3 Tarsis, die Schöne

Tanis breitete die Karte des Kenders aus. Sie waren am Fuß der öden und baumlosen Hügel angelangt, von denen aus, nach der Karte, die Stadt Tarsis zu sehen sein müßte.

»Wir trauen uns nicht, bei Tageslicht auf die Hügel zu steigen«, sagte Sturm und zog seinen Schal vom Mund. »Aber hier sind wir im Umkreis von über hundert Kilometern für alle sichtbar.«

»Du hast recht«, stimmte Tanis zu. »Wir werden hier zwar ein Lager errichten, ich will trotzdem hochklettern, um einen Blick auf die Stadt zu werfen.«

»Mir gefällt das überhaupt nicht!« murmelte Sturm düster.

»Irgend etwas stimmt hier nicht. Möchtest du, daß ich mitgehe?«

Tanis sah die Müdigkeit im Gesicht des Ritters und schüttelte den Kopf. »Du mußt dich um die anderen kümmern.« Er wollte gerade mit dem Aufstieg beginnen, als er eine kalte Hand spürte. Er drehte sich um und sah in die Augen des Magiers.

»Ich komme mit dir«, flüsterte Raistlin.

Tanis starrte ihn erstaunt an, dann blickte er zu den Hügeln hoch. Der Aufstieg würde nicht leicht sein, und er kannte die Abneigung des Magiers gegen große körperliche Anstrengungen. Raistlin verstand seinen Blick.

»Mein Bruder wird mir helfen«, sagte er und gab Caramon ein Zeichen, der zwar verwundert schien, aber sofort zu dem Magier eilte. »Ich möchte einen Blick auf die Stadt Tarsis, die Schöne, werfen.«

Tanis musterte ihn unruhig, aber Raistlins Miene war wie immer ausdruckslos und kalt.

»Nun gut«, sagte der Halb-Elf. »Aber du wirst dich auf dem Berg wie ein Blutfleck ausmachen. Leg dir einen weißen Umhang über.« Das sardonische Lächeln des Halb-Elfs war eine fast perfekte Nachahmung von Raistlins Lächeln. »Leih dir einen von Elistan.«

Tanis, der oben auf dem Hügel stand und über die legendäre Hafenstadt Tarsis, die Schöne, schaute, begann leise zu fluchen. Er zog seine Kapuze tiefer über sein Gesicht und starrte in bitterer Enttäuschung auf die Stadt hinunter.

Caramon stieß seinen Bruder an. »Raist«, sagte er. »Was ist los? Ich verstehe nicht.«

Raistlin hustete. »Dein Gehirn ist in deinem Schwertarm, mein Bruder«, flüsterte der Magier sarkastisch. »Schau auf Tarsis, die legendäre Hafenstadt. Was siehst du?«

»Nun...«, Caramon blinzelte. »Sie ist eine der größten Städte, die ich je gesehen habe. Und da sind Schiffe, solche, von denen wir auch gehört haben...«

»Die weißgeflügelten Boote von Tarsis, der Schönen«, zitierte Raistlin bitter. »Du siehst jetzt also auf die Boote, mein Bruder. Fällt dir dabei etwas Besonderes auf?«

»Sie befinden sich keineswegs in gutem Zustand. Die Segel sind zerfetzt und...« Caramon blinzelte wieder, dann keuchte er. »Da ist kein Wasser!«

»Sehr aufmerksam.«

»Aber die Karte des Kenders...«

»Stammt noch aus der Zeit vor der Umwälzung«, unterbrach Tanis. »Verdammt, ich hätte das wissen müssen! Ich hätte diese Möglichkeit in Betracht ziehen müssen! Tarsis, die Schöne legendäre Hafenstadt – jetzt landumschlossen!«

»Und das zweifellos seit dreihundert Jahren«, wisperte Raistlin. »Als das feurige Gebirge vom Himmel stürzte, schuf es Seen, wie wir in Xak Tsaroth gesehen haben, aber es zerstörte sie auch. Was machen wir jetzt mit den Flüchtlingen, Halb-Elf?«

»Ich weiß es nicht«, knurrte Tanis wütend. Er starrte noch einmal auf die Stadt, dann drehte er sich um. »Es hat keinen Sinn, hier noch länger herumzustehen. Das Meer wird wegen uns nicht zurückkommen.« Er ging langsam den Hügel hinunter.

»Was werden wir tun?« fragte Caramon seinen Bruder. »Wir können nicht nach Südtor zurück. Ich weiß, etwas oder jemand ist uns die ganze Zeit gefolgt.« Er blickte sich besorgt um. »Ich spüre, daß wir beobachtet werden – sogar jetzt.«

Raistlin hakte sich bei Caramon ein. Einen seltenen Moment lang sahen sich die beiden bemerkenswert ähnlich.

»Du bist klug, deinen Gefühlen zu vertrauen, mein Bruder«, sagte Raistlin leise. »Wir sind von großer Gefahr und großem Unheil umgeben. Ich spüre dieses Gefühl in mir wachsen, seitdem die Leute in Südtor angekommen sind. Ich versuchte, sie zu warnen...« Ein Hustenanfall unterbrach ihn.

»Woher weißt du es?« fragte Caramon.

Raistlin schüttelte den Kopf, einige Momente unfähig, zu antworten. Als der Hustenanfall vorüber war, holte er zitternd Luft und blickte seinen Bruder wütend an. »Hast du immer noch nicht begriffen?« fragte er bitter. »Ich weiß es! Nimm es so hin. Ich habe für mein Wissen in den Türmen der Erzmagier bezahlt. Ich zahlte dafür mit meinem Körper und fast mit meinem Verstand. Ich zahlte dafür mit...« Raistlin hielt inne und sah zu seinem Bruder.

Caramon war blaß und schweigsam, wie immer, wenn die Prüfung erwähnt wurde. Er wollte etwas sagen, unterdrückte es aber und räusperte sich. »Es ist nur, daß ich nicht verstehe...«

Raistlin seufzte, schüttelte den Kopf und löste sich von seinem Bruder. Dann begann er langsam, auf seinen Stab gestützt, den Hügel hinunterzugehen. »Du wirst auch nie verstehen«, murmelte er. »Niemals.«

Vor dreihundert Jahren war Tarsis, die Schöne, die Herrscherstadt von Abanasinia gewesen. Von hier segelten die weißgeflügelten Boote in alle bekannten Länder auf Krynn.

Hierher kehrten sie zurück und brachten alle Arten von Gegenständen, wertvoll und merkwürdig, abscheulich und köstlich, mit. Der Marktplatz von Tarsis war ein Platz der Wunder. Matrosen stolzierten durch die Straßen, ihre goldenen Ohrringe blitzten genauso hell wie ihre Messer. Die Schiffe brachten exotische Leute aus entfernten Ländern mit, die hier ihre Waren verkauften. Einige waren farbenfroh gekleidet, in fließende Seide, mit Juwelen herausgeputzt. Sie verkauften Gewürze und Tees, Orangen und Perlen und kunterbunte Vögel in Käfigen.

Andere, in ungegerbte Häute gekleidet, boten wertvolle Felle von exotischen Tieren feil, die so grotesk waren wie ihre Jäger.

Natürlich gab es auf dem tarsianischen Markt auch Käufer, die fast genauso seltsam und exotisch und gefährlich waren wie die Verkäufer. Zauberer in weißen, roten und schwarzen Roben streiften durch den Bazar auf der Suche nach seltenen Zauberzutaten. Schon damals war man ihnen gegenüber mißtrauisch, und so bewegten sie sich einsam durch die Menge. Nur wenige sprachen mit den Magiern, und niemand wagte es je, sie zu betrügen.

Auch Kleriker suchten hier nach Zutaten für ihre Heilmittel.

Denn es gab auf Krynn schon vor der Zerstörung Kleriker. Einige verehrten die guten, andere die neutralen, wieder andere die bösen Götter. Aber alle verfügten über große Macht. Ihre Gebete, ob gut oder böse, wurden erhört.

Und zwischen all den seltsamen und exotischen Leuten, die sich auf dem Bazar von Tarsis, der Schönen, versammelten, waren immer die Ritter von Solamnia. Sie hielten Ordnung, bewachten das Land und führten ihr diszipliniertes Leben nach ihrem strengen Kodex. Die Ritter waren Anhänger von Paladin und für ihren frommen Gehorsam den Göttern gegenüber bekannt.

Die von Mauern umgebene Stadt Tarsis hatte ihre eigene Armee und – so hieß es – war niemals von einer fremden Streitkraft erobert worden. Die Stadt wurde – unter den wachsamen Augen der Ritter – von einer Lordfamilie regiert, die glücklicherweise über Vernunft, Feingefühl und Gerechtigkeitssinn vefügte. Tarsis wurde ein Zentrum von Wissen und Bildung; Weise aus aller Herren Länder kamen hierher, um ihr Wissen mitzuteilen. Schulen und eine große Bibliothek wurden errichtet, Tempel wurden für die Götter gebaut. Junge, wißbegierige Männer und Frauen kamen nach Tarsis, um zu lernen.

Von den frühen Drachenkriegen war Tarsis nicht betroffen.

Die massiven Stadtmauern, die mächtige Armee, die Flotte weißgeflügelter Boote und die wachsamen Ritter von Solamnia entmutigten sogar die Königin der Finsternis. Bevor sie ihre Macht festigen und in die Herrscherstadt einfallen konnte, hatte Huma ihre Drachen vom Himmel vertrieben. So konnte Tarsis weiter gedeihen und entwickelte sich im Zeitalter der Allmacht zu einer der reichsten und stolzesten Städte auf Krynn.

Und wie es mit vielen anderen Städten auf Krynn geschah, wuchs mit dem Stolz auch die Eitelkeit. Tarsis begann, immer höhere Forderungen an die Götter zu stellen: Reichtum, Macht, Ruhm. Die Bewohner verehrten Istars Königspriester. Dieser Königspriester verlangte arrogant von den Göttern das, was sie Humas demütiger Bitte gewährt hatten. Selbst die Ritter von Solamnia, an die strengen Gesetze ihres Kodex gebunden, gefangen in einer Religion, die zu reinem Ritual ohne jede Tiefe ausgeartet war, verfielen dem mächtigen Königspriester.

Dann kam die Umwälzung – die Nacht des Entsetzens, als es Feuer regnete. Der Boden hob und senkte sich und spaltete sich, als die Götter in ihrem gerechten Zorn einen Berg auf Krynn schleuderten, um Istars Königspriester und die Bewohner für ihren Hochmut zu bestrafen.

Die Stadt wandte sich an die Ritter von Solamnia: »Ihr seid gerecht, helft uns!« schrie man. »Besänftigt die Götter!«

Aber die Ritter konnten nichts ausrichten. Feuer fiel vom Himmel, Land spaltete sich. Das Meer ging zurück, die Schiffe staken im Grund und legten sich zur Seite, die Stadtmauer zerbröckelte.

Als die Nacht des Alptraums endete, war Tarsis keine Hafenstadt mehr. Die weißgeflügelten Boote lagen wie verletzte Vögel im Sand. Verwirrt und blutend versuchten die Überlebenden, ihre Stadt wieder aufzubauen, rechneten jeden Moment damit, daß die Ritter von Solamnia aus ihren großen Festungen im Norden heranmarschieren würden, aus Palanthas, Solantus, Vingaard-Burg, Thelgaard, um ihnen zu helfen und sie noch einmal zu beschützen.

Aber die Ritter kamen nicht. Sie hatten ihre eigenen Sorgen und konnten Solamnia nicht verlassen. Und selbst wenn sie gewollt hätten, wäre es nicht gegangen, weil ein neues Meer das Land von Abanasinia teilte. Die Zwerge im Bergkönigreich Thorbadin schlossen ihre Tore und ließen niemanden mehr hinein, und so waren auch die Gebirgspässe blockiert. Die Elfen zogen sich nach Qualinesti zurück, leckten ihre Wunden und gaben den Menschen die Schuld für das Unglück. Bald hatte Tarsis jeden Kontakt mit der nördlichen Welt verloren.

Und nach der Umwälzung, als klarwurde, daß die Stadt von den Rittern aufgegeben worden war, kam der Tag der Verbannung. Der Lord der Stadt befand sich in einer schwierigen Situation. Er war nicht völlig von der Korruptheit der Ritter überzeugt, wußte aber, daß die Bewohner einen Sündenbock brauchten. Wenn er sich für die Ritter einsetzen würde, würde er die Kontrolle über die Stadt verlieren, und so war er gezwungen, die Augen gegenüber dem wütenden Mob zu schließen, der die wenigen übriggebliebenen Ritter in Tarsis angriff.

Sie wurden aus der Stadt getrieben oder umgebracht.

Nach einer Zeit war die Ordnung in Tarsis wiederhergestellt.

Der Lord und seine Familie bauten eine neue Armee auf. Aber es hatte sich viel geändert. Die Bewohner glaubten, daß die alten Götter, die sie so lange verehrt hatten, sich von ihnen abgewendet hatten. Sie fanden neue Götter und verehrten sie, auch wenn diese ihre Gebete kaum erhörten. Alle klerikalen Mächte, die im Land vor der Umwälzung gegenwärtig gewesen waren, waren verschwunden. Kleriker, die mit falschen Versprechen falsche Hoffnungen weckten, nahmen Überhand.

Quacksalber reisten durch das Land und boten ihre falschen Allheilmittel feil.

Nach und nach verließen viele Leute Tarsis. Auf dem Marktplatz spazierten keine Matrosen mehr; Elfen, Zwerge und andere Rassen kamen nicht mehr. Den übriggebliebenen Bewohnern von Tarsis war es recht so. Sie begannen die Außenwelt zu fürchten und ihr zu mißtrauen. Fremde waren nicht mehr willkommen.

Aber Tarsis war zu lange ein Handelszentrum gewesen, also erblühte wieder der Handel. Die äußeren Stadtteile wurden wiederaufgebaut. Die Ruinen im inneren Teil – die Tempel, die Schulen, die große Bibliothek – ließ man unberührt. Der Bazar wurde wieder geöffnet, aber jetzt war er nur noch ein Markt für Landwirte und ein Forum für falsche Kleriker, die neue Religionen priesen. Der Friede legte sich über die Stadt wie eine Decke. Die frühen Tage des Reichtums und des Ruhms waren nur noch Legende.

Jetzt hatte man natürlich auch in Tarsis Gerüchte über Krieg gehört, aber im allgemeinen wurden sie nicht ernst genommen, obwohl der Lord seine Armee hinausschickte, um die Ebenen zum Süden hin zu bewachen. Wenn jemand nach dem Grund fragte, antwortete er, es sei nur eine Schlachtübung. Diese Gerüchte kamen schließlich aus dem Norden, und es war bekannt, daß die Ritter von Solamnia verzweifelt versuchten, ihre Macht wiederherzustellen. Es war schon erstaunlich, wie weit diese verräterischen Ritter gingen – sogar Geschichten über die Rückkehr der Drachen machten die Runde.

So stand es um Tarsis, die Schöne, als die Gefährten an jenem Morgen kurz nach Sonnenaufgang die Stadt betraten.

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