4 Verhaftet! Die Helden werden getrennt. Ein unheilvoller Abschied

Die wenigen dösenden Wachposten an der Stadtmauer wurden beim Anblick der bewaffneten, erschöpften Gruppe wach, die um Einlaß bat. Man verweigerte ihnen nicht den Eintritt. Man stellte nicht einmal viele Fragen. Ein rotbärtiger Halb-Elf sagte leise, daß sie eine lange Reise hinter sich hätten und Unterkunft suchten. Seine Gefährten standen still hinter ihm und wirkten in keiner Weise bedrohlich. Gähnend zeigten die Wachen ihnen den Weg zum Wirtshaus zum Roten Drachen. Damit wäre die Angelegenheit auch erledigt gewesen.

Aber als einer der Menschen durch das Tor trat, wehte sein Umhang hoch, und ein Wächter erhaschte einen kurzen Blick auf die glänzende Rüstung. Der Wächter sah das verhaßte und verschmähte Symbol der Ritter von Solamnia auf dem uralten Brustpanzer. Knurrend verschmolz der Wächter mit den Schatten und schlich hinter den Gefährten her, die durch die Straßen der erwachenden Stadt schritten.

Der Wächter sah, wie sie den Roten Drachen betraten. Er wartete draußen in der Kälte, bis er sicher war, daß sie alle drinnen sein mußten. Dann schlüpfte er hinein, wechselte ein paar Worte mit dem Wirt und spähte in den Gemeinschaftsraum. Als er die Gruppe dort sitzen sah, lief er fort, um Bericht zu erstatten.

»Das kommt davon, wenn man sich auf die Karte eines Kenders verläßt!« schimpfte der Zwerg, schob seinen leeren Teller beiseite und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Führt uns zu einer Hafenstadt ohne Meer!«

»Das ist nicht meine Schuld«, protestierte Tolpan. »Ich habe Tanis gewarnt, als ich ihm die Karte gab, daß sie vor der Umwälzung gezeichnet worden ist. ›Tolpan‹, fragte Tanis vor unserer Abreise, ›hast du eine Karte, die uns den Weg nach Tarsis zeigt?‹ Ich antwortete, daß ich eine hätte, und gab ihm diese. Sie zeigt Thorbardin, das Zwergenkönigreich unter dem Gebirge, und Südtor, und sie zeigt auch Tarsis, und alles stimmte, was auf der Karte eingezeichnet war. Ich kann nichts dafür, wenn etwas mit dem Meer passiert ist! Ich...«

»Es ist gut, Tolpan.« Tanis seufzte. »Niemand gibt dir die Schuld. Niemand hat Schuld. Wir haben nur unsere Hoffnungen zu hoch gesteckt.«

Der Kender, der nun beschwichtigt war, nahm die Karte zurück, rollte sie ein und verstaute sie bei seinen anderen wertvollen Karten von Krynn. Dann legte er sein kleines Kinn in die Hände und musterte seine düsteren Gefährten, die nun begannen, halbherzig über ihre nächsten Pläne zu reden.

Tolpan langweilte sich. Er wollte die Stadt erforschen. Es gab viel Ungewöhnliches zu sehen und zu hören. Flint hatte ihn praktisch ziehen und zerren müssen, als sie Tarsis betreten hatten. Es gab einen fabelhaften Marktplatz mit wundervollen Dingen, die einfach herumlagen und nur darauf warteten, bewundert zu werden. Er hatte sogar einige Kender entdeckt und wollte mit ihnen reden. Er machte sich um seine Heimat Sorgen. Flint trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein.

Ergeben seufzend wandte Tolpan seine Aufmerksamkeit wieder Tanis zu.

»Wir werden die Nacht hier verbringen, uns ausruhen und soviel wie möglich herauszufinden versuchen und dann eine Nachricht nach Südtor überbringen lassen«, sagte Tanis. »Vielleicht liegt weiter südlich noch eine andere Hafenstadt. Einige von uns sollten Weiterreisen und nachforschen. Was meinst du, Elistan?«

Der Kleriker schob seinen unberührten Teller fort. »Das ist wohl unsere einzige Chance«, sagte er traurig. »Aber ich werde nach Südtor zurückkehren. Ich kann nicht zu lange von den Leuten fernbleiben. Du solltest mit mir kommen, meine Liebe.«

Er legte seine Hand auf die Lauranas. »Ich brauche deine Hilfe.«

Laurana lächelte Elistan an. Doch als ihr Blick zu Tanis wanderte, verschwand ihr Lächeln unter seinem finsteren Blick.

»Flußwind und ich haben bereits darüber geredet. Wir werden mit Elistan zurückkehren«, sagte Goldmond. »Die Leute sind auf meine Heilkräfte angewiesen.«

»Nebenbei vermißt das Brautpaar sicher die Intimität seines Zeltes«, fügte Caramon leise hinzu. Goldmond lief knallrot an, als ihr Gatte lächelte.

Sturm sah Caramon voller Abscheu an und wandte sich zu Tanis. »Ich gehe mit dir, mein Freund«, bot er an.

»Wir natürlich auch«, sagte Caramon prompt.

Sturm runzelte die Stirn, während er Raistlin ansah, der in seinem roten Gewand zusammengekauert am Feuer saß und die seltsame Kräutermischung gegen seinen Husten trank. »Ich glaube nicht, daß dein Bruder reisefähig ist, Caramon...«, begann Sturm.

»Du bist ja plötzlich sehr um meine Gesundheit besorgt, Ritter«, flüsterte Raistlin sarkastisch. »Aber es ist doch nicht meine Gesundheit, um die du dich sorgst, Sturm Feuerklinge. Es ist meine zunehmende Macht. Du fürchtest mich...«

»Es reicht!« sagte Tanis, als sich Sturms Gesicht verdunkelte.

»Entweder geht der Magier oder ich«, sagte Sturm eisig.

»Sturm...«, begann Tanis.

Tolpan nutzte die Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Alle waren auf den Streit zwischen Ritter, Halb-Elf und Magier konzentriert. Der Kender schlüpfte aus der Tür des Gasthauses zum Roten Drachen, einen Namen, den er besonders komisch fand. Aber Tanis hatte nicht gelacht.

Tolpan dachte darüber nach, während er durch die Straße schlenderte und sich entzückt umsah. Tanis lachte überhaupt nicht mehr. Es schien, als ob der Halb-Elf das Gewicht der Welt auf seinen Schultern tragen würde. Tolpan glaubte zu wissen, was mit Tanis los war. Der Kender nahm einen Ring aus einem seiner Beutel und studierte ihn. Es war ein nach Elfenart gefertigter Goldring, der sich aneinanderschmiegende Efeublätter zeigte. Er hatte ihn in Qualinesti aufgehoben. Der Ring war etwas, was der Kender nicht »erworben« hatte. Er war zu seinen Füßen gelandet, von einer verzweifelten Laurana weggeworfen, nachdem Tanis ihn ihr zurückgegeben hatte.

Der Kender dachte über alles nach und kam zu dem Schluß, daß das Aufteilen der Gruppe und ein neues Abenteuer genau das Richtige für alle Beteiligten war. Er würde natürlich mit Tanis und Flint gehen – der Kender war fest überzeugt, daß beide ohne ihn nicht auskommen konnten. Aber zuerst mußte er einen Blick auf diese interessante Stadt werfen.

Tolpan erreichte das Ende der Straße. Er blickte kurz zurück und konnte das Wirtshaus zum Roten Drachen erkennen. Gut. Niemand hielt nach ihm Ausschau. Er wollte gerade einen Passanten nach dem Weg zum Marktplatz fragen, als er etwas sah, was bei weitem interessanter war...

Tanis schlichtete den Streit zwischen Sturm und Raistlin. Der Magier entschied, in Tarsis zu bleiben, um nach den Überresten der alten Bibliothek zu forschen. Caramon und Tika wollten bei ihm bleiben, während Tanis, Sturm und Flint (und Tolpan) weiter in den Süden ziehen und auf dem Rückweg die Brüder abholen wollten. Der Rest der Gruppe würde die enttäuschenden Nachrichten nach Südtor bringen. Als das geregelt war, ging Tanis zum Wirt, um die Übernachtung zu bezahlen. Er zählte gerade seine Silberlinge, als ihn eine Hand berührte.

»Könntest du bitte dafür sorgen, daß ich ein anderes Zimmer, näher zu Elistan, bekomme?« bat Laurana.

Tanis sah sie durchdringend an. »Warum das?«

Laurana seufzte. »Wir wollen doch nicht noch einmal diese Angelegenheit durchsprechen, oder?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Tanis kühl und wandte sich von dem grinsenden Wirt ab.

»Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich etwas Sinnvolles und Nützliches«, sagte Laurana. »Und du willst, daß ich damit aufhöre, weil du eifersüchtig bist...«

»Ich bin nicht eifersüchtig«, gab Tanis zurück und errötete.

»Ich sagte dir bereits in Qualinesti, daß die Sache zwischen uns vorbei ist. Ich...« Er hielt inne, fragte sich, ob das stimmte.

Auch jetzt erbebte seine Seele vor ihrer Schönheit. Ja, diese jugendliche Vernarrtheit war vorbei, aber war sie nicht durch etwas anderes ersetzt worden, etwas Stärkeres und Beständigeres? Und war er dabei, es zu verlieren? Hatte er es bereits durch seine Unentschlossenheit und Starrköpfigkeit verloren? Ich verhalte mich typisch menschlich, dachte der Halb-Elf. Etwas ablehnen, wonach man nur die Hand auszustrecken brauchte, um dann zu schreien, wenn es verschwunden war. Er schüttelte verwirrt den Kopf.

»Wenn du nicht eifersüchtig bist, warum läßt du mich dann nicht in Ruhe und meine Arbeit für Elistan in Frieden weiterführen?« fragte Laurana kühl. »Du...«

»Psst!« Tanis hob eine Hand. Laurana wollte verärgert ihren Satz beenden, aber Tanis starrte sie so böse an, daß sie schwieg.

Tanis lauschte. Ja, er hatte sich nicht geirrt. Er konnte jetzt deutlich das schrille, hohe, schreiende Winseln der Lederschlinge am Ende von Tolpans Hupak hören. Es war ein merkwürdiger Klang, der einem die Haare zu Berge stehen ließ. Es war auch ein Kendersignal für Gefahr.

»Ärger«, sagte Tanis leise. »Hol die anderen.« Laurana gehorchte, ohne Fragen zu stellen, erschreckt von seinem grimmigen Gesichtsausdruck. Der Halb-Elf wandte sich abrupt dem Wirt zu, der sich von der Theke wegschleichen wollte. »Wohin gehst du?« fragte er scharf.

»Ich will nur eure Zimmer überprüfen«, erwiderte der Wirt aalglatt und verschwand in der Küche. In dem Moment stürzte Tolpan durch die Tür der Gaststube.

»Wachen, Tanis! Wachen! Unterwegs hierher!«

»Sie kommen sicherlich nicht wegen uns«, sagte Tanis. Er hielt inne, musterte den diebischen Kender, ein plötzlicher Gedanke durchfuhr ihn. »Tolpan...«

»Es ist nicht wegen mir, ehrlich!« protestierte Tolpan. »Ich bin gar nicht zum Marktplatz gekommen! Ich bin nur bis zum Straßenende gekommen, als ich einen ganzen Trupp in diese Richtung marschieren sah.«

»Was ist mit Wachen?« fragte Sturm, der aus dem Gemeinschaftsraum trat. »Wieder so eine Geschichte vom Kender?«

»Nein. Hört mal«, sagte Tanis. Alle verstummten. Sie konnten das Stampfen von Stiefeln hören und sahen sich besorgt und ängstlich an. »Der Wirt ist verschwunden. Ich habe mich schon gewundert, daß wir so einfach die Stadt betreten durften. Ich hätte mit Ärger rechnen sollen.« Tanis kratzte sich das Kinn, ihm war bewußt, daß alle Blicke auf ihn gerichtet waren.

»Laurana und Elistan gehen nach oben. Sturm und Gilthanas bleiben bei mir. Die anderen gehen auf ihre Zimmer. Flußwind, du hast das Kommando. Caramon und Raistlin, beschützt sie. Verwende deine Magie, Raistlin, falls notwendig. Flint...«

»Ich bleibe bei dir«, unterbrach ihn der Zwerg entschlossen.

Tanis lächelte und legte seine Hand auf Flints Schulter. »Natürlich, alter Freund.«

Grinsend holte Flint seine Streitaxt hervor. »Nimm sie«, sagte er zu Caramon. »Besser du hast sie als irgendein fieser, verlauster Stadtwächter.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Tanis. Er überreichte Caramon Drachentöter, das magische Schwert, das ihm das Skelett Kith-Kanans, des Elfenkönigs, gegeben hatte.

Gilthanas übergab schweigend sein Schwert und seinen Elfenbogen.

»Auch dein Schwert, Ritter«, sagte Caramon und streckte seine Hand aus.

Sturm runzelte die Stirn. Sein altes zweihändiges Schwert und die Scheide waren das einzige, was ihm von seinem Vater, einem großen Ritter von Solamnia, geblieben war. Er war verschwunden, nachdem er seine Frau und seinen jungen Sohn ins Exil geschickt hatte. Langsam löste Sturm seinen Schwertgürtel und überreichte ihn Caramon.

Der Krieger sah die Sorge des Ritters und wurde ernst. »Ich werde es sorgfältig hüten, das weißt du doch, Sturm.«

»Ich weiß«, antwortete Sturm traurig lächelnd. Er sah kurz zu Raistlin, der auf der Treppe stand. »Außerdem ist da immer noch der große Wurm, Catyrpelius, der es beschützt, nicht wahr, Magier?«

Raistlin stutzte bei diesem unerwarteten Wink aus der Zeit, als er in der ausgebrannten Stadt Solace einige Hobgoblins überlistet hatte, indem er sie davon überzeugt hatte, daß über Sturms Schwert ein Fluch lag. Der Ritter hatte dem Magier gegenüber nie zuvor seine Dankbarkeit auf irgendeine Art geäußert. Raistlin lächelte kurz.

»Ja«, flüsterte er. »Der Wurm ist immer da. Fürchte nichts, Ritter. Deine Waffe ist in Sicherheit, so wie das Leben jener, die unter unserem Schutz sind... wenn überhaupt etwas sicher ist... Auf Wiedersehen, meine Freunde«, zischte er, seine seltsamen Stundenglasaugen leuchteten. »Und es wird lange dauern, bis wir uns wiedersehen. Einigen von uns ist es nicht bestimmt, die anderen in dieser Welt wiederzutreffen.« Damit verbeugte er sich und begann die Stufen hinaufzusteigen.

Was meint er damit, dachte Tanis nervös, während er die Fußtritte immer näher kommen hörte.

»Macht schon!« befahl er. »Falls er recht hat, können wir jetzt sowieso nichts daran ändern.«

Nach einem zögernden Blick auf Tanis folgten auch die anderen seinen Anordnungen. Nur Laurana warf auf der Treppe noch einen ängstlichen Blick auf Tanis zurück. Dann nahm Elistan ihren Arm. Caramon wartete mit gezogenem Schwert, bis alle verschwunden waren.

»Macht euch keine Sorgen«, sagte der Krieger. »Uns wird nichts passieren. Falls ihr bis zum Einbruch der nächsten Nacht nicht zurück seid...«

»Sucht nicht nach uns!« unterbrach ihn Tanis, dem Caramons Absicht klar war. Der Halb-Elf war durch Raistlins unheilvolle Bemerkung verunsicherter, als er zuzugeben bereit war. Er kannte den Magier nun seit vielen Jahren und hatte seine Macht wachsen sehen, selbst als die Schatten sich dichter um ihn zusammenzogen. »Falls wir nicht zurückkommen, bring Elistan, Goldmond und die anderen nach Südtor zurück.«

Caramon nickte widerstrebend, dann ging er waffenklirrend und nachdenklich die Stufen hoch.

»Es ist wahrscheinlich nur eine Routineüberprüfung«, sagte Sturm eilig, als die Wachen nun durch die Fenster zu sehen waren. »Sie werden uns einige Fragen stellen und dann freilassen. Aber mit Sicherheit haben sie von uns allen eine Beschreibung!«

»Ich habe das Gefühl, es ist keine Routine. So wie hier jeder verschwindet. Und sie haben mit einigen von uns etwas vor«, sagte Tanis leise, als die Wachen durch die Tür traten, angeführt vom Wachtmeister und dem Wächter vom Stadttor.

»Da sind sie!« schrie der Wächter. »Da ist der Ritter, wie ich dir gesagt habe. Und der bärtige Elf, der Zwerg und der Kender und ein Elfenlord.«

»Richtig«, sagte der Wachtmeister lebhaft. »Nun, und wo sind die anderen?« Auf sein Zeichen richteten die Wachen ihre Lanzen auf die Gefährten.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Tanis sanft. »Wir sind Fremde in Tarsis, auf der Durchreise nach Süden. Ist das eure Art, Fremde in eurer Stadt zu begrüßen?«

»Wir begrüßen in unserer Stadt keine Fremden«, erwiderte der Wachtmeister. Sein Blick wanderte zu Sturm, und er grinste höhnisch. »Besonders keinen Ritter von Solamnia. Wenn ihr unschuldig seid, wie ihr behauptet, werdet ihr mit gutem Gewissen einige Fragen vom Lord und seinen Ratgebern beantworten können. Wo sind die anderen von eurer Gruppe?«

»Meine Freunde sind müde und auf ihren Zimmern, um sich auszuruhen. Unsere Reise war lang und anstrengend. Aber wir wollen keinen Ärger erregen. Wir vier werden mit dir gehen und deine Fragen beantworten.«

»Fünf«, fügte Tolpan beleidigt hinzu, aber alle ignorierten ihn. »Es besteht kein Grund, unsere Gefährten zu stören.«

»Holt die anderen«, befahl der Wachtmeister seinen Männern.

Zwei Wachen hielten auf die Treppe zu, die plötzlich in Flammen stand! Rauch zog in Schwaden durch den Raum und trieb die Wachen zurück. Alle rannten zur Tür. Tanis ergriff Tolpan, der mit aufgerissenen Augen interessiert zur Treppe starrte, und zog ihn nach draußen.

Der Wachtmeister blies hektisch in seine Pfeife, während einige seiner Männer durch die Straßen jagen wollten, um Alarm zu schlagen. Aber die Flammen erstarben genauso plötzlich, wie sie gekommen waren.

»Eeep...« Der Wachtmeister hörte mit dem Pfeifen auf. Mit blassem Gesicht trat er müde in das Wirtshaus zurück. Tanis, der über seine Schulter sah, schüttelte ehrfurchtsvoll seinen Kopf. Der Rauch war wie weggeblasen. Von den obersten Stufen konnte er schwach Raistlins Stimme hören. Als der Wachtmeister begreifend nach oben sah, brach das Singen ab.

Tanis schluckte, dann holte er tief Luft. Er wußte, daß er so blaß sein mußte wie der Wachtmeister, und er warf Sturm und Flint einen Blick zu. Raistlins Macht wurde immer größer...

»Der Magier muß oben sein«, murmelte der Wachtmeister.

»Sehr gut, Vogelpfeife, und wie lange brauchst du, um dir auszurechnen, daß einer von...«, begann Tolpan in einem Ton, von dem Tanis wußte, daß er Ärger bedeutete. Er trat dem Kender auf den Fuß, und Tolpan hielt sich mit einem vorwurfsvollen Blick zurück.

Glücklicherweise schien der Wachtmeister nichts gehört zu haben. Er blickte zu Sturm. »Und du kommst freiwillig mit uns?«

»Ja«, antwortete Sturm. »Du hast mein Ehrenwort.« Und der Ritter fügte hinzu: »Gleichgültig, wie du über die Ritter denkst, du weißt, daß meine Ehre mein Leben ist.«

Die Augen des Wachtmeisters wanderten zu der dunklen Treppe. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Zwei Wachen bleiben hier an der Treppe stehen. Die anderen bewachen die übrigen Ausgänge. Überprüft jeden, der ein- und ausgeht. Ihr habt alle die Beschreibungen der Fremden?«

Die Wachen nickten und tauschten unbehagliche Blicke. Die zwei, die für die Bewachung der Treppe auserkoren waren, schauten verängstigt drein und hielten sich so weit wie möglich von ihr entfernt. Tanis lächelte grimmig.

Die fünf Gefährten – der Kender grinste aufgeregt – folgten dem Wachtmeister aus dem Gebäude. Als sie durch die Straße gingen, bemerkte Tanis eine Bewegung am oberen Fenster. Er sah hoch und gewahrte Laurana, ihr Gesicht vor Furcht verzogen. Sie hob ihre Hand, und er sah ihre Lippen die Worte »Es tut mir leid« in der Elfensprache formen. Ihm fielen Raistlins Worte ein, und ihn überlief es eiskalt. Sein Herz schmerzte.

Der Gedanke, daß er sie vielleicht nie wiedersehen würde, ließ die Welt plötzlich trübe und leer und einsam erscheinen. Er spürte auf einmal, was Laurana ihm in den letzten dunklen Monaten bedeutet hatte, selbst als keine Hoffnung bestanden hatte, das Land vor den bösartigen Armeen der Drachenfürsten zu retten. Ihr unerschütterlicher Glaube, ihr Mut, ihre nie versiegende, nie sterbende Hoffnung! Ganz anders als Kitiara!

Ein Wachmann stieß Tanis in den Rücken. »Gesicht nach vorn! Hör auf, deinen Kumpanen Zeichen zu geben!« knurrte er. Die Gedanken des Halb-Elfs wandten sich wieder Kitiara zu. Nein, diese Kriegerin könnte niemals so selbstlos handeln.

Sie könnte niemals Menschen helfen, so wie es Laurana getan hatte. Kit würde ungeduldig und wütend werden und sie im Stich lassen, egal ob sie überleben oder sterben würden. Sie verabscheute Leute, die schwächer waren als sie.

Tanis dachte an Kitiara, und er dachte an Laurana, und er bemerkte mit Erstaunen, daß der altbekannte schmerzhafte Schauder sein Herz nicht mehr erbeben ließ, wenn er an Kitiara dachte. Nein, jetzt war es Laurana – das dumme kleine Mädchen, das noch vor einigen Monaten ein verwöhntes, verzogenes Kind gewesen war -, die sein Blut in Wallung brachte. Und jetzt war es vielleicht zu spät.

Als sie das Ende der Straße erreichten, blickte er sich schnell um, hoffte, ihr ein Zeichen geben zu können. Sie soll wissen, daß ich verstehe, wissen, daß ich ein Narr war, wissen, daß ich...

Aber der Vorhang war gefallen.

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