1 Schiffe mit weißen Flügeln Hoffnung hinter den Staubigen Ebenen

Tanis, der Halb-Elf, wohnte der Versammlung der Sucherfürsten bei und hörte stirnrunzelnd zu. Obwohl die falsche Religion der Sucher jetzt offiziell tot war, wurde die Gruppe, die die politische Führung über die achthundert Flüchtlinge von Pax Tharkas übernommen hatte, immer noch so bezeichnet.

»Es ist ja nicht so, daß wir den Zwergen nicht dankbar wären, bei ihnen Unterschlupf gefunden zu haben«, führte Hederick überschwenglich aus und fuchtelte mit seiner vernarbten Hand.

»Wir alle sind dankbar, da bin ich mir sicher. So wie wir den Helden dankbar sind, die den Streitkolben von Kharas wieder erkämpft haben und uns dadurch den Aufenthalt hier ermöglichten.« Hederick verbeugte sich in Tanis' Richtung, der die Verbeugung mit einem Kopfnicken erwiderte. »Aber wir sind keine Zwerge!«

Diese eindringlichen Worte riefen beifälliges Gemurmel hervor.

»Wir Menschen sind für das unterirdische Leben nicht geschaffen!« Laute bejahende Zurufe und Applaus.

»Wir sind Bauern. Wir können in einem Berg kein Gemüse anpflanzen! Wir wollen Land, so wie jenes, das wir zurücklassen mußten. Und diejenigen, die uns gezwungen haben, unsere Heimat zu verlassen, müssen uns neues Land geben!«

»Meint er die Drachenfürsten?« flüsterte Sturm Tanis sarkastisch zu. »Diesem Wunsch werden sie sicherlich mit Freuden nachkommen.«

»Diese Dummköpfe sollten dankbar sein, daß sie am Leben sind!« murrte Tanis. »Sieh sie dir an, wie sie Elistan zujubeln als ob er sie befreit hätte!«

Der Kleriker von Paladin – und Führer der Flüchtlinge – erhob sich, um Hederick zu antworten.

»Weil wir eine neue Heimat brauchen«, sagte Elistan, »schlage ich vor, einige von uns in den Süden, nach Tarsis, der Schönen, zu schicken.«

Tanis kannte Elistans Plan bereits. Seine Gedanken wanderten zu der Zeit, als er und seine Gefährten von Derkins Grabmal mit dem heiligen Streitkolben zurückgekehrt waren. Die Zwergenlehnsmänner, unter der Führerschaft von Hornfell jetzt gefestigt, bereiteten sich auf die Schlacht gegen das vom Norden kommende Böse vor. Die Zwerge fürchteten sich nicht besonders vor diesem Bösen. Ihr Gebirgskönigreich schien uneinnehmbar zu sein. Und sie hatten ihr Versprechen gegenüber Tanis als Gegenleistung für den Streitkolben gehalten: Die Flüchtlinge von Pax Tarkas konnten sich in Südtor niederlassen, dem südlichsten Teil des Gebirgskönigreiches von Thorbadin.

Elistan hatte die Flüchtlinge nach Thorbadin gebracht. Alle versuchten, sich ihr Leben irgendwie neu einzurichten, aber es gelang ihnen nicht so recht.

Natürlich befanden sie sich in Sicherheit, aber die Flüchtlinge, überwiegend Bauern, waren nicht glücklich über das unterirdische Leben in den riesigen Zwergenhöhlen. Im Frühling konnten sie zwar versuchen, Getreide an der Gebirgswand anzubauen, aber der felsige Boden würde nur einen kärglichen Ertrag liefern. Die Menschen wollten in der Sonne und an der frischen Luft leben. Und sie wollten nicht von den Zwergen abhängig sein.

Es war Elistan, der sich an die uralten Legenden über Tarsis, die Schöne, und ihre möwenförmigen Schiffe erinnerte. Aber es waren lediglich Legenden, wie Tanis ihn erinnert hatte, als Elistan zum ersten Mal seine Idee erwähnte. Niemand in diesem Teil von Ansalon hatte etwas über die Stadt Tarsis, die Schöne, seit der Umwälzung vor dreihundert Jahren gehört. Damals hatten die Zwerge das Bergkönigreich Thorbadin dichtgemacht und somit auch jegliche Kommunikation zwischen Süden und Norden blockiert, da der einzige Weg durch das Kharolisgebirge durch Thorbadin führte. Tanis lauschte düster, als sich die Versammlung der Sucherfürsten einstimmig für Elistans Vorschlag entschied. Eine kleine Gruppe sollte nach Tarsis geschickt werden, um ausfindig zu machen, welche Schiffe in den Hafen einliefen, wohin sie fuhren und was eine Schiffsfahrt beziehungsweise ein Schiff kosten würde.

»Und wer soll die Gruppe anführen?« fragte sich Tanis, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Alle Augen richteten sich auf ihn. Bevor Tanis etwas sagen konnte, ging Raistlin, der die ganze Zeit ohne Kommentar zugehört hatte, nach vorn und stellte sich vor die Versammlung. Er starrte die Mitglieder mit seinen seltsamen goldglitzernden Augen an.

»Ihr seid Dummköpfe«, begann er, seine flüsternde Stimme klang verächtlich, »und ihr lebt in einem närrischen Traum. Wie oft muß ich mich wiederholen? Wie oft muß ich euch an das Omen der Sterne erinnern? Was denkt ihr euch dabei, wenn ihr im Abendhimmel die klaffenden schwarzen Löcher seht, dort, wo die zwei Konstellationen fehlen?«

Die Anwesenden rückten in ihren Sitzen, mehrere tauschten gelangweilte Blicke.

Raistlin bemerkte dies und fuhr fort, seine Stimme wurde immer verächtlicher. »Ja, einige von euch sagen, daß es nichts weiter als ein natürliches Phänomen ist – eine Sache, die eben passiert, so wie Blätter von den Bäumen fallen.«

Einige Versammlungsmitglieder murmelten sich nickend etwas zu. Raistlin beobachtete sie einen Moment schweigend, seine Lippen kräuselten sich vor Hohn. Dann hob er wieder an.

»Ich wiederhole, ihr seid Dummköpfe. Die als die Königin der Finsternis bekannte Konstellation fehlt am Himmel, weil die Königin hier auf Krynn anwesend ist. Die Kriegerkonstellation, die den uralten Gott Paladin verkörpert, wie wir aus den Scheiben von Mishakal erfahren haben, ist, um sie zu bekämpfen, auch nach Krynn zurückgekehrt.«

Raistlin hielt inne. Elistan, der sich unter ihnen befand, war ein Prophet von Paladin, und viele der Anwesenden waren zu dieser neuen Religion übergetreten. Er konnte den wachsenden Zorn spüren über das, was einige als Gotteslästerung empfanden. Die Vorstellung, daß Götter persönlich in die Angelegenheiten der Menschen eingriffen, war schockierend. Aber es hatte Raistlin niemals gestört, als Gotteslästerer betrachtet zu werden.

»Achtet gut auf meine Worte! Mit der Königin der Finsternis sind ihre ›kreischenden Kriegsheere‹ gekommen, wie es im ›Hohelied‹ heißt. Und die kreischenden Kriegsheere sind Drachen!« Raistlin brachte das letzte Wort mit einem Zischen hervor, das »die Haut erzittern ließ«, wie Flint gesagt hatte.

»Das wissen wir alles«, schnappte Hederick ungeduldig. Sein abendlicher Glühwein war längst überfällig, und sein Durst verlieh ihm den Mut zu sprechen. Aber er bereute es sofort, denn Raistlins Stundenglasaugen schienen den Theokraten wie schwarze Pfeile zu durchbohren. »W...worauf willst du hinaus?«

»Daß es auf Krynn nirgendwo Frieden gibt«, flüsterte der Magier. »Findet Schiffe, reist wohin ihr wollt. Wo immer ihr auch hingeht – wann immer ihr in den Abendhimmel seht, werdet ihr diese schwarzen Löcher sehen. Wo immer ihr auch hingeht, werden auch Drachen sein!«

Raistlin hustete. Sein Körper krümmte sich unter dem Anfall, und er schien zu stürzen, aber sein Zwillingsbruder, Caramon, rannte zu ihm und fing ihn in seinen starken Armen auf. Nachdem Caramon den Magier aus der Versammlung geführt hatte, schien sich eine dunkle Wolke gehoben zu haben. Die Versammlungsmitglieder schüttelten sich und lachten – wenn auch etwas benommen – über diese Kindergeschichten. Der Gedanke war einfach komisch, daß sich der Krieg auf ganz Krynn ausgebreitet hatte. Denn hier, in Ansalon, stand der Krieg bereits vor seinem Ende. Der Drachenfürst Verminaard war besiegt, und seine Drakonierarmeen waren zurückgetrieben worden. Die Mitglieder erhoben sich und verließen den Saal, um ins Wirtshaus oder nach Hause zu gehen.

Niemand dachte daran, Tanis zu fragen, ob er die Gruppe nach Tarsis führen wollte. Sie gingen einfach davon aus, daß er es tun würde.

Tanis tauschte mit Sturm grimmige Blicke und verließ die Höhle. In dieser Nacht sollte er Wache halten. Obwohl sich die Zwerge in ihrer Bergfestung sicher fühlten, hatten Tanis und Sturm auf eine Wache an den Mauern von Südtor bestanden. Sie hatten allmählich die Drachenfürsten respektieren gelernt...

Tanis lehnte sich an die Mauer, sein Gesicht war nachdenklich und ernst. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese, die mit weichem, pudrigem Schnee bedeckt war. Die Nacht war ruhig und still. Hinter ihr lag das Kharolisgebirge. Das Tor von Südtor wirkte wie ein riesiger Stopfen in der Gebirgswand – eine der Schutzmaßnahmen der Zwerge, die ihre Welt dreihundert Jahre lang von der Umwälzung und zerstörerischen Zwergenkriegen ferngehalten hatte.

Das Tor wurde durch einen Mechanismus im Innern des Berges bewegt. Wie das nördliche Tor galt es auf Krynn als uneinnehmbar. Einmal geschlossen, konnte es nicht mehr von der Gebirgswand unterschieden werden; ein wahres Meisterwerk der alten Zwergensteinmetze.

Seit der Ankunft der Menschen in Südtor jedoch war das Tor geöffnet und mit Fackeln erleuchtet, was den Männern, Frauen und Kindern ermöglichte, an die frische Luft zu gehen – ein menschliches Bedürfnis, das für die unterirdischen Zwerge eine maßlose Schwäche darstellte.

Während Tanis dastand und lange auf die Wälder hinter der Wiese schaute, was ihm aber keinen Frieden brachte, traten Sturm, Elistan und Laurana zu ihm. Die drei hatten sich unterhalten – offensichtlich über ihn – und schwiegen nun unbehaglich.

»Wie ernst du bist«, sagte Laurana leise zu Tanis. Sie trat näher zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du meinst, daß Raistlin recht hat, nicht wahr, Tanthal... Tanis?« Laurana errötete. Sein menschlicher Name kam ihr immer noch schwer über die Lippen, aber sie wußte inzwischen nur zu gut, daß sein Elfenname ihm nur Schmerz bereitete.

Tanis sah auf die kleine, schmale Hand auf seinem Arm und legte zärtlich seine Hand über sie. Nur wenige Monate zuvor hätte ihn diese Berührung geärgert, Verwirrung und Schuldgefühle verursacht, als er glaubte, das, was ihn mit Laurana verband, wäre nichts als eine kindliche Vernarrtheit gewesen und daß seine Liebe allein einer Menschenfrau gehörte. Aber jetzt erfüllte ihn Lauranas Berührung mit Wärme und Frieden, auch wenn es sein Blut erregte. Er dachte über diese neuen beunruhigenden Gefühle nach, während er ihre Frage beantwortete.

»Ich finde Raistlins Ratschläge seit langem vernünftig«, sagte er. Er wußte, daß diese Antwort die drei aufregen würde. Sturms Gesicht verdüsterte sich auch. Elistan runzelte die Stirn. »Und ich denke, daß er auch diesmal recht hat. Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber wir sind noch weit davon entfernt, den Krieg zu gewinnen. Wir wissen, daß er weit im Norden, in Solamnia, ausgetragen wird. Wir können also sicher davon ausgehen, daß es den Kräften der Dunkelheit nicht nur um die Eroberung von Abanasinia geht.«

»Aber das sind doch reine Vermutungen!« entgegnete Elistan. »Laß dich doch nicht von der Dunkelheit, die über dem jungen Magier hängt, anstecken. Er mag ja recht haben, aber das ist kein Grund, die Hoffnung aufzugeben und nicht doch einen Versuch zu wagen! Tarsis ist eine große Hafenstadt zumindest nach dem, was wir wissen. Dort können wir herausbekommen, ob wirklich überall Krieg ist. Und wenn dem so ist, dann gibt es sicherlich Zufluchtsorte, wo wir Frieden finden können.«

»Hör auf Elistan, Tanis«, sagte Laurana. »Er ist weise. Als unser Volk Qualinesti verlassen hat, ist es nicht blindlings geflohen. Sie sind zu einem friedlichen Zufluchtsort gezogen. Mein Vater hatte einen Plan, obwohl er nicht wagte, ihn zu enthüllen...«

Laurana brach ab, über die Wirkung ihrer Rede bestürzt. Tanis hatte sich abrupt losgerissen und sich Elistan zugewandt, die Augen voller Zorn.

»Raistlin sagte einmal, Hoffnung ist die Leugnung der Wirklichkeit«, erklärte Tanis kalt. Dann sah er Elistans kummervolles Gesicht und lächelte müde. »Es tut mir leid, Elistan. Ich bin müde, das ist alles. Verzeih mir. Dein Vorschlag ist gut. Wir werden mit Hoffnung nach Tarsis reisen, auch wenn es das einzige ist, was wir haben.«

Elistan nickte und wandte sich zum Gehen. »Kommst du mit, Laurana? Ich weiß, du bist müde, meine Liebe, aber wir haben eine Menge zu tun, bevor ich die Führerschaft der Versammlung während meiner Abwesenheit übergeben kann.«

»Ich komme gleich nach, Elistan«, sagte Laurana. »Ich – ich möchte einen Moment mit Tanis sprechen.«

Elistan schenkte beiden einen verständnisvollen Blick, dann ging er mit Sturm durch das dunkle Tor. Tanis begann, die Fackeln als Vorbereitung für die Schließung des Tores zu löschen. Laurana stand neben dem Eingang, ihre Miene wurde eisig, als ihr klarwurde, daß Tanis sie einfach übersah.

»Was ist mit dir los?« fragte sie schließlich. »Es klingt fast so, als ob du für den düsteren und merkwürdigen Magier und gegen Elistan Partei ergreifst, einen der besten und weisesten Menschen, den ich je kennengelernt habe!«

»Verurteile Raistlin nicht, Laurana«, sagte Tanis barsch und tauchte dabei eine Fackel in ein Wassergefäß. Das Licht erstarb mit einem Zischen. »Dinge sind nicht immer schwarz und weiß, wie ihr Elfen gern denkt. Der Magier hat unser Leben mehr als einmal gerettet. Ich bin im Laufe der Zeit dazu gekommen, seinem Denken zu vertrauen – was ich auch, zugegeben, leichter kann, als auf blinden Glauben zu vertrauen!«

»Ihr Elfen!« schrie Laurana. »Wie typisch menschlich das klingt! In dir steckt mehr von einem Elfen, als du zugeben möchtest, Tanthalas! Du hast einmal gesagt, du trägst den Bart nicht, um dein Erbe zu verbergen, und ich habe dir geglaubt. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich lebe jetzt lang genug mit Menschen zusammen, um zu wissen, wie sie über Elfen denken! Aber ich bin stolz auf meine Herkunft. Du nicht! Du schämst dich! Warum? Wegen dieser menschlichen Frau, die du liebst? Wie heißt sie noch – Kitiara?«

»Hör auf, Laurana!« schrie Tanis. Er warf eine Fackel auf den Boden und ging zu dem Elfenmädchen. »Wenn du darüber streiten möchtest – was ist dann mit dir und Elistan? Er mag wohl ein Kleriker von Paladin sein, aber er ist ein Mann – eine Tatsache, die du zweifellos bestätigen kannst! Alles, was ich von dir höre«, er ahmte ihre Stimme nach, »ist: ›Elistan ist so weise‹, ›Frag Elistan, er weiß, was zu tun ist‹, ›Hör auf Elistan, Tanis...‹«

»Wie kannst du es wagen, mich deiner eigenen Schwächen zu beschuldigen?« gab Laurana zurück. »Ich habe Elistan sehr gern. Ich verehre ihn. Er ist der weiseste Mann, den ich kenne, und der sanfteste. Er opfert sich selbst – sein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, anderen zu dienen. Aber es gibt nur einen Mann, den ich liebe, nur einen Mann, den ich immer geliebt habe – obwohl ich jetzt anfange, mich zu fragen, ob das nicht ein großer Fehler ist! An jenem schrecklichen Ort, dem Sla-Mori, hast du gesagt, ich würde mich wie ein kleines Mädchen benehmen und sollte endlich erwachsen werden. Nun, ich bin erwachsen geworden, Tanis Halb-Elf. In diesen wenigen Monaten habe ich Leiden und Tod gesehen. Ich habe mich gefürchtet, wie ich es nie für möglich gehalten habe! Ich habe das Kämpfen gelernt, und ich habe meine Feinde getötet. All das hat mir im Innern so weh getan, bis es mich abstumpfte, so daß ich den Schmerz nicht mehr fühlte. Aber was mich am meisten verletzt, ist, dich mit klaren Augen zu sehen.«

»Ich habe niemals behauptet, vollkommen zu sein, Laurana«, sagte Tanis leise. Der silberne und der rote Mond waren aufgegangen, beide waren noch nicht voll, aber leuchteten hell genug, daß Tanis in Lauranas Augen Tränen sehen konnte. Er streckte seine Arme aus, um sie zu umschlingen, aber sie trat einen Schritt zurück.

»Das behauptest du zwar nie«, sagte sie verächtlich, »aber du genießt es deutlich, uns in diesem Glauben zu lassen!«

Sie ignorierte seine ausgebreiteten Arme, ergriff eine Fackel von der Mauer und ging durch das Tor in die Dunkelheit von Thorbadin zurück.

Tanis stand einen Moment da, sah ihr nach und kratzte sich den dichten, rötlichen Bart, den sich kein Elf auf Krynn wachsen lassen kann. Beim Nachdenken über Lauranas letzte Bemerkung fiel ihm widersinnigerweise Kitiara ein. Er beschwor Bilder aus seiner Erinnerung herauf. Kits kurzgeschnittenes, lockiges schwarzes Haar, ihr Lächeln, ihr hitziges, ungestümes Temperament und ihr starker, sinnlicher Körper – der Körper einer trainierten Schwertkämpferin, aber er entdeckte zu seiner Verwunderung, daß sich in das Bild der ruhige, klare Blick von zwei mandelförmigen, leuchtenden Elfenaugen gestohlen hatte. Vom Gebirge her rollte der Donner. Der Schließmechanismus bewegte das riesige Steintor. Tanis beobachtete, wie das Tor geschlossen wurde, und entschied, nicht hineinzugehen. »In einem Grab eingeschlossen.« Er lächelte, als er sich an Sturms Worte erinnerte, aber auch seine Seele durchfuhr ein Frösteln. Das Tor schloß sich mit einem dumpfen Krachen. Die Gebirgswand war blank, kalt, abschreckend. Mit einem Seufzen zog Tanis seinen Umhang fest zusammen und ging in den Wald. Selbst das Schlafen im Schnee war besser als unter der Erde. Er sollte sich sowieso daran gewöhnen. Die Staubigen Ebenen, die sie überqueren mußten, um Tarsis zu erreichen, waren wahrscheinlich völlig verschneit, obwohl der Winter erst begann.

Während er über die Reise nachdachte, blickte Tanis in den nächtlichen Himmel. Er war wunderschön, voller funkelnder Sterne. Aber zwei klaffende schwarze Löcher verunstalteten die Schönheit. Raistlins fehlende Konstellationen.

Löcher im Himmel. Löcher in ihm.

Nach seiner Auseinandersetzung mit Laurana war Tanis fast erleichtert, die Reise anzutreten. Alle Gefährten hatten sich einverstanden erklärt, mitzukommen. Tanis wußte, daß keiner von ihnen sich unter den Flüchtlingen wirklich wohl fühlte.

Die Reisevorbereitungen lenkten ihn weitgehend ab. Er konnte sich sogar einreden, daß es ihm nichts ausmachte, daß Laurana ihm aus dem Wege ging. Und am Anfang war die Reise herrlich. Es schien, als wäre es später Frühling anstatt Winteranfang. Die Sonne schien und wärmte die Luft. Nur Raistlin trug seinen dicksten Umhang.

Die Unterhaltungen der Gefährten waren munter und lustig, als sie durch den nördlichen Teil der Ebenen wanderten, erfüllt von Neckereien und Erinnerungen an den Spaß, den sie in früheren, glücklicheren Tagen in Solace gehabt hatten. Keiner sprach von den dunklen und bösen Dingen, die sie in der jüngsten Vergangenheit erlebt hatten. Es war, als ob sie in Anbetracht einer schöneren Zukunft diese Dinge verdrängen wollten.

Abends erklärte Elistan ihnen, was er über die uralten Götter aus Mishakals Scheiben gelernt hatte. Seine Geschichten erfüllten ihre Seelen mit Frieden und bestärkten sie in ihrem Glauben. Nur Tanis – der sein ganzes Leben lang nach etwas, woran er glauben konnte, gesucht hatte und es jetzt mit Skepsis betrachtete, nachdem er es gefunden hatte – war in seinem tiefsten Innern zerrissen. Auch er wollte glauben und hoffen, aber irgend etwas hielt ihn zurück, und immer wenn er Laurana ansah, wußte er den Grund. Solange er nicht seinen eigenen inneren Konflikt lösen konnte, dieses aufzehrende Hin- und Hergerissensein zwischen dem elfischen und dem menschlichen Teil in ihm, würde er niemals Frieden finden.

Nur Raistlin nahm nicht an den Unterhaltungen, dem Spaß, den Witzen und Neckereien und den Gesprächen am Lagerfeuer teil. Der Magier verbrachte seine Zeit mit dem Studium seines Zauberbuchs. Wenn er gestört wurde, antwortete er mit einem wütenden Fauchen. Nach dem Abendessen saß er abseits von den anderen, seine Augen auf den nächtlichen Himmel gerichtet, auf die zwei klaffenden schwarzen Löcher, die sich in den Stundenglasaugen des Magiers widerspiegelten.

Schon nach wenigen Tagen begann die gute Stimmung abzuflauen. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und der Wind blies eisig von Norden. Der Schnee fiel so dicht, daß sie an einem Tag nicht weiterkamen, sondern gezwungen waren, in einer Höhle Schutz zu suchen. In der Nacht stellten sie doppelte Wachen auf, obwohl niemand so richtig sagen konnte, warum, nur daß sie ein wachsendes Gefühl der Bedrohung verspürten. Flußwind starrte mit Unbehagen auf die Spur, die sie im Schnee hinterließen. Wie Flint sagte, konnte ihnen selbst ein blinder Gossenzwerg folgen. Das Gefühl der Bedrohung wuchs, das Gefühl, daß Augen sie beobachteten und Ohren sie belauschten.

Jedoch wer sollte es sein, hier in den Staubigen Ebenen, wo nichts und niemand seit über dreihundert Jahren gelebt hatte?

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