »so wie du. Deine Loyalität gilt ihnen. Meine Loyalität gilt den meinen. Unsere Wege trennen sich hier.« Ihr versagte die Stimme, als sie den tiefen Schmerz in Sturms Gesicht sah. Einen Moment lang konnte Alhana es kaum ertragen, und sie fragte sich, ob sie die Kraft haben würde, weiterzumachen. Dann dachte sie an ihr Volk, das auf sie angewiesen war, und faßte sich wieder. »Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit und Eure Hilfe, Ritter, aber ich muß jetzt gehen, solange es noch ruhig ist.«

Sturm starrte sie an, verletzt und verwirrt. Dann verhärtete sich sein Gesicht. »Es war mir eine Ehre, Euch zu Diensten gewesen zu sein, Lady Alhana. Aber Ihr seid immer noch in Gefahr. Erlaubt mir, Euch zu Eurer Herberge zu bringen, dann werde ich Euch nicht länger belästigen.«

»Das ist unmöglich«, antwortete Alhana. »Meine Herberge ist nicht weit entfernt, und meine Freunde warten auf mich. Wir kennen einen Weg aus der Stadt. Vergebt mir, daß ich Euch nicht mitnehme, aber ich kann Menschen nicht vertrauen.«

Sturms braune Augen blitzten auf. Alhana, die neben ihm stand, spürte, wie sein Körper erzitterte. Noch einmal verlor sie fast ihre Entschlossenheit.

»Ich weiß, wo Ihr seid«, sagte sie und schluckte. »Das Wirtshaus zum Roten Drachen. Vielleicht... wenn ich meine Freunde finde... können wir Euch Hilfe anbieten...«

»Macht Euch darüber keine Gedanken.« Sturms Stimme war jetzt genauso kalt wie die ihre. »Und dankt mir nicht. Ich habe nur das getan, was meine Ehre verlangt. Lebt wohl«, sagte er und schritt davon.

Dann fiel ihm etwas ein, und er kehrte um. Er zog die funkelnde Diamantnadel aus seinem Gürtel und legte sie in Alhanas Hand. »Hier«, sagte er. Als er in ihre Augen sah, sah er plötzlich den Schmerz, den sie zu verbergen suchte. Seine Stimme wurde weicher, obwohl er nichts verstand. »Es ehrt mich, daß Ihr mir diesen Edelstein anvertraut habt«, sagte er sanft, »auch wenn es nur für wenige Augenblicke war.«

Die Elfe starrte einen Augenblick den Juwel an, dann begann sie zu zittern. Ihre Augen trafen Sturms Augen, und er sah in ihnen keine Verachtung, wie er erwartet hatte, sondern Mitgefühl. Wieder einmal wunderte sie sich über die Menschen. Alhana neigte ihren Kopf, unfähig, seinen Blick zu ertragen, ergriff seine Hände, legte den Juwel hinein und schloß seine Finger um ihn.

»Behalte ihn«, sagte sie leise. »Wenn du ihn betrachtest, denke an Alhana Sternenwind und wisse, daß auch sie irgendwo an dich denkt.«

Plötzlich flossen Tränen aus Sturms Augen. Er neigte seinen Kopf, unfähig zu sprechen. Dann küßte er den Edelstein und verstaute ihn vorsichtig in seinem Gürtel. Er streckte seine Hände aus, aber Alhana zog sich in den Toreingang zurück, ihr blasses Gesicht abgewandt.

»Bitte geh«, sagte sie. Sturm stand einen Moment unentschlossen da, aber er durfte ihre Bitte nicht abschlagen, das gebot ihm sein Kodex. Der Ritter drehte sich um und war im nächsten Moment im Grauen der Straße verschwunden.

Alhana hatte ihm einen Moment lang nachgesehen, dann legte sich eine verhärtende Schale schützend um sie. »Vergib mir, Sturm«, flüsterte sie. Dann hielt sie inne. »Nein, vergib mir nicht«, sagte sie barsch. »Danke mir.«

Sie schloß ihre Augen, imaginierte ein bestimmtes Bild und sandte eine Nachricht zu den Außenbezirken der Stadt, wo ihre Freunde auf sie warteten, um sie von dieser Welt der Menschen fortzuholen. Als sie ihre telepathische Antwort erhielt, seufzte Alhana auf und begann eifrig den raucherfüllten Himmel abzusuchen.

»Aha«, sagte Raistlin ruhig, als die ersten Hörner durch die Stille des Nachmittags schallten. »Ich habe es euch gesagt.«

Flußwind warf dem Magier einen ärgerlichen Blick zu, während er überlegte, was zu tun sei. Es war eine einfache Sache, die Gruppe vor den Stadtwachen zu beschützen, aber eine ganz andere, sie vor den Drakonierarmeen und Drachen zu bewahren! Flußwinds dunkle Augen schweiften über die Gruppe. Tika hatte sich erhoben, die Hand am Schwert. Das junge Mädchen war mutig und stark, aber nicht waffengeübt. Der Barbar konnte immer noch die Narben an ihren Händen sehen, wo sie sich selbst geschnitten hatte.

»Was ist das?« fragte Elistan mit verdutztem Blick.

»Der Drachenfürst greift die Stadt an«, antwortete Flußwind barsch und versuchte weiter nachzudenken.

Er hörte ein Rasseln. Caramon war aufgestanden, der Krieger wirkte ruhig und gelassen. Das war erleichternd. Obwohl Flußwind Raistlin verabscheute, mußte er zugeben, daß der Magier und sein Kriegerbruder Eisen und Magie wirkungsvoll zu verbinden verstanden. Auch Laurana wirkte beherrscht und entschlossen, aber sie war eine Elfe. Flußwind hatte nie gelernt, Elfen richtig zu vertrauen.

»Verschwindet aus der Stadt, falls wir nicht zurückkehren«, hatte Tanis ihm gesagt. Aber Tanis hatte das jetzt nicht vorausgesehen! Sie würden aus der Stadt gehen, nur um in den Ebenen auf die Armeen des Drachenfürsten zu stoßen. Nun war Flußwind auch klar, wer sie die ganze Zeit über auf ihrer Reise zu diesem, dem Untergang geweihten Ort beobachtet hatte. Er fluchte in seiner Sprache. Doch dann, als die ersten Drachen über der Stadt kreisten, fühlte er Goldmonds Arm. Er sah sie an, sie lächelte – es war das Lächeln der Tochter des Stammeshäuptlings -, und er sah den Glauben in ihren Augen. Den Glauben an die Götter, und den Glauben an ihn. Ihm wurde leichter ums Herz, seine Angst war verschwunden.

Ein Krachen ließ das Gebäude erzittern. Sie konnten von den Straßen das Geschrei und das Zischen der Flammen hören.

»Wir müssen von diesem Stockwerk verschwinden, zurück nach unten«, sagte Flußwind. »Caramon, hole das Schwert des Ritters und die anderen Waffen. Wenn Tanis und die anderen...«, er hielt inne. Er wollte »noch leben« sagen, aber sah dann Lauranas Gesicht. »Wenn Tanis und die anderen entkommen sind, werden sie zurückkommen. Wir warten auf sie.«

»Hervorragende Entscheidung!« zischte der Magier beißend.

»Besonders, da wir sowieso nirgendwohin gehen können!«

Flußwind ignorierte ihn. »Elistan, nimm die anderen mit nach unten. Caramon und Raistlin, bleibt einen Moment hier mit mir. Ich glaube, das beste wird es sein, wenn wir uns hier im Wirtshaus verschanzen. Die Straßen bringen den Tod.«

»Wie lange, glaubst du, können wir das durchhalten?« fragte Caramon.

Flußwind schüttelte den Kopf. »Einige Stunden vielleicht«, gab er kurz zurück.

Die Brüder sahen sich an, beide dachten an die entstellten Leichen, die sie im Dorf Que-Shu gesehen hatten, und an die Zerstörung von Solace.

»Wir werden das nicht überleben«, flüsterte Raistlin.

Flußwind holte tief Atem. »Wir werden ausharren, solange wir können«, sagte er mit leicht bebender Stimme, »aber wenn wir wissen, daß wir nicht mehr können...« Er hielt inne, unfähig weiterzusprechen, mit der Hand am Dolch, dachte er daran, was er dann tun würde.

»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, sagte Raistlin sanft.

»Ich habe Kräuter. Ein wenig davon in einem Glas Wein. Sehr schnell, schmerzlos.«

»Bist du sicher?« fragte Flußwind.

»Vertraue mir«, erwiderte Raistlin. »Ich bin in dieser Kunst erfahren. In der Kunst der Kräuterkunde«, fügte er gewandt hinzu, als er den Barbar zittern sah.

»Wenn ich überlebe«, sagte Flußwind leise, »werde ich ihr... ihnen... das Getränk geben. Wenn nicht...«

»Du kannst mir vertrauen«, wiederholte der Magier.

»Was ist mit Laurana?« fragte Caramon. »Du kennst die Elfen. Sie wird nicht...«

»Überlaß mir das«, wiederholte Raistlin sanft.

Der Barbar starrte den Magier an, das Entsetzen kroch in ihm hoch. Raistlin stand kühl vor ihm, die Arme in den Ärmeln seiner Robe verborgen, seine Kapuze tief über den Kopf gezogen.

Flußwind sah auf seinen Dolch und zog die Alternative in Betracht. Nein, er würde es nicht tun können. Nicht auf diese Weise.

»Nun gut«, sagte er schwer schluckend. Er hielt inne, sich davor fürchtend, nach unten gehen und den anderen ins Gesicht sehen zu müssen. Aber der Lärm des Todes in der Straße wurde immer lauter. Flußwind drehte sich abrupt um und ließ die Brüder stehen.

»Ich werde kämpfend sterben«, sagte Caramon zu Raistlin und versuchte dabei, ganz natürlich zu sprechen. Aber nach den ersten Worten brach die Stimme des Kriegers. »Versprich mir, Raist, du nimmst dieses Zeug, wenn ich... nicht mehr da bin...«

»Dazu besteht keine Notwendigkeit«, sagte Raistlin unbeeindruckt. »Ich habe nicht die Kraft, eine Schlacht dieser Größenordnung durchzustehen. Ich werde in meiner Magie sterben.«

Tanis und Gilthanas kämpften sich durch die in Panik geratene Menge, der stärkere Halb-Elf hielt den Elf fest. Immer wieder mußten sie vor den angreifenden Drachen Schutz suchen.

Gilthanas verstauchte sich das Knie, fiel in einen Türeingang und mußte sich nun hinkend an Tanis' Schulter lehnen.

Der Halb-Elf stieß ein Dankgebet aus, als er das Wirtshaus zum Roten Drachen sah, ein Gebet, das sich in einen Fluch verwandelte, als er die schwarzen Reptiliengestalten sich um den Eingang drängen sah. Er zog Gilthanas, der erschöpft blindlings vorwärtsstolperte, in einen zurückgesetzten Türeingang. »Gilthanas! Das Wirtshaus! Es wird angegriffen!«

Gilthanas starrte ihn verständnislos mit glasigen Augen an.

Dann schien er zu begreifen, was vorging, seufzte und schüttelte den Kopf. »Laurana«, keuchte er und schob sich nach vorn, versuchte, aus dem Türeingang zu taumeln. »Wir müssen zu ihnen.« Er brach in Tanis' Armen zusammen.

»Bleib hier«, sagte der Halb-Elf und half ihm beim Hinsetzen. »Du kannst dich nicht bewegen. Ich werde versuchen, durch eine Hintertür reinzukommen.«

Tanis rannte los, schoß in Türeingänge und wieder heraus, verbarg sich in Ruinen. Er war ungefähr einen Block von dem Wirtshaus entfernt, als er einen heiseren Schrei hörte. Er wandte sich um und sah Flint wild gestikulieren. Tanis stürzte über die Straße.

»Was ist los?« fragte er.. »Warum bist du nicht mit den anderen...« Der Halb-Elf hielt inne. »O nein«, flüsterte er.

Der Zwerg, dessen Gesicht von Asche verschmiert war, in der sich die Spuren von Tränen in langen Streifen abzeichneten, kniete neben Tolpan. Der Kender lag unter einem Balken begraben, der auf die Straße gefallen war. Tolpans Gesicht, ein Gesicht wie das eines reifen Kindes, war aschgrau, seine Haut völlig verschmiert.

»Verdammter hohlköpfiger Kender«, jammerte Flint. »Mußte rumlaufen und ein Haus auf sich fallen lassen.« Die Hände des Zwerges waren aufgerissen und blutig vom Versuch, einen Balken hochzuwuchten, wozu man drei Männer oder einen Caramon benötigt hätte. Tanis legte seine Hand an Tolpans Hals.

Der Puls war sehr schwach.

»Bleib bei ihm!« sagte Tanis unnötigerweise. »Ich gehe zum Wirtshaus und hole Caramon!«

Flint sah erbittert zu ihm hoch, dann blickte er kurz zum Wirtshaus. Beide konnten die Schreie der Drakonier hören, ihre Waffen im Feuerschein aufblitzen sehen. Gelegentlich flackerte ein unnatürliches Licht aus dem Wirtshaus – Raistlins Magie.

Der Zwerg schüttelte den Kopf. Er wußte, Tanis wäre genauso in der Lage, mit Caramon zurückzukehren, wie er fliegen konnte.

Aber Flint brachte ein Lächeln zustande. »Sicher, mein Junge, ich bleibe bei ihm. Leb wohl, Tanis.«

Tanis schluckte, wollte etwas antworten, gab es dann auf und rannte über die Straße.

Raistlin, der so sehr husten mußte, daß er kaum noch stehen konnte, wischte Blut von seinen Lippen und zog einen kleinen schwarzen Lederbeutel aus seinem Gewand. Er hatte noch einen Zauber übrig, aber kaum genügend Energie, um ihn zu werfen. Seine Hände zitterten vor Erschöpfung, als er versuchte, den Inhalt des Beutels in ein Glas Wein zu streuen, den Caramon ihm vor Beginn der Schlacht hatte bringen müssen.

Dann fühlte er eine Hand seine eigene ergreifen. Er sah auf, es war Laurana. Sie nahm den Beutel aus seinen zerbrechlichen Fingern. Ihre Hand war mit dunkelgrünem Drakonierblut befleckt.

»Was ist das?« fragte sie.

»Zutaten für einen Zauber.« Der Magier würgte. »Schütte es in den Wein.«

Laurana gehorchte. Die Mischung löste sich sofort auf.

»Trink es nicht«, warnte der Magier sie, als sein Hustenanfall vorüberging.

Laurana sah ihn an. »Was ist es denn?«

»Ein Schlafmittel«, flüsterte Raistlin, seine Augen glitzerten.

Laurana lächelte sarkastisch. »Du glaubst doch nicht, daß wir heute abend schlafen können?«

»Nicht dieser Art«, antwortete Raistlin und starrte sie intensiv an. »Dieses Mittel täuscht den Tod vor. Der Herzschlag verlangsamt sich stark, die Atmung erlischt fast, die Haut wird kalt und blaß, die Glieder versteifen sich.«

Laurana riß die Augen auf. »Warum...«, begann sie.

»Als letzten Ausweg. Der Feind denkt, du bist tot, läßt dich auf dem Schlachtfeld zurück – wenn du Glück hast. Wenn nicht...«

»Wenn nicht?« half sie nach, ihr Gesicht war leichenblaß.

»Nun, von einigen weiß man, daß sie bei ihrer Beerdigung wach geworden sind«, erwiderte Raistlin kühl. »Aber ich glaube nicht, daß uns das passieren wird.«

Das Atmen fiel ihm nun leichter, er setzte sich hin, duckte sich dabei, weil ein Pfeil über seinen Kopf sauste und neben ihm zu Boden fiel. Dann bemerkte er Lauranas zitternde Hand, und ihm wurde klar, daß sie keineswegs so ruhig war, wie sie immer vorgab.

»Sollen wir das etwa einnehmen?« fragte sie.

»Auf diese Weise werden wir der Drakonier-Folter entgehen.«

»Woher weißt du das?«

»Vertraue mir«, antwortete der Magier mit einem leichten Lächeln.

Laurana sah ihn an und zitterte. Geistesabwesend wischte sie ihre blutbefleckten Finger an ihrer Lederrüstung ab. Das Blut ging nicht weg, aber sie bemerkte es nicht. Ein Pfeil schwirrte an ihr vorbei. Sie zuckte nicht einmal zusammen, sie starrte ihn nur benommen an.

Caramon stolperte aus dem Rauch des brennenden Schankraumes. Ein Pfeil hatte ihn an der Schulter getroffen; sein rotes Blut bildete einen merkwürdigen Kontrast zum grünen Blut seiner Feinde.

»Sie brechen durch die Vordertür«, sagte er schweratmend.

»Flußwind hat uns hierhergeschickt.«

»Horch!« warnte Raistlin. »Das ist nicht die einzige Stelle, wo sie durchbrechen!« An der Tür, die von der Küche zum hinteren Ausgang führte, hörte man ein splitterndes Geräusch.

Caramon und Laurana wirbelten kampfbereit herum, gerade als die Tür einstürzte. Eine große dunkle Gestalt trat ein.

»Tanis!« schrie Laurana. Sie steckte ihr Schwert weg und rannte auf ihn zu.

»Laurana!« keuchte er. Er fing sie in seinen Armen auf und hielt sie eng an sich gedrückt, schluchzte fast vor Erleichterung. Dann schlang Caramon seine riesigen Arme um beide.

»Wie geht es allen hier?« fragte Tanis, als er wieder sprechen konnte.

»So weit, so gut«, sagte Caramon, als er hinter Tanis spähte.

Sein Gesicht fiel ein, als er sah, daß der Halb-Elf allein war.

»Wo sind...«

»Sturm ist verloren«, sagte Tanis müde. »Flint und Tolpan sind auf der anderen Straßenseite, der Kender ist von einem Balken begraben. Gilthanas ist ungefähr zwei Blöcke weiter. Er ist verletzt«, sagte Tanis zu Laurana, »nicht schlimm, aber er konnte nicht mehr weiterlaufen.«

»Willkommen, Tanis«, flüsterte Raistlin hustend. »Du bist rechtzeitig gekommen, um mit uns zu sterben.«

Tanis sah auf den Becher, erblickte den schwarzen Beutel daneben, dann starrte er Raistlin in plötzlichem Entsetzen an.

»Nein«, sagte er entschlossen. »Wir werden nicht sterben. Zumindest nicht wie...« Er brach abrupt ab. »Holt alle her.«

Caramon schleppte sich weg und schrie aus vollem Halse.

Flußwind kam aus der Schankstube gerannt, von wo aus er mit den Pfeilen der Feinde zurückgeschossen hatte, weil er selbst keine mehr hatte. Die anderen folgten ihm, Tanis hoffnungsvoll anlächelnd.

Ihr Glaube an ihn machte den Halb-Elf wütend. Irgendwann, dachte er, werde ich sie alle enttäuschen. Vielleicht habe ich das bereits. Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Hört zu!« schrie er. »Wir können versuchen, durch den Hinterausgang zu entkommen! Das Wirtshaus wird nur von einer kleinen Streitmacht belagert. Der Hauptteil der Armee ist noch nicht in der Stadt.«

»Jemand ist hinter uns her«, murmelte Raistlin.

Tanis nickte. »So sieht es aus. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wenn wir es zu den Hügeln schaffen...«

Er verstummte plötzlich und hob den Kopf. Alle verstummten, lauschten, erkannten den schrillen Schrei, das Geräusch riesiger, lederner Flügel, das rasch näher kam.

»In Deckung!« schrie Flußwind. Aber es war zu spät.

Ein schreiendes Winseln ertönte, und dann folgte ein Knall.

Das Wirtshaus – drei Etagen, aus Stein und Holz gebaut – bebte, als würde es aus Sand und Stöcken bestehen. Die Luft explodierte in Staub und Schutt. Flammen schossen hoch. Über sich konnten sie das Splittern und Krachen von Holz hören. Fasziniert und gelähmt sahen die Gefährten zu – gelähmt vom Anblick der riesigen Deckenbalken, die unter dem Gewicht des einstürzenden Daches erbebten.

»Raus hier!« schrie Tanis. »Der ganze Platz ist...«

Der Balken direkt über dem Halb-Elf ächzte laut auf, dann splitterte und krachte er. Er packte Laurana um die Taille und schleuderte sie weg, so weit er konnte, und sah Elistan, der am Eingang des Wirtshauses stand, sie in seinen Armen auffangen.

Als der Balken über Tanis mit einem zitternden Krachen herunterstürzte, hörte er den Magier seltsame Worte kreischen.

Dann fiel er, fiel in die Schwärze – und es schien, als ob die Welt auf ihn fallen würde.

Sturm bog um die Ecke und sah das Wirtshaus zum Roten Drachen in einer Flammenwolke zusammenstürzen, während sich ein Drache über sie in den Himmel schwang. Das Herz des Ritters pochte wild vor Trauer und Furcht.

Er versteckte sich in einem Hauseingang, als einige Drakonier vorbeigingen – sie lachten und sprachen in ihrer kalten gutturalen Sprache. Offenbar nahmen sie an, ihre Aufgabe sei erledigt, und suchten nun neue Unterhaltung. Drei andere jedoch, in blaue, nicht in rote Uniformen gekleidet, schienen über die Zerstörung des Wirtshauses sehr aufgeregt zu sein und schüttelten die Fäuste gegen den roten Drachen.

Sturm fühlte, wie eine verzweifelte Schwäche sich seiner bemächtigte. Er sackte gegen die Tür, beobachtete die Drakonier und fragte sich, was er tun sollte. Waren die Freunde noch im Wirtshaus? Vielleicht waren sie entkommen. Dann setzte sein Herz einen Augenblick aus. Er sah etwas Weißes aufblitzen.

»Elistan!« schrie er. Sturm sah, wie der Kleriker aus dem Schutt heraustrat, jemanden hinter sich herzerrend. Drakonier rannten mit gezogenen Schwertern auf den Kleriker zu. Sturm ließ den Schlachtruf der solamnischen Ritter erschallen und verließ den Türeingang. Die Drakonier wirbelten irritiert herum.

Sturm nahm verschwommen wahr, daß eine andere Gestalt neben ihm rannte. Er blickte sich um, sah einen Metallhelm und hörte den Zwerg brüllen. Dann vernahm er aus einer Toreinfahrt magische Worte.

Gilthanas, unfähig, sich ohne Hilfe aufrechtzuhalten, war hervorgekrochen, und auf die Drakonier zeigend sprach er seinen Zauberspruch. Flammende Pfeile schossen aus seinen Händen. Eine der Kreaturen brach zusammen und griff sich an seine brennende Brust. Flint sprang auf einen anderen Drakonier zu und schlug mit einem Stein auf seinen Kopf ein, während Sturm mit einem Faustschlag den dritten kampfunfähig machte.

Sturm fing Elistan in seinen Armen auf, als dieser nach vorn stolperte. Der Kleriker trug eine Frau.

»Laurana!« schrie Gilthanas.

Vom Rauch benommen hob das Elfenmädchen ihre glasigen Augen. »Gilthanas?« murmelte sie. Dann erblickte sie den Ritter.

»Sturm«, stellte sie verwirrt fest, dann deutete sie vage nach hinten. »Dein Schwert ist dort drüben. Ich habe es gesehen...«

Und wirklich erkannte Sturm etwas Silbernes, das halb verborgen im Schutt lag. Sein Schwert, und daneben lag Tanis' Schwert, die Elfenklinge von Kith-Kanan. Nachdem er die Steine beiseite geschoben hatte, hob Sturm andächtig die beiden Schwerter hoch, die wie Artefakte in einem abscheulichen, riesigen Hügelgrab gelegen hatten. Der Ritter horchte auf Bewegung, Rufe, Schreie. Aber um sie war nur entsetzliche Stille.

»Wir müssen hier weg«, sagte er langsam, ohne sich zu bewegen. Er sah Elistan an, der auf die Ruine starrte, das Gesicht leichenblaß. »Die anderen?«

»Sie waren alle im Haus«, antwortete Elistan mit zitternder Stimme. »Und der Halb-Elf...«

»Tanis?«

»Ja. Er war durch die Hintertür gekommen, kurz bevor der Drache das Wirtshaus zerstörte. Sie waren alle zusammen. Ich stand im Eingang. Tanis sah den Balken brechen. Er warf Laurana nach draußen, ich konnte sie auffangen, als die Decke auf sie niederstürzte. Es besteht keine Möglichkeit, daß sie...«

»Das glaube ich nicht!« sagte Flint heftig und sprang in den Schutt. Sturm packte ihn und zog ihn zurück.

»Wo ist Tolpan?« fragte der Ritter den Zwerg.

Das Gesicht des Zwerges wurde vor Trauer und Sorge grau.

»Steckt unter einem Balken«, sagte er. Er riß wild an seinen Haaren, dabei fiel ihm der Helm herunter. »Ich muß zu ihm zurück. Aber ich kann sie hier nicht lassen... Caramon...« Der Zwerg begann zu weinen, Tränen strömten in seinen Bart.

»Dieser riesige, dämliche Ochse! Ich brauche ihn. Er kann mir das doch nicht antun! Und Tanis!« Der Zwerg fluchte.

»Verdammt, ich brauche sie!«

Sturm legte seine Hand auf Flints Schulter. »Geh zu Tolpan zurück. Er braucht dich jetzt. Ich höre Drakonier in den Straßen. Wir...«

Laurana schrie auf, ein angstvoller, erbarmungswürdiger Schrei, der Sturm wie ein Speer durchbohrte. Er drehte sich um und konnte sie gerade noch festhalten, als sie in den Schutt laufen wollte.

»Laurana!« schrie er. »Versteh doch! Versteh doch!« Er schüttelte sie. »Nichts könnte das überleben!«

»Woher willst du das wissen!« schrie sie ihn wütend an und befreite sich aus seinem Griff. Auf Händen und Knien versuchte sie, einen Stein anzuheben. »Tanis!« schrie sie. Der Stein war aber so schwer, daß sie ihn nur wenige Millimeter bewegen konnte.

Sturm beobachtete sie verzweifelt, hilflos. Dann – Hörner!

Immer näher kamen sie, Hunderte, Tausende von Hörnern. Die Armee zog ein. Er sah Elistan an, der verstehend nickte. Beide Männer eilten zu Laurana.

»Meine Liebe«, begann Elistan sanft, »du kannst nichts für sie tun. Die Lebenden brauchen dich. Dein Bruder ist verletzt und auch der Kender. Die Drakonier marschieren ein. Entweder wir fliehen jetzt und bekämpfen weiter diese schrecklichen Ungeheuer, oder wir verlieren unser Leben in sinnloser Trauer. Tanis hat sein Leben für dich hingegeben, Laurana. Laß es kein sinnloses Opfer sein.«

Laurana starrte ihn an, ihr Gesicht war vom Ruß und Schmutz schwarz, mit Streifen von Tränen und Blut. Sie hörte die Hörner, sie hörte Gilthanas rufen, sie hörte Flint schreien, daß Tolpan im Sterben lag, sie hörte Elistans Worte. Und dann begann es zu regnen.

Der Regen lief über ihr Gesicht und kühlte ihre fiebrige Haut.

»Hilf mir, Sturm«, flüsterte sie. Er legte seinen Arm um sie.

Sie stand benommen auf und taumelte.

»Laurana!« rief ihr Bruder. Elistan hatte recht. Die Lebenden brauchten sie. Sie mußte zu ihm gehen. Obwohl sie sich lieber auf die Steine gelegt hätte, sie mußte gehen. Tanis hätte auch so gehandelt. Man brauchte sie. Sie mußte weitermachen.

»Leb wohl, Tanis«, flüsterte sie.

Der Regen wurde stärker, floß herab, als weinten die Götter um Tarsis, die Schöne.


Wasser tröpfelte auf seinen Kopf. Es war irritierend, kalt.

Raistlin versuchte sich vom Wasser wegzurollen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Ein schweres Gewicht drückte auf ihn.

Panik stieg in ihm auf, und verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. Mit der Furcht kehrte auch sein Bewußtsein zurück.

Und mit dem Wissen verschwand die Panik. Raistlin hatte wieder die Kontrolle über sich, und so wie er es gelernt hatte, zwang er sich, zu entspannen und die Situation zu durchdenken.

Er konnte nichts sehen. Es war zu dunkel, so daß er sich auf seine anderen Sinne konzentrieren mußte. Zuerst mußte er diese Last wegbekommen. Vorsichtig bewegte er seine Arme. Er spürte keinen Schmerz, anscheinend war nichts gebrochen. Er tastete weiter und berührte einen Körper. Caramon, seine Rüstung, sein Geruch. Er seufzte. Er hätte es wissen müssen. Er mußte seine ganze Kraft aufwenden, um seinen Bruder beiseite zu schieben und unter ihm hervorzukriechen.

Der Magier konnte nun leichter atmen und wischte das Wasser aus seinem Gesicht. Er tastete nach dem Hals seines Bruders und fühlte den Puls. Er schlug normal, sein Körper war warm, sein Atem ging regelmäßig. Raistlin legte sich erleichtert auf den Boden. Zumindest war er nicht allein, wo immer er auch war.

Aber wo war er? Raistlin rief sich die letzten entsetzlichen Momente ins Gedächtnis. Er erinnerte sich: Ein Balken splitterte, Tanis schleuderte Laurana von sich weg, er hatte einen Zauber geworfen, den letzten, zu dem er noch Kraft gehabt hatte.

Die Magie fuhr durch seinen Körper, schuf um ihn und die, die in seiner Nähe standen, einen Kreis, der sie vor anderen Gegenständen schützte. Caramon war über ihn gefallen, das Gebäude war um sie eingestürzt, und ein fallendes Gefühl.

Fallen...

Ah, Raistlin verstand. Sie mußten durch den Boden in den Keller gestürzt sein. Er tastete auf dem Steinboden herum und stellte dabei fest, daß er völlig durchnäßt war. Schließlich fand er das, was er gesucht hatte – den Zauberstab. Sein Kristall war unversehrt: Nur Drachenfeuer konnte den Stab, den er von Par-Salian im Turm der Erzmagier erhalten hatte, zerstören.

»Shirak«, befahl Raistlin, und der Stab leuchtete auf. Er setzte sich auf und blickte sich um. Ja, er hatte recht gehabt. Sie befanden sich im Keller des Wirtshauses. Der Inhalt zerbrochener Weinflaschen war überall auf den Boden geflossen. Bierschläuche waren aufgeplatzt. Er hatte nicht nur in Wasser gelegen.

Der Magier ließ das Licht über den Boden gleiten. Dort lagen Tanis, Flußwind, Goldmond, Tika, alle neben Caramon. Sie schienen in Ordnung zu sein. Um sie herum überall Schutt. Eine Hälfte des Balkens neigte sich leicht durch den Schutt.

Raistlin lächelte. Ein guter Zauberspruch. Einmal mehr standen sie in seiner Schuld.

Wenn wir nicht vor Kälte umkommen, fiel ihm bitter ein.

Sein Körper war so mitgenommen, daß er kaum den Stab halten konnte. Er begann zu husten. Es würde seinen Tod bedeuten.

Sie mußten hier herauskommen.

»Tanis«, rief er und schüttelte den Halb-Elf.

Tanis lag zusammengekauert am äußersten Rand von

Raistlins magischem Schutzkreis. Er murmelte etwas und bewegte sich. Raistlin schüttelte ihn wieder. Der Halb-Elf schrie auf, bedeckte instinktiv seinen Kopf mit den Armen.

»Tanis, du bist in Sicherheit«, flüsterte Raistlin hustend.

»Wach auf.«

»Was?« Tanis setzte sich kerzengerade auf, starrte um sich.

»Wo...« Dann erinnerte er sich. »Laurana?«

»Weg.« Raistlin zuckte die Schultern. »Du hast sie aus dem Gefahrenbereich geschleudert...«

»Ja...«, sagte Tanis und sank zurück. »Und ich hörte dich Worte sagen, magische...«

»Darum wurden wir nicht zerschmettert.« Raistlin zog zitternd seine nasse Robe enger um seinen Körper, während Tanis weiter um sich starrte, als wäre er auf den Mond gefallen.

»Wo im Namen des Abgrundes...«

»Wir sind im Keller des Wirtshauses«, unterbrach ihn der Magier. »Der Boden gab nach, und wir sind in den Keller gefallen.«

Tanis sah auf. »Bei allen Göttern«, flüsterte er erschrocken.

»Ja«, sagte Raistlin und folgte Tanis' Blick. »Wir sind lebendig begraben.«

Unter den Ruinen des Wirtshauses zum Roten Drachen besprachen die Gefährten ihre Lage. Sie war nicht gerade hoffnungsvoll. Goldmond behandelte ihre Verletzungen, die dank Raistlins Zauber nicht ernst waren. Aber sie hatten keine Vorstellung, wie lange sie ohnmächtig gewesen waren oder was über ihnen passiert war. Am schlimmsten war, sie wußten nicht, wie sie aus dem Keller hinauskommen sollten.

Caramon versuchte vorsichtig, einige Steine über ihren Köpfen zu bewegen, aber alles begann zu krachen und zu ächzen.

Raistlin erinnerte ihn scharf daran, daß er über keine Kraft für weitere Zaubersprüche verfügte, und Tanis bat den Krieger müde, es zu vergessen. Sie saßen im Wasser, das immer höher stieg.

Wie Flußwind bemerkte, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, was sie zuerst töten würde: der Mangel an Luft, die Kälte, das völlige Zusammenbrechen des Wirtshauses oder das Wasser.

»Wir könnten um Hilfe rufen«, schlug Tika vor, die versuchte, fest zu klingen.

»Dann kannst du die Drakonier gleich auch auf die Liste setzen«, schnappte Raistlin. »Denn das sind wahrscheinlich die einzigen Kreaturen, die dich hören werden.«

Tika errötete und strich sich mit der Hand über die Augen.

Caramon warf seinem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu, dann legte er seinen Arm um Tika und drückte sie an sich.

Raistlin schenkte ihnen einen angewiderten Blick.

»Ich höre überhaupt nichts von oben«, sagte Tanis verwirrt.

»Glaubt ihr, daß die Drachen und die Soldaten...« Er hielt inne, sein Blick traf Caramons, beide nickten langsam in plötzlichem Verstehen.

»Was?« fragte Goldmond.

»Wir befinden uns hinter der feindlichen Linie«, sagte Caramon. »Die Drakonierarmeen besetzen die Stadt. Und wahrscheinlich das ganze Land herum. Es gibt keinen Ausweg, und falls es einen gibt, können wir nirgendwohin gehen.«

Wie um seine Worte zu bekräftigen, hörten die Gefährten über sich Geräusche. Gutturale Drakonierstimmen, die sie nur allzugut kannten.

»Ich sage dir, es ist Zeitverschwendung«, winselte eine andere Stimme in der Umgangssprache, ein Goblin. »In diesem Durcheinander hat niemand überlebt.«

»Erzähl das mal dem Drachenfürsten, du erbärmlicher Hundeesser«, knurrte der Drakonier. »Ich bin mir sicher, daß seine Lordschaft an deiner Meinung sehr interessiert ist. Du hast deine Befehle. Grabt jetzt, alle.«

Nun hörte man kratzende und scharrende Geräusche. Steine wurden beiseite geschoben, Staubwolken rieselten durch Risse.

Der große Balken zitterte leicht, hielt aber stand.

Die Gefährten starrten sich an, hielten fast den Atem an. Sie erinnerten sich an die seltsamen Drakonier, die die Wirtsstube angegriffen hatten.

»Jemand ist hinter uns her«, sagte Raistlin.

»Was suchen wir hier eigentlich?« krächzte ein Goblin in der Goblinsprache. »Silber? Juwelen?«

Tanis und Caramon, die ein wenig Goblin konnten, versuchten, etwas besser zu hören.

»Nein«, sagte der erste Goblin, der offenbar die Befehle gab.

»Spione oder so etwas, die dem Drachenfürst persönlich vorgeführt werden sollen.«

»Hier drin?« fragte der Goblin erstaunt.

»Genau das habe ich doch gesagt«, schnarrte sein Kamerad.

»Diese Echsenmenschen sagten, daß sie alle hier in dem Wirtshaus waren, als der Drache es zerstört hat, und daß keiner entkommen ist, und darum denkt der Fürst, daß sie immer noch hier sind. Wenn du mich fragst – die Drakos haben etwas vermasselt, und wir müssen es ausbaden.«

Die Geräusche des Grabens und des Entfernens der Steine wurden wie die Stimmen der Goblins lauter, gelegentlich von einem scharfen Befehl eines Drakoniers unterbrochen. Es müssen ungefähr fünfzig sein! dachte Tanis. Er war wie gelähmt.

Flußwind hob leise sein Schwert aus dem Wasser und begann es trockenzuwischen. Caramon, dessen sonst so fröhliches Gesicht ernst war, ließ Tika los und suchte sein Schwert. Tanis hatte kein Schwert. Flußwind warf ihm seinen Dolch hinüber.

Tika wollte ihr Schwert ziehen, aber Tanis schüttelte den Kopf.

Sie würden auf engem Raum kämpfen müssen, und Tika brauchte unendlich viel Platz. Der Halb-Elf sah Raistlin fragend an.

Der Magier schüttelte den Kopf. »Ich werde es versuchen, Tanis«, flüsterte er. »Aber ich bin sehr müde. Sehr müde. Und ich kann nicht denken, mich nicht konzentrieren.« Er senkte seinen Kopf, zitterte heftig in seinen nassen Gewändern. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um nicht zu husten.

Ein Zauber wird ihn vernichten, wenn er ihn überhaupt schafft, wurde Tanis klar. Jedoch hat er dann mehr Glück als wir anderen. Zumindest ihn werden sie nicht lebend bekommen.

Die Geräusche über ihnen wurden immer lauter. Goblins sind starke, unermüdliche Arbeiter. Sie wollten diese Aufgabe schnell erledigen, um dann Tarsis zu plündern. Die Gefährten warteten in grimmigem Schweigen. Ein Strom von Staub, Schmutz und zerbröckelten Steinen ging unablässig zusammen mit frischem Regenwasser auf sie nieder. Sie hielten ihre Waffen fester. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis man sie entdecken würde.

Dann hörte man plötzlich neue Geräusche. Sie hörten die Goblins vor Furcht kreischen, die Drakonier schrien sie an, befahlen ihnen, weiterzuarbeiten. Aber die Schaufeln und Pickel wurden fallen gelassen, dann folgte das Fluchen der Drakonier, als sie versuchten, das aufzuhalten, was wie ein Goblinaufstand anmutete.

Über ihnen wurde das Kreischen der Goblins immer lauter, bis es zu einem lauten, klaren, schrillen Schrei anwuchs, von einem weiter entfernten Schrei beantwortet. Es war der Ruf eines Adlers, der bei Sonnenuntergang über den Ebenen kreist.

Aber dieser Ruf war direkt über ihnen.

Dann schrie ein Drakonier auf. Es folgte ein reißendes Geräusch – als ob der Körper der Kreatur entzweigerissen wurde.

Weitere Schreie, das Aufeinanderprallen von Eisen, wieder Rufe und Antworten – dieses Mal noch näher.

»Was ist denn los?« fragte Caramon mit zwei aufgerissenen Augen. »Das ist kein Drache. Es klingt wie – wie ein riesiger Raubvogel!«

»Was immer es auch ist, es reißt die Drakonier in Stücke!« sagte Goldmond ehrfürchtig, während sie weiterlauschten. Die Schreie hörten abrupt auf, ließen ein Schweigen zurück, das fast noch schlimmer war. Welches neue Böse hatte das alte ersetzt?

Dann wurden Schutt und Steine und Holz hochgehoben und beiseite geschleudert. Was auch immer sich oben befand, es wollte sie unten erreichen!

»Erst hat es die Drakonier gefressen«, flüsterte Caramon rauh, »und jetzt ist es hinter uns her!«

Tika wurde leichenblaß und klammerte sich an Caramons Arm. Goldmond stöhnte leise auf, und selbst Flußwinds Miene verlor ein wenig ihren Gleichmut, und er starrte aufmerksam nach oben.

»Caramon«, sagte Raistlin zitternd, »halt den Mund!«

Tanis fühlte sich geneigt, dem Magier beizupflichten. »Wir fürchten uns wegen nie...«, begann er. Er wurde von einem lauten Schmettern unterbrochen. Steine und Schutt, Mörtel und Holz stürzten auf sie herab. Sie krochen in Deckung, als ein riesiger Klauenfuß durch den Schutt brach, seine Krallen glänzten im Licht von Raistlins Stab.

Hilflos Schutz suchend unter zerbrochenen Balken oder Weinschläuchen, beobachteten die Gefährten erstaunt, wie sich die Riesenklaue aus dem Schutt befreite und verschwand, hinter sich ein großes klaffendes Loch zurücklassend.

Alles war still. Eine Zeitlang wagten die Gefährten nicht, sich zu bewegen. Aber die Stille blieb.

»Das ist unsere Chance«, flüsterte Tanis. »Caramon, sieh nach, was oben los ist.«

Aber der Krieger war bereits aus seinem Versteck gekrochen und bewegte sich so gut es ging über den mit Schutt übersäten Boden. Flußwind folgte mit gezogenem Schwert.

»Nichts«, sagte Caramon, als er verwirrt nach oben spähte.

Tanis, der sich ohne sein Schwert wie nackt fühlte, ging zu ihnen und starrte ebenfalls nach oben. Dann erschien zu seiner Verwunderung eine dunkle Gestalt, die sich gegen den brennenden Himmel abhob. Hinter der Gestalt zeigte sich ein riesiges Tier. Sie konnten nur den Kopf eines großen Adlers erkennen, dessen Augen im Feuerschein glitzerten und dessen gekrümmter Schnabel in den Flammen strahlte.

Die Gefährten schraken zurück, aber es war zu spät. Offensichtlich hatte die Gestalt sie gesehen. Sie trat näher. Flußwind dachte zu spät an seinen Bogen. Caramon zog Tika mit einer Hand zu sich, in der anderen hielt er sein Schwert.

Die Gestalt jedoch kniete einfach am Rand des Loches nieder, achtete sorgfältig auf die losen Steine und streifte ihre Kapuze zurück.

»So treffen wir uns also wieder, Tanis Halb-Elf«, sagte eine Stimme, so kalt und so rein und so fern wie die Sterne.

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