Schließlich schliefen sie jedoch ein. Auf dem Steinboden des Sternenturms zusammengekauert, blieben sie so eng wie möglich zusammen. Während sie schliefen, erwachten andere in einem kalten und feindlichen Land, einem Land, sehr weit von Silvanesti entfernt.
Laurana wurde als erste wach. Sie schreckte mit einem Aufschrei aus dem Schlaf hoch, zuerst hatte sie keine Vorstellung, wo sie sich befand. Dann sagte sie nur ein Wort: »Silvanesti!«
Flint erwachte zitternd. Die Schmerzen in seinen Beinen waren nicht schlimmer als sonst.
Sturm erwachte in Panik. Er schüttelte sich vor Entsetzen, lange Zeit konnte er sich nur bebend in seine Decke kauern.
Dann hörte er etwas von draußen vor seinem Zelt. Er schreckte hoch und kroch mit seinem Schwert vorwärts und schlug die Zeltbahn zurück.
»Oh!« keuchte Laurana beim Anblick seines Gesichts.
»Es tut mir leid«, sagte Sturm, »ich wollte nicht...« Dann sah er, daß sie so zitterte, daß sie kaum ihre Kerze halten konnte.
»Was ist los?« fragte er beunruhigt.
»Ich... ich weiß, es klingt dumm«, sagte Laurana und errötete, »aber ich hatte einen furchtbaren Traum und konnte nicht mehr einschlafen.«
Zitternd ließ sie zu, daß Sturm sie in das Zelt führte. Die Kerzenflamme warf hüpfende Schatten auf die Zeltwände.
Sturm, der befürchtete, Laurana könnte die Kerze fallen lassen, nahm sie ihr ab.
»Ich wollte dich nicht wecken, aber ich hörte dich schreien. Und mein Traum war so wirklich! Du kamst auch vor – ich sah dich...«
»Wie sieht Silvanesti aus?« unterbrach Sturm sie abrupt.
Laurana starrte ihn an. »Aber davon habe ich geträumt, daß wir dort wären! Warum fragst du? Sofern... du nicht auch von Silvanesti geträumt hast!«
Sturm zog seinen Umhang enger um sich und nickte. »Ich...«, begann er, dann hörte er von draußen ein anderes Geräusch.
Dieses Mal öffnete er nur das Zelt: »Komm rein, Flint«, sagte er müde.
Der Zwerg stapfte mit gerötetem Gesicht hinein. Er schien jedoch über Lauranas Anwesenheit verlegen zu sein und stotterte etwas, bis Laurana ihn anlächelte.
»Wir wissen es«, sagte sie. »Du hattest einen Traum. Silvanesti?«
Flint hustete, räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. »Anscheinend bin ich nicht der einzige«, stellte er fest und starrte auf die beiden. »Ich vermute, ihr wollt, daß ich euch meinen Traum erzähle.«
»Nein!« sagte Sturm eilig, sein Gesicht war blaß. »Nein, ich will darüber nicht reden – niemals!«
»Ich auch nicht«, sagte Laurana leise.
Zögernd klopfte Flint ihr auf die Schulter. »Da bin ich erleichtert. Über meinen Traum könnte ich auch nicht reden. Ich wollte nur sehen, ob es ein Traum war. Er schien so wirklich, daß ich erwartet habe, euch beide...«
Der Zwerg verstummte. Von draußen hörte man ein Rascheln, dann kroch Tolpan aufgeregt ins Zelt.
»Habe ich euch über einen Traum reden gehört? Ich träume nie – jedenfalls erinnere ich mich nicht. Kender träumen nicht viel. Oder vielleicht doch. Selbst Tiere träumen, aber...« Er bemerkte Flints Blick und wandte sich wieder eilig dem ursprünglichen Thema zu. »Nun! Ich hatte den phantastischsten Traum! Bäume, die Blut geweint haben! Entsetzliche tote Elfen, die umherschlichen und Leute töteten! Raistlin trug eine schwarze Robe! Das war das Unglaublichste! Und du warst dabei, Sturm. Auch Laurana und Flint. Und alle sind gestorben! Nun, fast alle. Raistlin nicht. Und dann war da noch ein grüner Drache...«
Tolpan verstummte. Was war denn mit seinen Freunden los?
Ihre Gesichter waren totenblaß, ihre Augen weit aufgerissen.
»G...grüner Drache«, stammelte er. »Raistlin, in Schwarz gekleidet. Habe ich das schon erwähnt? A...auf einmal. Rot ließ ihn immer ein wenig gelbsüchtig aussehen, wenn ihr versteht, was ich meine. Nicht! Na ja, ich g...glaube, ich gehe wieder schlafen. Oder wollt ihr noch mehr wissen?« Er blickte sich hoffnungsvoll um. Keiner antwortete.
»Nun, g...gute Nacht«, murmelte er. Überstürzt ging er aus dem Zelt und kehrte, verwirrt den Kopf schüttelnd, auf seine Lagerstatt zurück. Was war denn mit allen los? Es war doch nur ein Traum...
Lange Zeit sprach niemand. Dann seufzte Flint.
»Es macht mir ja nichts aus, einen Alptraum zu haben«, sagte der Zwerg mürrisch. »Aber ich habe etwas dagegen, ihn mit einem Kender zu teilen. Was meint ihr denn, warum wir alle den gleichen Traum hatten? Und was bedeutet er?«
»Ein fremdes Land – Silvanesti«, sagte Laurana. Sie nahm ihre Kerze und wollte gehen. Dann sah sie zurück. »Glaubt ihr... glaubt ihr, daß es Wirklichkeit war? Sind sie gestorben, so wie wir es gesehen haben?« War Tanis mit dieser menschlichen Frau zusammen? dachte sie, behielt die Frage aber für sich.
»Wir sind hier«, sagte Sturm. »Wir sind nicht gestorben. Wir können nur hoffen, daß die anderen auch nicht tot sind. Und...«, er hielt inne, »... es scheint merkwürdig, aber irgendwie weiß ich, daß sie leben.«
Laurana musterte den Ritter einen Moment aufmerksam, sah, daß er sich nach dem anfänglichen Schock und Entsetzen beruhigt hatte. Sie fühlte sich erleichtert. Sie streckte ihre Hand aus und nahm Sturms starke, schlanke Hand und drückte sie schweigend. Dann drehte sie sich um und verschwand.
Der Zwerg erhob sich. »Nun, soviel zum Schlafen. Ich werde jetzt Wache halten.«
»Ich begleite dich«, sagte Sturm und stand auf.
»Vermutlich werden wir es nie erfahren«, sagte Flint, »warum wir alle den gleichen Traum hatten.«
»Vermutlich nicht«, stimmte Sturm zu.
Der Zwerg verließ das Zelt. Sturm wollte ihm folgen, hielt aber inne, als sein Blick auf einen Lichtschein fiel. Er bückte sich, dachte, daß es wohl Wachs von Lauranas Kerze sein würde, fand aber statt dessen den Juwel von Alhana, der aus seinem Gürtel gefallen war und auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und bemerkte, daß er mit seinem eigenen inneren Licht strahlte, etwas, was ihm vorher nicht aufgefallen war.
»Vermutlich nicht«, wiederholte Sturm nachdenklich und drehte den Juwel immer wieder in seiner Hand.
Zum ersten Mal seit vielen, langen, entsetzlichen Monaten dämmerte der Morgen in Silvanesti. Aber nur einer sah ihn. Lorac beobachtete von seinem Schlafkammerfenster aus, wie die Sonne sich über die glitzernden Espen erhob. Die anderen schliefen noch. Alhana war die ganze Nacht nicht von ihres Vaters Seite gewichen, war dann aber vor Erschöpfung auf ihrem Stuhl eingeschlafen. Das blasse Sonnenlicht beleuchtete ihr Gesicht. Ihr langes schwarzes Haar floß über ihr Gesicht wie Risse in weißem Marmor. Ihre Haut war von Dornen aufgerissen. Lorac sah ihre Schönheit, aber diese Schönheit war von Arroganz verunstaltet. Sie war die Verkörperung ihres Volkes.
Er wandte sich um und sah wieder aus dem Fenster auf Silvanesti, fand aber keinen Trost. Ein grüner, verderbter Nebel hing immer noch über Silvanesti, als ob der Boden selbst verrottet wäre.
»Das ist meine Schuld«, sagte er zu sich, seine Augen weilten auf den entstellten Bäumen; die erbarmungswürdigen, mißgebildeten Tiere, die durch das Land streiften, nach einem Ende ihrer Qual suchten.
Seit über vierhundert Jahren lebte Lorac in diesem Land. Er hatte erlebt, wie es Gestalt angenommen hatte, unter seinen Händen und den Händen seines Volkes aufgeblüht war.
Es hatte auch schwierige Zeiten gegeben. Lorac war einer der wenigen auf Krynn, die sich noch an die Umwälzung erinnern konnten. Aber die Silvanesti-Elfen hatten sie weitaus besser als andere in der Welt überstanden – indem sie sich von den anderen Rassen entfernt hatten. Sie wußten, warum die uralten Götter Krynn verlassen hatten – sie hatten das Böse in den Menschen gesehen -, obwohl sie nicht erklären konnten, warum auch die Elfenkleriker verschwunden waren.
Die Elfen von Silvanesti erfuhren natürlich über die Winde und die Vögel und auf anderen geheimnisvollen Wegen von den Leiden ihrer Vettern, den Qualinesti, nach der Umwälzung.
Und obwohl sie über die Geschichten von Vergewaltigung und Mord trauerten, fragten sich die Silvanesti, was man denn auch anderes erwarten konnte, wenn man mit Menschen zusammenlebte. Sie zogen sich in ihren Wald zurück, entsagten der Außenwelt und störten sich wenig daran, daß die Außenwelt ihnen entsagte.
Folglich fand Lorac es unmöglich zu begreifen, wie dieses neue Unheil aus dem Norden hereinbrechen und seine Heimat bedrohen konnte. Was wollten sie von den Silvanesti? Er traf sich mit den Drachenfürsten, erklärte ihnen, daß die Silvanesti ihnen keine Schwierigkeiten bereiten wollten. Die Elfen waren überzeugt, daß jeder das Recht hätte, auf Krynn zu leben, jeder auf seine eigenen Weise, böse oder gut. Dann kam der Tag, an dem Lorac klarwurde, daß er getäuscht worden war – der Tag, an dem sich der Himmel mit Drachen verdunkelte.
Die Elfen wurden jedoch nicht unvorbereitet getroffen. Lorac hatte dafür zu lange gelebt. Schiffe warteten, um das Volk in Sicherheit zu bringen. Lorac befahl ihnen, unter dem Kommando seiner Tochter aufzubrechen. Als er dann allein war, stieg er in die Kammer unterhalb des Sternenturms, wo er die Kugel der Drachen versteckt hielt.
Nur seine Tochter und die seit langem verlorenen Kleriker wußten von der Existenz der Kugel. Alle anderen in der Welt glaubten, daß sie während der Umwälzung zerstört worden war.
Lorac setzte sich neben sie, starrte sie viele Tage an. Er rief sich die Warnungen der Hohen Magier ins Gedächtnis, erinnerte sich an alles, was er über die Kugel wußte. Schließlich, als ihm voll bewußt war, daß er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wie sie eigentlich wirkte, entschied Lorac, sie auszuprobieren, um sein Land zu retten.
Er erinnerte sich lebhaft an die Kugel, erinnerte sich, wie sie mit einem wirbelnden, faszinierenden grünen Licht brannte, das pulsierte und stärker wurde, als er sie ansah. Und er erinnerte sich, fast vom ersten Moment an erkannt zu haben, als seine Finger auf der Kugel ruhten, daß er einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Er hatte weder die Kraft noch die Macht, die Magie zu beherrschen. Aber da war es schon zu spät. Die Kugel hatte ihn gefangen und hielt ihn verzaubert, und es war der entsetzlichste Teil seines Alptraums gewesen, ständig daran erinnert zu werden, daß er nur träumte, und dennoch unfähig war, aus dem Traum auszubrechen.
Und jetzt war aus dem Alptraum Wirklichkeit geworden. Lorac senkte seinen Kopf, schmeckte an seinem Mund bittere Tränen. Dann spürte er sanfte Hände an seinen Schultern.
»Vater, ich kann es nicht ertragen, dich weinen zu sehen. Komm vom Fenster weg. Leg dich wieder ins Bett. Das Land wird wieder so schön sein wie früher. Du wirst helfen, daran zu arbeiten...«
Aber Alhana konnte nicht ohne Schaudern aus dem Fenster sehen. Lorac spürte sie zittern und lächelte traurig.
»Wird unser Volk zurückkehren, Alhana?« Er starrte nach draußen auf das Grün, das nicht das kraftvolle Grün des Lebens war, sondern das des Zerfalls und des Todes.
»Natürlich«, antwortete Alhana schnell.
»Eine Lüge, mein Kind? Seit wann belügen sich die Elfen gegenseitig?«
»Ich glaube, daß wir uns wahrscheinlich immer belogen haben«, murmelte Alhana, sich an das erinnernd, was sie von Goldmond erfahren hatte. »Die uralten Götter haben Krynn nicht verlassen, Vater. Eine Klerikerin von Mishakal reiste mit uns und erzählte, was sie erfahren hatte. Ich... ich wollte es nicht glauben, Vater. Ich war eifersüchtig. Sie ist trotz allem ein Mensch, und warum sollten die Götter zu den Menschen mit dieser Hoffnung gehen? Aber ich weiß jetzt, daß die Götter weise sind. Sie sind zu den Menschen gegangen, weil die Elfen sie niemals angenommen hätten. Durch unsere Trauer, an diesem verwüsteten Ort zu leben, werden wir lernen – so wie du und ich gelernt haben -, daß wir nicht länger in der Welt leben können und gleichzeitig getrennt von ihr. Die Elfen werden arbeiten, nicht nur um dieses Land wieder aufzubauen, sondern alle Länder, die vom Bösen heimgesucht worden sind.«
Lorac hörte zu. Seine Augen wanderten von der zerstörten Landschaft zu seiner Tochter, deren Gesicht blaß und strahlend wie der silberne Mond war. Er streckte seine Hand aus, um sie zu berühren.
»Und du wirst es zurückholen? Unser Volk?«
»Ja, Vater«, versprach sie und ergriff seine kalte, fleischlose Hand und hielt sie fest. »Wir werden arbeiten, schwer arbeiten. Wir werden die Götter um Vergebung bitten. Wir werden zu den anderen Völkern von Krynn gehen und...« Tränen flossen aus ihren Augen und ließen sie nicht weitersprechen, denn sie sah, daß Lorac sie nicht mehr hören konnte. Seine Augen verdunkelten sich, und er sank in einen Stuhl zurück.
»Ich übergebe mich dem Land«, flüsterte er. »Bette meinen Körper in die Erde, Tochter. So wie mein Leben diesen Fluch über die Erde gebracht hat, so wird mein Tod ihr vielleicht Segen bringen.«
Loracs Hand entglitt dem Griff seiner Tochter. Seine leblosen Augen starrten auf das verwüstete Land Silvanesti. Aber der entsetzte Blick war aus seinem Gesicht gewichen, und es war mit Frieden erfüllt.
Und Alhana konnte nicht trauern.
In dieser Nacht bereiteten die Gefährten ihren Aufbruch aus Silvanesti vor. Sie mußten den größten Teil ihrer Reise in den Norden im Schutz der Dunkelheit zurücklegen, da sie jetzt wußten, daß die Drachenarmeen das Land, das sie passieren mußten, kontrollierten. Sie hatten keine Landkarten. Sie wollten auch nicht den uralten Karten vertrauen, nach ihrem Erlebnis mit der landumschlossenen Hafenstadt Tarsis. Die einzigen Karten, die sie in Silvanesti fanden, waren schon Tausende von Jahren alt. Die Gefährten entschieden, auf gut Glück von Silvanesti nach Norden zu reisen; sie hofften, eine Hafenstadt zu finden, von wo aus sie dann nach Sankrist übersetzen konnten.
Der Magier nahm die Kugel der Drachen an sich. Tanis zweifelte anfangs, wie sie den massiven Kristall transportieren sollten, denn er war sehr groß und außerordentlich schwer. Aber am Abend vor ihrem Aufbruch kam Alhana mit einem kleinen Beutel in der Hand zu Raistlin.
»Mein Vater trug die Kugel in diesem Beutel. Ich fand es immer merkwürdig in Anbetracht der Größe der Kugel, aber er sagte, daß man ihm den Beutel im Turm der Erzmagier gegeben hätte. Vielleicht nutzt er dir.«
Der Magier ergriff ihn gierig mit seiner dünnen Hand.
»Jistrah tagopar Ast moirparann Kini«, murmelte er und beobachtete zufrieden, wie der unscheinbare Beutel in einem blassen, rosafarbenen Licht erstrahlte.
»Ja, er ist verzaubert«, flüsterte er. Dann blickte er zu Caramon. »Bring mir die Kugel.«
Caramon riß vor Entsetzen seine Augen auf. »Nicht für den größten Schatz in dieser Welt!« schwor der große Mann.
»Bring mir die Kugel!« befahl Raistlin und starrte seinen Bruder ärgerlich an, der immer noch seinen Kopf schüttelte.
»Nun sei kein Narr, Caramon!« schnappte Raistlin wütend.
»Die Kugel kann jene nicht verletzen, die sie nicht zu benutzen versuchen. Glaub mir, mein teurer Bruder, du hast nicht einmal die Macht, eine Küchenschabe zu beherrschen, ganz zu schweigen von einer Kugel der Drachen!«
»Aber es könnte eine Falle sein«, protestierte Caramon.
»Pah! Sie suchen sich die mit...«, Raistlin stockte abrupt.
»Ja?« fragte Tanis ruhig. »Fahr fort. Wen suchen sie aus?«
»Leute mit Intelligenz«, knurrte Raistlin. »Darum bin ich davon überzeugt, daß die Mitglieder dieser Gesellschaft in Sicherheit sind. Bring mir die Kugel, Caramon, oder willst du sie vielleicht selber tragen? Oder du, Halb-Elf? Oder du, Klerikerin von Mishakal?«
Caramon sah unbehaglich zu Tanis, und der Halb-Elf bemerkte, daß der große Mann seine Zustimmung suchte. Für den Zwilling war es ein merkwürdiger Schritt, denn er hatte immer ohne Fragen Raistlins Befehlen gehorcht.
Mehr denn je war Tanis vor dem Magier auf der Hut, mißtraute Raistlins seltsamer und wachsender Macht. Es ist unlogisch, stritt er mit sich. Eine Reaktion auf den Alptraum, weiter nichts. Aber das löste nicht sein Problem. Was würde er mit der Kugel der Drachen anstellen? Aber ihm wurde kläglich bewußt, daß es keinen Ausweg gab.
»Raistlin ist der einzige, der über das Wissen und die Fähigkeit und – nun ja – den Mut verfügt, mit dem Ding umzugehen«, sagte Tanis widerwillig. »Ich meine, er soll sie an sich nehmen, sofern nicht einer von euch die Verantwortung übernehmen will.«
Niemand sprach. Flußwind schüttelte nur den Kopf und runzelte düster die Stirn. Tanis wußte, der Barbar würde die Kugel – und auch Raistlin – hier in Silvanesti zurücklassen, wenn er die Möglichkeit hätte.
»Geh schon, Caramon«, sagte Tanis. »Du bist der einzige, der stark genug ist, um sie zu heben.«
Widerstrebend ging Caramon zu der Kugel, um sie von ihrem goldenen Ständer zu heben. Seine Hände zitterten, als er sie berührte, aber nichts passierte. Die Kugel änderte nicht ihre Erscheinung. Caramon seufzte erleichtert auf und hob die Kugel hoch, stöhnte unter ihrem Gewicht und trug sie zu seinem Bruder, der den Beutel aufhielt.
»Laß sie in den Beutel fallen«, befahl Raistlin.
»Was?« Caramons Kiefer sackte runter, als er von der riesigen Kugel zum kleinen Beutel starrte. »Kann ich nicht, Raist! Sie wird nicht hineinpassen! Er wird zerreißen!«
Der große Mann verstummte, als Raistlins Augen golden wie der sterbende Tag aufflackerten.
»Nein! Caramon, warte!« Tanis sprang vor, aber dieses Mal gehorchte Caramon seinem Bruder. Langsam, seine Augen vom intensiven Blick seines Bruders gebannt, ließ Caramon die Kugel der Drachen fallen.
Die Kugel verschwand!
»Was? Wo...«, Tanis sah Raistlin argwöhnisch an.
»Im Beutel«, erwiderte der Magier ruhig und zeigte den kleinen Beutel vor. »Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glaubst.«
Tanis spähte in den Beutel. Es stimmte – die Kugel befand sich im Beutel. Er konnte den wirbelnden grünen Nebel erkennen, als ob sich in ihr ein schwaches Leben rührte. Sie muß zusammengeschrumpft sein, dachte er ehrfürchtig. Da die Kugel dieselbe Größe wie vorher zu haben schien, hatte Tanis den furchterregenden Eindruck, daß er gewachsen war.
Schaudernd trat der Halb-Elf zurück. Raistlin zog an der Schnur des Beutels. Dann warf er den anderen einen mißtrauischen Blick zu, verbarg den Beutel in einer seiner Geheimtaschen seiner Robe und drehte sich um. Aber Tanis hielt ihn auf.
»Es kann wohl nie mehr zwischen uns so sein wie früher, oder?« fragte der Halb-Elf ruhig.
Raistlin sah ihn einen Moment lang an, und Tanis entdeckte ein kurzes Aufflackern des Bedauerns in den Augen des jungen Magiers, ein Sehnen nach Vertrauen und Freundschaft und nach einer Rückkehr zu den Tagen ihrer Jugend.
»Nein«, flüsterte Raistlin. »Aber das war eben der Preis, den ich bezahlt habe.« Er begann zu husten.
»Preis? An wen? Wofür?«
»Frag nicht, Halb-Elf.« Die dünnen Schultern des Magiers krümmten sich unter dem Hustenanfall. Caramon legte seinen starken Arm um seinen Bruder, und Raistlin lehnte sich geschwächt an ihn. Als er sich wieder erholt hatte, hob er seine goldenen Augen. »Ich kann dir die Antwort nicht geben, Tanis, weil ich sie selbst nicht kenne.«
Dann beugte er seinen Kopf und ließ sich von Caramon wegführen, um sich vor ihrer Reise auszuruhen.
»Ich wünschte, du würdest es dir anders überlegen und uns bei den Beerdigungsriten für deinen Vater helfen lassen«, sagte Tanis zu Alhana, als sie im Eingang des Sternenturms standen, um sich zu verabschieden. »Ein Tag wird für uns keinen Unterschied ausmachen.«
»Ja, wir helfen dir«, stimmte Goldmond aufrichtig zu. »Ich weiß über diese Dinge viel von meinem Volk, denn unsere Beerdigungsbräuche sind euren ähnlich, wenn Tanis mich richtig unterrichtet hat. Ich war bei meinem Stamm Priesterin, und ich wachte über das Einhüllen der Körper in mit Gewürzen versehene Kleidungsstücke, die sie konservieren...«
»Nein, meine Freunde«, sagte Alhana entschlossen. »Es war der Wunsch meines Vaters, daß ich... es allein mache.«
Das stimmte nicht ganz, aber Alhana wußte, wie schockiert sie sein würden, wenn ihr Vater der Erde übergeben werden würde – ein Brauch, der nur von Goblins und anderen bösartigen Kreaturen angewendet wurde. Der Gedanke erschreckte sie. Unfreiwillig fiel ihr Blick auf den entstellten und verdrehten Baum, der sein Grab kennzeichnen sollte. Sie sah schnell weg, ihre Stimme versagte.
»Sein Grab ist... ist schon seit langem vorbereitet, und ich verfüge selbst über Erfahrungen in diesen Dingen. Macht euch bitte keine Sorgen um mich.«
Tanis sah den Schmerz in ihrem Gesicht, konnte ihre Bitte aber nicht abschlagen.
»Wir verstehen«, sagte Goldmond. Dann legte die Que-Shu-Barbarin impulsiv ihre Arme um die Elfenprinzessin und hielt sie an sich gedrückt, als würde sie ein verlorenes und verängstigtes Kind festhalten. Alhana versteifte sich anfangs, entspannte sich dann aber in Goldmonds mitfühlender Umarmung.
»Friede sei mit dir«, flüsterte Goldmond und strich Alhana das dunkle Haar aus dem Gesicht. Dann ging die Barbarin.
»Was wirst du nach der Beerdigung deines Vaters machen?« fragte Tanis, als er und Alhana allein auf den Stufen des Turms standen.
»Ich werde zu meinem Volk zurückkehren«, erwiderte Alhana ernst. »Die Greife werden jetzt zu mir kommen, da das Böse aus diesem Land verschwunden ist, und sie werden mich nach Ergod bringen. Wir werden tun, was in unserer Macht steht, um das Böse zu besiegen und dann nach Hause zurückkehren.«
Tanis blickte sich um. Silvanesti war schon tagsüber entsetzlich, aber die Schrecken in der Nacht waren noch grauenvoller.
»Ich weiß«, antwortete Alhana auf seine unausgesprochenen Gedanken. »Das wird unsere Strafe sein.«
Tanis hob skeptisch die Augenbrauen, ihm war bewußt, welchen Kampf sie vor sich hatte, ihre Leute zur Rückkehr zu bewegen. Dann sah er die tiefe Überzeugung in Alhanas Gesicht.
Vielleicht würde sie es schaffen.
Lächelnd wechselte er das Thema. »Und wirst du Zeit finden, nach Sankrist zu kommen?« fragte er. »Die Ritter würden sich durch deine Anwesenheit geehrt fühlen, besonders einer von ihnen.«
Alhanas blasses Gesicht errötete. »Vielleicht«, brachte sie mühsam hervor. »Ich kann es nicht versprechen. Ich habe viele Dinge über mich gelernt. Aber es wird noch eine Zeit dauern, bis diese Dinge ein Teil von mir sind.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Vielleicht werde ich mich nie daran gewöhnen können.«
»Etwa zu lernen, einen Menschen zu lieben?«
Alhana hob ihren Kopf, sie sah Tanis direkt in die Augen.
»Würde er glücklich sein, Tanis? Weit weg von seiner Heimat, denn ich muß nach Silvanesti zurückkehren? Und könnte ich glücklich sein in dem Wissen, ihm beim Altern und Sterben zusehen zu müssen, während ich immer jung sein werde?«
»Ich stelle mir die gleichen Fragen, Alhana«, sagte Tanis und dachte mit Schmerz an die Entscheidung, die er in bezug auf Kitiara getroffen hatte. »Wenn wir die Liebe ablehnen, die uns geschenkt wird, wenn wir uns weigern, Liebe zu geben, weil wir den Schmerz des Verlustes fürchten, dann wird unser Leben leer sein und unser Verlust noch größer.«
»Als wir uns kennenlernten, fragte ich mich, warum diese Leute dir folgen, Tanis, Halb-Elf«, sagte Alhana leise. »Jetzt verstehe ich es. Ich werde an deine Worte denken. Leb wohl, bis die Reise deines Lebens endet.«
»Leb wohl, Alhana«, antwortete Tanis und nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Er wußte nichts mehr zu sagen, so drehte er sich um und verließ sie.
Aber er konnte nicht anders, als sich zu fragen, wenn er denn so verdammt weise war, warum sich sein Leben dann in solch einem Durcheinander befand.
Tanis traf seine Gefährten am Rande des Waldes. Einen Moment lang standen sie da, widerstrebend, den Wald von Silvanesti zu betreten. Obwohl sie wußten, daß das Böse verschwunden war, mißfiel ihnen der Gedanke, tagelang durch die entstellten Bäume zu wandern. Aber ihnen blieb nichts anderes übrig. Und sie alle verspürten wieder jene Dringlichkeit, die sie auch bis hierher getrieben hatte. Die Zeit rann durch das Stundenglas, und sie wußten, sie konnten nicht warten, bis der Sand durchgelaufen war, obwohl sie den Grund nicht kannten.
»Komm, mein Bruder«, sagte Raistlin schließlich. Der Magier führte sie in den Wald, der Zauberstab warf beim Gehen sein blasses Licht. Caramon folgte mit einem Seufzen. Einer nach dem anderen kam hinterher. Tanis drehte sich noch einmal um.
Heute abend würden sie nicht die Monde sehen. Das Land war mit einer tiefen Dunkelheit bedeckt, als ob es Loracs Tod betrauern würde. Alhana stand im Eingang zum Sternenturm.
Nur ihr Gesicht war in den Schatten sichtbar, wie der Geist des Silbermondes. Tanis sah flüchtig eine Bewegung. Sie hob ihre Hand, und ein reines, weißes Licht blitzte kurz auf – der Sternenjuwel. Und dann war sie verschwunden.